VORWORT:
DER VERNETZTE HISTORIKER
Wir leben in einer vernetzten Welt, so wird uns ständig gesagt. Das Wort »Netzwerk«, vor dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum verwendet, wird inzwischen sowohl als Verb wie auch als Substantiv überstrapaziert. Für den ehrgeizigen jungen Insider lohnt es sich immer – egal, wie spät es ist –, zur nächsten Party zu gehen, um sein Netzwerk zu pflegen. Schlaf mag ja verlockend sein, doch die Angst, etwas zu verpassen, ist schrecklich. Für den mürrischen alten Außenseiter hat das Wort Netzwerk jedoch eine andere Konnotation. Es wächst der Verdacht, dass die Welt von mächtigen und exklusiven Netzwerken kontrolliert wird: den Bankern, dem Establishment, dem System, den Juden, den Freimaurern, den Illuminaten. Fast alles, was in dieser Hinsicht geschrieben wird, ist Blödsinn. Doch würden sich Verschwörungstheorien kaum so beständig halten, wenn es solche Netzwerke überhaupt nicht gäbe.
Das Problem mit den Verschwörungstheoretikern besteht darin, dass sie als beleidigte Außenseiter ausnahmslos falsch verstehen und wiedergeben, wie Netzwerke funktionieren. Insbesondere neigen sie zu der Annahme, dass Elitenetzwerke insgeheim und mühelos formale Machtstrukturen kontrollieren. Meine eigene Forschung – wie auch meine Erfahrung – legt nahe, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil: Informelle Netzwerke stehen für gewöhnlich in einer höchst ambivalenten Beziehung zu etablierten Institutionen – manchmal sogar in einer feindseligen. Demgegenüber neigten professionelle Historiker bis in die jüngste Zeit dazu, die Rolle von Netzwerken zu ignorieren oder zumindest herunterzuspielen. Selbst heute noch bevorzugen sie es, jene Art von Institutionen zu erforschen, die Archive anlegen und bewahren – als würden diejenigen, die keine ordentliche Papierspur hinterlassen, nicht zählen. Meine Forschung und Erfahrung haben mich gelehrt, mich vor der Tyrannei der Archive zu hüten. Die größten Veränderungen in der Geschichte gehen oft auf kaum dokumentierte, informell organisierte Gruppen von Menschen zurück.
Dieses Buch handelt vom ungleichmäßigen Auf und Ab der Geschichte. Es unterscheidet die langen Perioden, in denen das Leben der Menschen von hierarchischen Strukturen beherrscht wurde, von den selteneren, aber dynamischeren Zeiten, in denen Netzwerke im Vorteil waren – zum Teil dank technologischer Neuerungen. Kurz: Wenn Hierarchie auf der Tagesordnung steht, ist man immer nur so mächtig wie die Sprosse, die man auf der organisatorischen Leiter eines Staates, einer Firma oder einer ähnlich vertikal aufgebauten Institution erklommen hat. Sind Netzwerke in der Vorhand, ist man so mächtig wie die Position, die man in einer oder mehreren horizontal strukturierten sozialen Gruppen innehat. Wie wir sehen werden, stellt diese Dichotomie zwischen Hierarchie und Netzwerk eine übermäßige Vereinfachung dar. Dennoch sollen einige persönliche Mitteilungen illustrieren, dass sie als Ausgangspunkt nützlich sein kann.
Als ich im Februar 2016 die erste Version dieses Vorwortes schrieb, nahm ich eines Abends an einer Buchparty teil. Gastgeber war der ehemalige Bürgermeister von New York. Der Autor, dessen Werk zu feiern wir uns versammelt hatten, war ein Kolumnist des Wall Street Journal und ehemaliger Redenschreiber eines Präsidenten. Ich kam auf Einladung des Chefredakteurs von Bloomberg News, den ich kenne, weil wir vor mehr als einem Vierteljahrhundert dasselbe Oxford-College besucht hatten. Auf der Party unterhielt ich mich mit ungefähr zehn Leuten, darunter der Vorsitzende des Council on Foreign Relations, der Vorstandsvorsitzende von Alcoa Inc., einem der größten Industriekonzerne der USA, der für die Kommentarseiten des Journal zuständige Redakteur, ein Moderator von Fox News, ein Mitglied des New Yorker Colony Club mit seiner Gattin und ein junger Redenschreiber, der sich mit den Worten vorstellte, er habe eines meiner Bücher gelesen (was unfehlbar der richtige Weg ist, ein Gespräch mit einem Professor aufzunehmen).
Auf einer Ebene ist offensichtlich, warum ich auf dieser Party war. Die Tatsache, dass ich an mehreren wohlbekannten Universitäten – Oxford, Cambridge, New York, Harvard und Stanford – gearbeitet habe, macht mich automatisch zum Mitglied der Netzwerke ehemaliger Collegemitglieder. Infolge meiner Tätigkeit als Autor und Professor nahm ich auch an einer Reihe von ökonomischen und politischen Netzwerken teil – etwa am Weltwirtschaftsforum und an den Bilderberg-Konferenzen. Ich bin Mitglied in drei Londoner Clubs und in einem New Yorker Club. Derzeit gehöre ich auch den Leitungsgremien von drei Körperschaften an: einer globalen Vermögensverwaltung, eines britischen Thinktanks und eines New Yorker Museums.
Dennoch habe ich, obwohl ich relativ gut vernetzt bin, fast keine Macht. Ein interessanter Aspekt der Party war, dass der ehemalige Bürgermeister in seiner kurzen Begrüßungsansprache die Gelegenheit nutzte und (nicht besonders enthusiastisch) erwähnte, dass er darüber nachdenke, sich als unabhängiger Kandidat für die nächste Präsidentschaft zu bewerben. Doch als britischer Staatsbürger konnte ich nicht einmal bei dieser Wahl abstimmen. Ebenso wenig hätte es die Chancen dieses oder eines anderen Kandidaten erhöht, wenn ich ihn unterstützt hätte. Denn als Akademiker habe ich nach Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner absolut keine Verbindung zum wirklichen Leben normaler Menschen. Anders als meine früheren Kollegen in Oxford überprüfe ich keine Erstzulassungen für Studenten. Als ich in Harvard lehrte, konnte ich meinen Studenten gute oder schlechte Noten geben, doch ich hatte letztlich nicht die Macht, selbst den schwächsten unter ihnen an einem Abschluss zu hindern. Und was die Zulassungen zu einem Doktoratsstudium betrifft, hatte ich unter den Fakultätsmitgliedern nur eine Stimme – auch hier keine Macht. Über die Leute, die für meine Beratungsfirma arbeiten, habe ich eine gewisse Macht, doch innerhalb von fünf Jahren habe ich insgesamt nur einen Angestellten gefeuert. Ich bin Vater von vier Kindern, doch mein Einfluss – ganz zu schweigen von Macht – auf drei von ihnen ist minimal. Selbst das jüngste lernt mit seinen fünf Jahren schon, wie es meine Autorität herausfordern kann.
Kurz, ich bin nicht gerade eine hierarchische Person. Ich bin eher der Typ Netzwerker. Als Student genoss ich, dass das Leben an der Uni frei von sozialen Abstufungen war, und insbesondere die Vielfalt von zufällig zusammengewürfelten Kreisen. Ich schloss mich vielen an und ließ mich bei wenigen blicken. Meine beiden schönsten Erfahrungen in Oxford waren meine Teilnahme als Kontrabassist in einem Jazz-Quintett – ein Ensemble, das bis heute stolz darauf ist, keinen Chef zu haben – und die Teilnahme an den Meetings eines kleinen konservativen Debattierclubs namens Canning. Ich entschied mich für die akademische Laufbahn, weil ich in meinen frühen Zwanzigern sehr viel mehr an Freiheit als an Geld interessiert war. Der Anblick meiner in traditionellen vertikalen Managementstrukturen beschäftigten Altersgenossen und ihrer Väter ließ mich schaudern. Angesichts der Oxford-Dozenten, die mich unterrichteten – Mitglieder einer mittelalterlichen Gemeinschaft, Bürger einer altertümlichen Republik der Gelehrsamkeit, souveräne Herrscher in ihrer Bücherwelt –, hatte ich den unwiderstehlichen Drang, ihren gemächlichen Schritten zu folgen. Als sich herausstellte, dass das akademische Leben weniger gut entlohnt wurde, als die Frauen in meinem Leben zu erwarten schienen, bemühte ich mich, Geld zu verdienen, ohne mich der Würdelosigkeit echter Anstellungen zu unterwerfen. Als Journalist zog ich es vor, als freier Mitarbeiter beschäftigt zu werden, meistens in Teilzeit, am liebsten als Kolumnenautor auf Vorschuss. Als ich mich dem Rundfunk zuwandte, schrieb und moderierte ich als unabhängiger Auftragnehmer und baute später meine eigene Produktionsfirma auf. Die Rolle als Unternehmer passte zu meiner Freiheitsliebe, und so habe ich Firmen eher deswegen gegründet, um frei zu bleiben, als um reich zu werden. Am meisten Freude macht es mir, Bücher über Themen zu schreiben, die mich interessieren. Die besten Projekte – die Geschichte der Rothschild-Banken, die Karriere von Siegmund Warburg, das Leben von Henry Kissinger – kamen über meine Netzwerke zu mir. Erst in jüngster Zeit wurde mir bewusst, dass es auch Bücher über Netzwerke waren.
Einige meiner Altersgenossen strebten nach Reichtum; wenige schafften es ohne eine zumindest kurze Zeit der vertraglichen Knechtschaft, gewöhnlich als Angestellter einer Bank. Andere strebten nach Macht; auch sie stiegen über die Rangleiter der Parteien auf und wundern sich heute über die Entwürdigung, die sie einst erduldeten. Zweifellos gibt es in den frühen Jahren eines akademischen Lebens Demütigungen, doch sie sind nichts im Vergleich dazu, bei Goldman Sachs als Praktikant oder als freiwilliger Wahlhelfer im Fußvolk des unterlegenen Kandidaten einer Oppositionspartei tätig zu sein. In die Hierarchie einzutreten heißt, sich zu erniedrigen, zumindest am Anfang. Doch heute sitzen einige meiner Studienkameraden aus Oxford als Minister oder Vorstandsmitglieder an der Spitze mächtiger Institutionen. Ihre Entscheidungen können die Vergabe von Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar und manchmal sogar das Schicksal ganzer Länder direkt beeinflussen. Die Ehefrau eines Altersgenossen aus Oxford, der in die Politik gegangen ist, beschwerte sich einmal bei ihm über seine langen Arbeitszeiten, fehlendes Privatleben, geringe Entlohnung und...