Die »große Beschleunigung« und ihre Folgen
Bevor ich der Frage nachgehen werde, ob eine Entkoppelung dieser beiden Dimensionen von den wirtschaftlichen Aktivitäten möglich ist, soll kurz auf die bisherige Entwicklung des gesellschaftlichen Stoffwechsels im Laufe der Menschheitsgeschichte eingegangen werden. Nach Schätzungen von Fischer-Kowalski und Haberl (1997) hat im Zuge der zivilisatorischen Übergänge von der Jäger- und Sammler- zur Agrargesellschaft (die sogenannte neolithische Revolution) und von der Agrar- zur Industriegesellschaft (die sogenannte industrielle Revolution) der Energie- und Materialinput pro Kopf und Jahr stark zugenommen (siehe Abb. 1).
Energie- und Materialinput pro Kopf und Jahr in verschiedenen Zivilisationsformen (Quelle: WBGU 2011 nach Fischer-Kowalski/Haberl 1997)
Wurden in der Jäger- und Sammlergesellschaft jährlich 10–20 Gigajoule (GJ) Energie pro Kopf benötigt, wuchs der jährliche Bedarf in der Agrargesellschaft auf etwa 65 GJ und in der Industriegesellschaft auf etwa 250 GJ pro Kopf (Fischer-Kowalski/Haberl 1997). Und nicht nur das Ausmaß des Energiebedarfs unterscheidet sich in den verschiedenen Zivilisationsformen, sondern auch die Energiequellen. Während sowohl in der Jäger- und Sammlergesellschaft als auch in der Agrargesellschaft der Energiebedarf überwiegend durch Biomasse (also Nahrung, Futtermittel und Holz) gedeckt wurde, werden im Industriezeitalter verschiedene Energieträger genutzt, darunter vor allem fossile Brennstoffe, weiterhin Biomasse, aber auch Wasserkraft oder Kernenergie. Analog zum Energieverbrauch stieg auch die jährliche Materialnutzung jedes Menschen von ca. 1 auf 4 Tonnen Biomasse mit der neolithischen Revolution und auf 19,5 Tonnen verschiedenste Materialien im Zuge der Industrialisierung (ebd.).
Infolge der beschriebenen zivilisatorischen Veränderungen hat nicht nur der Energie- und Materialverbrauch pro Kopf zugenommen; auch die Anzahl der Menschen ist stark angestiegen: von wenigen Millionen vor ca. 10000 Jahren (Kates 1996) auf 7 Milliarden Menschen heute. Schließlich ist aber mit dem Erreichen der Industriegesellschaft auch diese Entwicklungsdynamik nicht gleich geblieben: Insbesondere seit den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist ein rasantes Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und eine starke Zunahme der damit verbundenen menschlichen Aktivitäten zu beobachten. Erdsystemforscher und Umwelthistoriker haben diese noch immer anhaltende Phase auch als »Great Acceleration« (Steffen/Crutzen/McNeill 2007), als die Phase der »großen Beschleunigung« (Mauelshagen/Pfister 2010) bezeichnet. Kennzeichnend für die Phase der großen Beschleunigung ist neben der Beschleunigung des Bevölkerungswachstums die Etablierung und Ausbreitung von Massenproduktion und Massenkonsum und damit ein dynamisch steigendes Wirtschaftswachstum. In Abbildung 2 sind einige Indikatoren bzw. Proxydaten der »Großen Beschleunigung« dargestellt: Der rasante Anstieg des Papierverbrauchs, von McDonald’s Restaurants (der auch als Indikator für Massenkonsum von Rindfleisch gelten kann), des Tourismus, der motorisierten Fahrzeuge etc. Augenfällig bei den dargestellten Entwicklungen ist, dass die Dynamik z.T. früher einsetzt, aber die jeweiligen Kennzahlen erst ab den 1950er Jahren besonders stark ansteigen.
Indikatoren der »Großen Beschleunigung« (Quelle: Steffen et al. 2004)
Wie hat sich diese »große Beschleunigung« auf den gesellschaftlichen Stoffwechsel bzw. das metabolische Niveau ausgewirkt? Zunächst zu den Inputgrenzen des industriellen Metabolismus: In Abbildung 3 ist die Entwicklung der globalen Primärenergienachfrage seit 1800 dargestellt.
Entwicklung der globalen Primärenergienachfrage (Quelle: WBGU 2011: 57)
Es ist zu sehen, dass seit 1800 die weltweite Nachfrage nach Energie stetig zunimmt, ebenfalls beschleunigt seit den 1950er Jahren. Zudem ändert sich – wie bereits oben beschrieben – der Energiemix: Dominiert im 19. Jahrhundert noch die Gewinnung der Energie aus Biomasse, liegt der Anteil fossiler Energieträger am globalen Energiemix im Jahr 2010 bei ca. 85 Prozent. Für die Jahre ab 2010 ist die Entwicklung der Primärenergienachfrage auf Basis eines business as usual-Szenarios fortgeschrieben worden. Die Graphik zeigt auch, dass der Anteil der Kernenergie an der globalen Energieversorgung heute verschwindend klein ist. Würde man – beispielsweise aus Klimaschutzgründen – anstreben, die auf fossilen Brennträgern beruhende Energieerzeugung durch Nuklearenergie zu ersetzen, wäre dies nur durch einen massiven Ausbau der Atomenergie möglich. Das ist aufgrund der hohen Kosten sowie von Proliferations- und anderen Sicherheitsrisiken politisch nicht wahrscheinlich. Auch in Bezug auf den Materialinput hat die »große Beschleunigung« Auswirkungen. Abbildung 4 zeigt, dass sich in den vergangenen 100 Jahren die Entnahme von Ressourcen verachtfacht hat: Heute verbraucht die Menschheit insgesamt etwa 60 Milliarden Tonnen Materialien jährlich.
Direkte Stoffentnahme 1900–2005 (Quelle: Krausmann et al. 2009)
Relevant sind für die Frage nach der Vereinbarkeit von stetigem Wachstum und Nachhaltigkeit neben der absoluten Zunahme des Ressourcenverbrauchs auch die Veränderungen in der Relation der extrahierten Ressourcen: Wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend Biomasse genutzt – also Stoffe, die bei einer nachhaltigen Bewirtschaftung erneuerbar sind –, machen 2005 mehr als 80 Prozent der entnommenen Stoffe nicht erneuerbare Ressourcen, wie fossile Brennstoffe oder Erze und industrielle Mineralien, aus. Bei einigen dieser Stoffe – so beim Erdöl oder bestimmten Seltenen Erden – sind die Grenzen des gegenwärtigen sozialen Metabolismus bereits erkennbar.
Und in Bezug auf die Outputseite? Auch hier droht der industrielle Metabolismus planetarische Grenzen zu überschreiten oder hat sie z.T. schon überschritten. Abbildung 5 zeigt die »Planetarischen Grenzen« eines »safe operating space for humanity on earth« (Rockström et al. 2009). Während der vergangenen 10000 Jahre – also in dem Zeitraum, in welchem sich die menschlichen Zivilisationen maßgeblich entwickelt haben – sind bestimmte Parameter des Erdsystems (wie das Klima) weitgehend stabil geblieben. Verursacht durch menschliche Aktivitäten verändern sich in zehn kritischen Bereichen, die hier aufgelistet sind (wie Klimawandel, die Versauerung der Meere, der Abbau der Ozonschicht, Veränderungen des Nitrogen- und Phosphorzyklus), diese Parameter. Der innere Kreis markiert den »safe operating space for humanity on earth«, also die maximalen Grenzen, die einzuhalten sind, wenn man eine gefährliche Schädigung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit verhindern will. Die roten Felder stehen für den bereits heute erreichten Stand in dem jeweiligen Bereich. In drei Subbereichen (Rate des Biodiversitätsverlusts, Klimawandel und menschliche Beeinflussung des Nitrogenzyklusses) sind die Grenzen bereits überschritten.
Planetarische Grenzen (Quelle: nach Rockström et al. 2009)
Auf den Verlust an Biodiversität und den Klimawandel soll im Folgenden kurz eingegangen werden: Bei den gut untersuchten Tier- und Pflanzenarten gelten große Anteile der bekannten Arten als gefährdet oder bereits ausgestorben, so z.B. 22 Prozent der Säugetiere, 14 Prozent der Vögel, 31 Prozent der Amphibien, 28 Prozent der Nadelhölzer und 52 Prozent der Palmfarne (Vié et al. 2008). Waren frühere große Aussterbewellen der Erdgeschichte nichtanthropogenen Ursprungs – so wurde das Aussterben der Dinosaurier vor etwa 65 Millionen Jahren nach heutigem Wissensstand durch den Einschlag eines Meteoriten verursacht –, ist die aktuelle Aussterbewelle auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Welche Folgen dieses rasante Verschwinden von Arten für Ökosysteme zeitigt, die auch für Menschen von vitaler Bedeutung sind, ist unklar. Rockström et al. sehen das Zehnfache der natürlichen Rate des Aussterbens als planetarische Grenze, jenseits deren großskalige Systemveränderungen nicht ausgeschlossen werden können. Gegenwärtig ist im Vergleich zum erdgeschichtlichen Durchschnitt die Aussterberate der Tier- und Pflanzenarten hundert- bis tausendfach erhöht (MA 2005).
Beim Klimawandel liegt die planetarische Grenze nach Rockström et al. bei 350 ppm (350 Teilchen Kohlendioxid pro Millionen in der Atmosphäre). Diese Grenze geht auf Forschungen des NASA-Wissenschaftlers James Hansen zurück, der versuchte, den...