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E-Book

Mit anderen Augen

Wie ich durch meine Tochter lernte, die Welt neu zu sehen

AutorFabian Sixtus Körner
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783843717557
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In seinem neuesten Buch erzählt Fabian Sixtus Körner, was die Intensivstation für Neugeborene und ein Transitraum gemeinsam haben, wie seine Tochter seinen Blick auf die Menschen und die Welt verändert hat, und warum das Reisen mit Kind und Kegel zu den schönsten Erfahrungen zählt, die er jemals gemacht hat.

Fabian Sixtus Körner, geboren 1981, ist Designer, Fotograf, Innenarchitekt und Blogger. Anfang 2010 begann er die Welt zu bereisen und für Kost und Logis zu arbeiten. Innerhalb von zwei Jahren besuchte er alle fünf Kontinente, seit April 2012 lebt und arbeitet er in Berlin.

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Leseprobe

Q90 – EIN
RÄTSELHAFTER BEFUND


Berlin,
September 2016

Ich bin Pessimist. Darin liegt mein Optimismus. Das Worst-Case-Szenario ist mein ständiger Begleiter – nur beunruhigt es mich nicht. Im Gegenteil hilft es mir, innere Ruhe zu finden. Was kann schon passieren? Was wäre so schlimm, dass es sich nicht lohnen würde, weiterzumachen; weiterzuleben?

Optimisten werden sich nun fragen, wie man mit dieser Einstellung ein glückliches Leben führen kann, dabei liegt es auf der Hand: Es gibt keine bösen Überraschungen. Ausschließlich gute, ständig. Permanent werden meine Erwartungen ans Leben übertroffen. Und wenn doch mal die Frage nach dem »Warum?« aufkommt – »Warum ich? Warum passiert gerade mir so etwas?« –, dann habe ich mir die Antwort darauf meist schon im Vorhinein zurechtgelegt.

An diesem spätsommerlichen Tag Mitte September aber hatte ich es schlichtweg versäumt, mir eine passende Antwort zu überlegen.

Nico fuhr neben mir, hochschwanger, auf ihrem neuen Damenrad. Sie hatte es sich für die Schwangerschaft und die Zeit danach gekauft, um einfacher aufsitzen zu können als bei ihrem Mountainbike.

»Lass uns auf den Bürgersteig wechseln«, sagte sie, als wir durch die Kopfsteinpflastergegend nahe des Landwehrkanals in Kreuzberg radelten. »Nicht, dass ich hier eine Sturzgeburt hinlege.«

Ihre Entspanntheit war so ansteckend, dass auch ich keine Anzeichen von Nervosität verspürte. Es war der Tag des errechneten Geburtstermins, aber es gab keine körperlichen Signale für bald einsetzende Wehen, sodass ihre Gynäkologin uns für einen hoffentlich letzten Termin zur Untersuchung gebeten hatte.

»Die Herztöne sind mir etwas zu flach, und das Fruchtwasser wird knapp. Ich rufe jetzt im Krankenhaus an, um Sie anzukündigen«, erklärte sie uns unaufgeregt. »Wir werden Sie weiterhin an das CTG anschließen, um die Herztöne des Kindes zu überwachen«, wandte sie sich erst an Nico, dann an mich, »und Sie gehen bitte nach Hause, holen die gepackten Taschen und kommen dann wieder hierher, um mit ihrer Freundin ins Krankenhaus zu fahren. Keine Hektik, alles ist in Ordnung. Fahren Sie langsam und aufmerksam.« Tatsächlich war ich nach ihrer Ansage sehr ruhig. Was bei mir hängen blieb, war »alles ist gut« und »es geht gleich los«. Also war ich optimistisch.

Die Geburtsklinik war überfüllt. »Wir haben seit ein paar Wochen einen regelrechten Babyboom in Berlin. Und dann ist morgen Vollmond. Wir gehen davon aus, dass wir heute Nacht zahlreiche akute Fälle reinbekommen«, erklärte uns die diensthabende Stationsärztin. Da bei Nico noch keine Wehen eingesetzt hätten, würde man bei anderen Kliniken anfragen, ob dort noch ein Kreißsaal zur Verfügung stünde.

Während wir warteten, wurde Nicos Bauch erneut verkabelt, die Herztöne unseres Kindes weiterhin überwacht. Wir machten es uns im Kreißsaal gemütlich, stellten uns auf einen langen Tag ein. Zwei Stunden später fällte das Klinikteam eine Entscheidung.

»Die Herztöne sind tatsächlich abnehmend. Wir sollten keine Zeit verlieren, wenn die Geburt natürlich verlaufen soll. Wir bekommen Sie schon irgendwie unter.«

Nico wurde ein Wehen förderndes Mittel in Form einer Kapsel verabreicht, und wir warteten weiter. Nichts passierte. Nach vier Stunden mussten wir den Kreißsaal wegen eines der angekündigten akuten Fälle räumen. Zeitweise wurde uns der Schwesternraum mit einer Schlafcouch zur Verfügung gestellt, ein Bett für Nico sowie ein Monitor für die schwächer werdenden Herztöne unseres ungeborenen Kindes hereingerollt.

Es wurde Nacht. Ständig verrutschten die Elektroden auf Nicos Bauch, sodass wir, kaum waren wir eingeschlafen, vom schrillen Ton des Monitors aufschreckten. Immer wieder blieb mir fast das Herz stehen, bei diesem Geräusch, das einen vermeintlichen Herzstillstand unseres Kindes anzeigte. Unweigerlich machte sich nun doch Anspannung breit.

Um zwei Uhr früh schreckte ich wieder auf. Nico lag nicht mehr neben mir, der Monitor zeigte keine Aktivität. Ich sprang von der Couch, um sie zu suchen, doch als ich die Tür aufriss, stand sie vor mir.

»Es geht los«, sagte sie kehlig, eine Hand fest am Geländer, während die andere versuchte, den Schmerz abzuschütteln. Zwischen Eröffnungswehen und Versuchen, kurz zur Ruhe zu kommen, verging die Nacht im einlullenden Stakkato des CTG, bis am Morgen doch noch ein Kreißsaal frei wurde. Die Wehen kamen und gingen zur Zufriedenheit der Ärzte. Sie wurden stärker, die Abstände geringer. Nico entschied sich für die Badewanne. Ich würde neben ihr sitzen, um ihre Hand im Wasser zu halten. Irgendwann kamen die Presswehen, viel zu früh, ungefähr zur selben Zeit, als meine linke Hand aufgeweicht, runzelig und bleich war, wie die eines Neugeborenen.

»Versuchen Sie, nicht aktiv zu pressen, sparen Sie Ihre Kräfte. Das Kind muss sich noch drehen. Es liegt hundertachtzig Grad in der Vertikalen, eine Position, die man auch Sternengucker nennt. Am besten legen Sie sich wieder in den Geburtsstuhl. Wenn Sie eine PDA gegen die Schmerzen möchten, dann ist jetzt die letzte Gelegenheit«, klärte der Oberarzt nach einer weiteren Untersuchung auf. Nico schüttelte den Kopf und stieß Luft durch ihre gepressten Lippen aus. Sie hatte sich relativ früh gegen eine Betäubung des Unterleibs durch eine Rückenmarksinjektion entschieden. Ich an ihrer Stelle hätte vermutlich schon längst einen Rückzieher gemacht. Nico jedoch blieb eisern, selbst nach über zwölf Stunden Schmerzen, die noch stärker würden, je weiter das Baby in den Geburtskanal rückte.

Als es weitere vier Stunden später endlich so weit war, befand sie sich längst im Schmerzdelirium, während ich die rhythmischen Abfolgen begleitete.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

Alles in mir hatte auf Instinktmodus geschaltet. Ich dachte nicht mehr, ich funktionierte nur noch, und meine Funktion belief sich einzig darauf, Nico zu unterstützen – ohne dem Arzt und den Geburtshelfern im Weg zu stehen.

»Ich erhöhe noch mal die Dosis des Wehen fördernden Mittels«, verkündete der Arzt.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

»Hi, hi, hi, hi, huuuuuuu. Atme mit mir, Nico«, versuchte ich sie auf die nächste Wehe vorzubereiten, um sie danach wieder in eine Kurzschlafphase zu verabschieden.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

»Ick sehe schon wat!«, sprach die sitzende Hebamme vom Fußende herüber.

»Die Wehen lassen nach«, sagte die Schwester.

»Die Herztöne auch. Wir können jetzt keinen Kaiserschnitt mehr machen. Nach all der harten Arbeit wäre das sehr schade. Ich drehe den Tropf voll auf. Noch zweimal pressen, dann ist Ihr Kind da«, entschied der Arzt. Nico hielt meine Hand fest umklammert. Das Geräusch eines Dammschnitts ertönte. Es wird mein Unterbewusstsein nie mehr verlassen.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen. Pressen.

»Na, wen ham wa denn hier?!«, rief die Hebamme und hielt ein kleines Würmchen hoch, das mit dem ersten Luftzug ein Jauchzen ausstieß, als wäre es genauso erleichtert wie wir. Es war meine Tochter. Sie war nun kein Embryo mehr, kein Fötus und kein um sich tretendes Geschöpf in einer Fruchtblase, sondern leibhaftig und real wie alle anderen Anwesenden auch. Yantis Haut war lila und ihr Kopf eiförmig. Sie sah aus wie von einem anderen Planeten.

Nico hatte die Geburt derweil noch nicht überstanden. Die Nabelschnur war gerissen, und die Plazenta wollte sich nicht lösen lassen. Ihre Schmerzen mussten unerträglich sein. »Wir müssen Sie operieren«, beschied der Arzt. »Das dauert aber nicht lang, nur eine kurze Vollnarkose. Wir lassen Ihre Tochter beim Vater, und in fünfzehn Minuten haben Sie sie wieder.«

Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Yanti wurde Nico behutsam aus dem Arm genommen, in ein Handtuch gewickelt und mir überreicht. Sekunden später waren Nico und das Ärzteteam verschwunden und ich mit meiner Tochter zum ersten Mal allein.

Für einen langen Moment herrschte Stille. Ich schaute sie an, wie sie ruhig schlafend in meinen Arm gekuschelt lag, begutachtete die kleinen Finger und deren stecknadelkopfgroße Nägel. Strich mit der Kuppe meines Zeigefingers behutsam über die noch feuchte Ohrmuschel und streichelte ihre zarte Wange. Voller Bewunderung, doch auch prüfend. Irgendetwas an ihr ließ mich grübeln und weitersuchen. Konnte ich, als alter Vollblutpessimist, das Glück der Vaterschaft einfach nicht wahrhaben?

Als hätte sie meinen Blick gespürt, öffnete meine Tochter plötzlich ihre Augen, schaute mich an, als wäre sie die ganze Zeit über wach gewesen. Merkwürdig unverwandt, beinahe, als wollte sie mir ihr Geheimnis preisgeben. Mit Augen unter schrägen Lidern hielt sie meinem Blick stand, mehr noch, was im Grunde gar nicht sein konnte: Yanti fokussierte mich. In ihrem Blick lag eine Antwort und zugleich auch eine Frage, die entscheidend war:

»Und, was sagst du jetzt?«, las ich in ihren Augen. »Was machen wir daraus?«

Die Hebamme betrat den Raum. »So, ich würde Yanti jetzt zur Erstuntersuchung mitnehmen. Möchten Sie mitkommen?« Obwohl ich wusste, dass die U1 anstand, überraschte sie mich mit ihrer Frage. Ich war gedanklich ganz woanders, Jahre voraus.

»Ähm, nein, ich warte auf meine Freundin, die müsste bald aus dem OP kommen«, entschied ich. Sie nahm Yanti gekonnt mit einem Arm entgegen und verschwand. Ich schaute an mir herunter und sah, dass Yanti den ersten Stuhlgang ihres Lebens auf...

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