Was ist entdeckendes Lernen?
Das Wort »entdecken« könnte folgende Bedeutungen enthalten: herausfinden, aufspüren, ermitteln, herausbekommen usw. Wir können allerdings nur dann etwas herausfinden oder aufspüren, wenn es uns gelingt, auf der Grundlage unseres vorhandenen Wissens und unserer Erfahrung eine Sache gezielt zu erforschen. Dazu werden wir nur dann bereit sein, wenn sie uns bedrängt oder wenn ein Ereignis, das in einem von uns nachvollziehbaren Kontext steht, uns rätselhaft erscheint und zu Fragen anregt. Jedenfalls werden wir nicht als Forschende agieren können, wenn uns die Fragestellung künstlich aufgedrängt oder uns in einer Art und Weise präsentiert wird, die sich unseren Erfahrungsmöglichkeiten, unseren Interpretationsmöglichkeiten entzieht.
Auch im Kindergarten bleiben naturwissenschaftlich orientierte Tätigkeiten oft losgelöst im Raum stehen, ohne dass Zusammenhänge mit Alltagsbeobachtungen der Kinder hergestellt werden. Die Kinder erwerben somit ein Wissen, das sie nicht auf die erlebte Wirklichkeit übertragen können.
Ein Beispiel:
Um zu beweisen, dass Luft Masse hat, wird folgendes Experiment für Kindergartenkinder vorgeschlagen:
Ein leeres Glas, in dem sich ein Stück Papier befindet, wird umgekehrt in eine Wasserwanne getaucht. Das Wasser steigt nicht hoch und das Papier bleibt trocken.
Selbst Grundschulkinder interpretieren diesen Versuch so: »Die Luft im Glas ist so stark, dass sie das Wasser nicht hochsteigen lässt.«
Tatsächlich herrscht jedoch im Glas der gleiche Druck wie außerhalb des Glases, also der jeweilige Luftdruck. Diesen Sachverhalt können Grundschulkinder aber noch nicht verstehen, weil sie noch kein Konzept für den atmosphärischen Druck haben. Dabei soll dieser Versuch den Kindern verdeutlichen, dass Luft tatsächlich eine Substanz bzw. Masse besitzt. Dies wissen die Kinder allerdings implizit ohnehin und werden durch diesen Versuch nur verunsichert bzw. zur Bildung von Fehlvorstellungen animiert.
Wenn wir über das Verhalten von Luft sprechen, dann sprechen wir über den gasförmigen Zustand der Materie. Kinder sind mit dem Begriff »Luft« vertraut, weniger jedoch mit »Gas«. Mit kleinen Kindern kann man also durchaus über Luft sprechen, und man lernt dann, dass sie in der Lage sind, damit unterschiedliche Beobachtungen zu beschreiben. So können sie berichten, dass Luft, bzw. der Wind die Baumblätter zu bewegen vermag. Der Wind kann große Piratenschiffe vorantreiben, und wenn es richtig stürmt, dann können Dächer vom Wind abgedeckt werden. Ähnliches berichtet auch Jean Piaget 1928 in seinem Buch »The Child’s Concept of the World«. Will man den Kindern die Eigenschaften von Luft experimentell näherbringen, dann wird ein Verstehen nur dann erreicht, wenn Kinder mit einigen grundlegenden physikalischen Begriffen vertraut sind. Hierzu zählen beispielsweise: Menge, Volumen, Masse, Druck, Temperatur. Alle Experimente, die zum Thema »Luft« vielerorts in Kitas gezeigt werden, beinhalten all diese Dimensionen der Physik. Können Kindergartenkinder diese Dimension verstehen?
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder unter elf Jahren in der Regel die Luft als etwas begreifen, was da ist, was man nicht sehen und nicht anfassen kann. Ab elf Jahren existiert die Luft als etwas Substantielles. Auf die Frage »Enthält ein offenes Gefäß Luft?«, antworten 83 Prozent der Elf- bis Zwölfjährigen mit einem »Ja«. Diese Kinder werden unsicher, wenn man ihnen sagt, dass in einem leeren Reifen nach einem Platten noch Luft ist, und zwar so viel, dass sie einen Druck ausübt wie der atmosphärische Druck. Kinder wissen auch, dass sich die Luft durch kleinste Öffnungen hindurchbewegen kann, und sie gehen davon aus, dass die Luft von Natur aus warm und kalt sein kann. Sie begreifen die Luft als etwas Lebendiges. Die Kategorien »Luftdruck« oder »Ausdehnung« sind Kindern weniger zugänglich. Das Wissen darüber, dass Luft »etwas« sei, bedeutet jedoch nicht, dass damit auch verstanden wird, dass die Menge und Masse der Luft in jeder Transformation erhalten bleiben. Fast alle Kinder im Alter von elf bis zwölf Jahren meinen, dass man Luft nicht künstlich erhitzen könne. Selbst, wenn sie erfahren, dass Luft heißer gemacht werden kann, verbinden sie damit nicht, dass sich dadurch die Eigenschaften der Luft verändern; dann wird sie eben wärmer. Verbindet man Temperatur mit der Menge, dann meinen die Kinder, dass die erhitzte Luft leichter sei. Dass in einem verschlossenen Gefäß die Luft einen Druck (besser »Kraft«) ausübt, und bei erhöhter Temperatur der Druck steigt, können sich die Kinder nicht vorstellen. Den Begriff »Kraft« assoziieren sie stets mit bewegter Luft (Sturm, Orkan usw.). Eine typische Antwort in diesem Zusammenhang lautet: »Wenn man das Gefäß mit der Luft verschließt, dann kann sie sich nicht frei bewegen, weil sie wie ein Gefangener eingesperrt ist.«
Dabei geht es auch anders. Im Alltagsgeschehen erleben wir ständig Dinge, die auf leicht nachvollziehbaren Naturgesetzlichkeiten beruhen. Wir sitzen unter einem Baum, und ein Apfel fällt hinunter. Solche Erlebnisse nehmen wir zunächst beiläufig wahr. Und genau hier können wir einsetzen. Indem wir den Kindern diese Phänomene aus ihrem Blickwinkel heraus bewusst machen, können wir Übergänge zwischen »implizitem« und »explizitem« Wissen schaffen und zu wissenschaftlichem Denken führen. Ein Beispiel:
Die Lehrerin möchte mit den Kindern das Thema Heimatvögel bearbeiten. Am Anfang der Schulstunde berichtet sie, wie ein paar Kinder unweit von einer Straße einen Graureiher entdeckten. Er hatte sich hinter einem Busch versteckt. Da es ein Sonntag war und ein Tierarzt nicht leicht erreicht werden konnte, packten die Kinder ihn in ein Tuch und brachten ihn zu dritt zu einem Tierheim. Dort wurde er am nächsten Tag von einem Tierarzt untersucht, der dann feststellte, dass der Vogel sich nicht verletzt hatte und auch nicht krank war.
An dieser Stelle fragt sie ihre Schüler, die der Geschichte aufmerksam gefolgt sind: »Wieso ließ sich der Vogel gefangen nehmen, was war mit ihm denn los, wo er doch nicht verletzt war?«
Die Kinder berichten daraufhin von ähnlichen Erfahrungen mit anderen Vögeln und fragen sich, warum der Graureiher wohl nicht mehr fliegen konnte. Eine Reihe von weiteren Fragen taucht auf: Was macht man mit einem verletzten oder erschöpften Vogel? Wie und wo holt man sich Rat oder Hilfe? Darf man das Tier anfassen? Wenn nein, warum nicht? Darf man dem Tier Futter und Trinkwasser geben? Hatte sich das Tier verlaufen? War das Tier erschöpft, weil es keine Nahrung mehr bekommen hatte?
Die Lehrerin nimmt alle Fragen mit Geduld auf, bündelt und strukturiert sie. Sie prescht also nicht mit ihrem Wissen und ihrer Vorerfahrung vor, z.B. indem sie anhand von Schaubildern die Lebensweise und das Nistverhalten der Tiere erklärt oder die Geschichte auflöst, sondern sie versucht eine Atmosphäre herzustellen, die Kinder ermutigt, eigene Vorstellungen zu artikulieren, Theorien zu bilden und selber nach Erklärungen zu suchen.
Allen Fragestellungen gehen Ereignisse voraus, die uns rätselhaft erscheinen, unsere Neugierde erwecken, uns in Erstaunen versetzen, uns widersprüchlich erscheinen, in uns das Bedürfnis erwecken, uns mit einer Sache genauer zu befassen. Meist sind es alltägliche Ereignisse, Bilder und Phänomene, die wir gewöhnlich nebenbei in uns aufnehmen, die jedoch auf einmal als Frage ins Bewusstsein rücken. So führte auch ein fallender Apfel zur Entdeckung der Gravitationskräfte.
Ein zentrales Anliegen meiner Arbeit mit Kindern besteht deshalb darin, ihnen zu ermöglichen, unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit durch selbständiges und unbefangenes Handeln zu erfahren und diese mit Hilfe von individuellen Theorien bzw. Hypothesen zu interpretieren. Von Bedeutung dabei ist nicht, was ein Kind in einem bestimmten Alter lernen kann oder nicht lernen kann, sondern vielmehr, welche vorhandenen Fähigkeiten der Kinder wie am besten zur Geltung kommen und entfaltet werden können.
Dabei steht bei der Untersuchung eines naturwissenschaftlichen Phänomens nicht das Experiment im Mittelpunkt, sondern das persönliche Gespräch, bei dem alle Beteiligten neugierig darauf sind zu erfahren, wie die anderen denken und was sie bereits wissen. Kinder werden somit als Wissende wahrgenommen, die über wertvolle Kenntnisse verfügen. Diese kann ich mir aneignen, um ein Vorhaben gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln. Dabei kann die Idee entstehen, einen Aspekt der Fragestellung durch ein Experiment zu überprüfen.
Ganz wichtig zu beachten ist hierbei, dass Kinderfragen oft durch Akklamationen, Feststellungen und Bemerkungen ausgedrückt werden. Sie beginnen häufig nicht mit einem »Wie« oder mit einem »Warum«, sondern sind in einem Satz wie diesem verpackt: »Die Holzkugel ist weggerollt, der Legostein nicht!«
Das Kind stellt scheinbar einen Sachverhalt fest. Impliziert darin ist allerdings auch die Verwunderung darüber, dass die Kugel rollen kann, der Klotz jedoch nicht.
Das ist ein perfekter Ausgangspunkt, um gemeinsam mit dem Kind herauszubekommen, welche Formen besser rollen können als andere. Aus unterschiedlichen Materialien wie zum Beispiel Knete und Papier können verschiedene Formen hergestellt werden. Dann kann man untersuchen, welche Objekte besser rollen, oder man redet allgemein darüber, welche runden Objekte die Kinder überhaupt kennen und wozu diese gut sind. Ebenso kann man sich überlegen, warum man manchmal selber das Bedürfnis verspürt, sich rund zu machen oder warum Tiere sich einrollen, z.B. wenn sie frieren, Gefahr wittern oder wenn sie Winterschlaf halten. Welche Form würde der eigene Körper einnehmen,...