1. Handlungen – Über die Abgrenzung von Agieren und sinnhaftem Verhalten
Das Strafrecht befasst sich mit einer speziellen Form der Reaktion auf menschliches Verhalten, das als »Straftat« bezeichnet wird. Obgleich zu einer gegebenen Zeit die meisten Menschen meinen, dass es einfach sei, nicht nur ein paar der wirklich existierenden Straftaten zu nennen, sondern zu sagen, was auf jeden Fall eine solche ist, stimmt das meistens nicht. In der Regel wird damit nämlich, genauer betrachtet, nur darüber gesprochen, was eine Straftat sein soll. Wie das zustande kommt, ist Gegenstand dieses Buches. Wichtig ist zunächst einmal festzustellen, was der Begriff »Straftat« überhaupt zum Inhalt hat.
Das Leben ist, das sagt die Erfahrung, auch durch eine Vielzahl von Enttäuschungen geprägt. Damit sind an dieser Stelle nicht bittere persönliche Kränkungen gemeint, sondern die Tatsache, dass dem Bedürfnis nach vollendeter Zufriedenheit ein unendlich scheinender Strom von Ereignissen entgegenwirkt, die den Eintritt dieses Glücks verhindern: Das Wetter ist schlecht, wenn es gut sein sollte, das Essen fliegt uns nicht mühelos in den Mund, und andere Menschen tun Dinge, die sie nicht tun sollten, oder tun Dinge nicht, die sie tun sollten. Diese ständigen Enttäuschungen können auf grundsätzlich zwei verschiedene Weisen verarbeitet werden: indem man sie akzeptiert oder indem man sie zu verhindern versucht. Sie zu »bestrafen« ist für sich gesehen eigentlich sinnlos, denn dadurch verschwinden sie ja nicht nachträglich aus der Wirklichkeit; im Gegenteil kann die Mühe des Bestrafens wieder neue Enttäuschungen hervorbringen. Andererseits kann selbst der tiefenentspannteste Mensch die Dinge nicht einfach so hinnehmen: Auch buddhistische Mönche ärgern sich, wenn man ihnen das Essen wegnimmt oder sie schlägt.
Auf einer sehr allgemeinen Ebene muss man also zunächst einmal klären, wie man die Enttäuschungen, die einem widerfahren, so unterscheiden kann, dass man gegen ihre Wiederholung einigermaßen sinnvoll etwas unternehmen kann. Wenn ein Maisfeld in einem Jahr nicht genug Ernte gebracht hat, sodass der Bauer hungern musste, hat es keinen Zweck, das Maisfeld zu »bestrafen«, indem man es vernichtet. Man kann das versuchen; aber die Erfahrung zeigt, dass diese Methode nicht zur besseren Sättigung im nächsten Jahr führt. Das zeigt, dass es erforderlich ist, zwischen Enttäuschungsursachen zu unterscheiden, die man beeinflussen kann, und solchen, bei denen das nicht geht; weiterhin, dass man eine Ebene finden muss, auf der man mit den Ursachen in einen zielgerichteten Kontakt tritt: Man muss das Feld düngen, darf das Wasser nicht vergiften, muss einen Zaun gegen die Wildschweine und die Maisdiebe bauen. Wenn die Schweine sich durchwühlen und den Mais fressen, kann man entweder den Schweinegott bitten, beruhigend auf sie einzuwirken, oder man kann ein besonders dickes Schwein zur Abschreckung töten, oder man kann den Zaun weiter befestigen. Alle drei Methoden wurden in der Geschichte lange erprobt; die ersten beiden haben sich als nutzlos erwiesen.
Das Strafrecht interessiert sich – unter anderem – für die zweite Methode: das »Bestrafen« zwecks Abschrecken. Der moderne Mensch weiß intuitiv, dass »Strafe« nicht das Mittel der Wahl gegen Wildschweine ist, weil die Tiere zwar die Gewalt spüren, aber nicht auf ihr vergangenes Tun beziehen, sondern allenfalls auf das unmittelbar bevorstehend neue. Wenn der Bauer also seinen Schweinezaun mit Strom lädt, tut er das nicht, um die Schweine an ihre vergangenen Untaten zu erinnern und zu besseren Menschen zu erziehen, sondern um ihnen durch Schmerz und Angst den Appetit zu verderben.
Ganz anders ist es, wenn sich herausstellt, dass hinter den Schweine-Attacken ein anderer Bauer steckt, der die Wildschweine nachts heimlich auf das Feld seines Nachbarn treibt. In diesem Fall wird der geschädigte Bauer zunächst ein Bedürfnis nach »Rache« empfinden; im Übrigen wird er vermutlich nicht den Zaun verstärken, sondern seinen Nachbarn versuchen zu »bestrafen« (oder bestrafen zu lassen). Der Grund liegt auf der Hand: Der Geschädigte weiß, dass dem Schaden eine »Tat« zugrunde liegt, die sein Nachbar »begangen« hat; und er weiß zudem, dass man auf dieses Tun in einer speziellen Weise reagieren kann, die bei Schweinen nutzlos ist.
Strafrecht richtet sich nicht gegen Schadenserfolge, sondern gegen Handlungen, welche die Schäden hervorgerufen haben. Wenn ein Baum auf ein Haus gefallen ist, hat es keinen Sinn, den Baum zu bestrafen oder den Sturm, sondern man muss den Baumfäller suchen, der vielleicht ein Objekt von »Strafe« werden könnte. Die Pflicht, Strafe auf sich zu nehmen, kann man ihm aber nur auferlegen, wenn er auf irgendeine Weise »Verantwortung« trägt und wenn man das auch »mit Recht« behaupten kann. Bestrafen von Menschen, denen von vornherein keine Verantwortung für einen Schaden zugewiesen werden kann, hat weder individuell noch sozial eine rationale Wirkung; es bleibt eine reine Ersatzhandlung und dient bestenfalls zum Abreagieren von Wut.
Verantwortung, wie auch immer, setzt eine Handlung voraus. Handeln ist, nach der üblichen juristischen Definition, »positives Tun oder Unterlassen«. Der Begriff »positiv« meint hier keine Wertung, sondern beschreibt die Form einer Handlung: »Positives Tun« ist danach jede aktive Einflussnahme auf Zustände oder Ereignisse der Außenwelt. Das können schlichte körperliche Einwirkungen sein: Schlagen, Nehmen, Werfen usw., also Handlungen, die unmittelbar auf ein Objekt einwirken. Es können auch mittelbar wirkende körperliche Handlungen sein: Zuschließen einer Tür, Absenden eines Briefs. Auch Sprechen ist Handeln: Wer eine andere Person mittels Lügen »betrügt«, tut nicht nichts, sondern handelt durch positives Tun. Schwieriger ist die Frage, ob auch noch weniger ausreichen kann: »Hexen«, Geister-Herbeirufen, Verfluchen – alles positives Tun. Auch Denken? Also »Böse-Wünsche-Haben«? Es gab Zeiten, da hätte daran niemand Zweifel gehabt. Die Mehrheit ist heute anderer Ansicht; aber eine durchaus nicht ganz kleine Minderheit denkt das noch immer. Für das Strafrecht ist das praktisch egal; theoretisch kann man durchaus darüber nachdenken: Vielleicht könnte das intensive Denken von bösen Wünschen ja eine Art »Versuch« sein.
Eine Tat »versuchen« ist (oft, nicht immer) auch strafbar; das steht in Paragraf 22 StGB. Daraus könnte man schließen, das Strafen setze eine Handlung doch nicht voraus, wenn schon das Versuchen des Handelns verfolgt wird. Aber das täuscht: »Der böse Wille allein schadet nicht«, ist eine Maxime des modernen Rechts. Man darf Böses wollen, so viel man will – solange man nichts Böses tut, kümmern sich darum vielleicht die Moral und die Religion, aber nicht die Justiz. Auch der strafbare Versuch setzt daher eine Handlung voraus, ein handelndes »Ansetzen« zur Verwirklichung des Taterfolgs.
Wirklich kompliziert wird es aber, wenn das »Handeln« darin besteht, nicht zu handeln. Das Strafrecht nennt das »Unterlassen«, aber dieser Begriff beschreibt schon eher die Lösung als das Problem, denn »etwas zu lassen« ist nicht dasselbe wie »nicht handeln«, sondern durch die Bezugnahme auf das »Etwas« ein spezifisches Nichthandeln: das Nicht-Tun von etwas, was getan werden könnte, müsste oder sollte. Wenn ein Mensch müßig in der Sonne liegt, wird man das in der Regel nicht so beschreiben, dass er »unterlässt«. Es ist auch nicht sinnvoll, jemanden dazu aufzufordern, bitte »zu unterlassen«, ohne hinzuzufügen, was er nicht tun soll.
Das »Unterlassen« des Strafrechts ist also ein Handeln, das von vornherein nicht aus bloßer Wirklichkeit besteht, aus einem Nichts, sondern aus einer Kombination von Wirklichkeit und »Gesolltem«. Das ist ein Beispiel dafür, dass wir es im Strafrecht meist nicht mit »einfachen« beschreibenden, neutralen Wörtern und Beschreibungen objektiver Gegebenheiten zu tun haben, sondern mit Begriffen, durch welche die Wirklichkeit wertend gedeutet wird. Das soll in den folgenden Abschnitten noch ein wenig näher erklärt werden.
Man kann menschliches Handeln in verschiedener Weise beschreiben: physikalisch, sozial, systemtheoretisch als Abgrenzung des Einzelnen vom jeweils »anderen«, philosophisch als Betätigung von Ethik usw. Für die rechtliche Sicht der Dinge ist von Bedeutung, es als ein von Sinn bestimmtes Phänomen zu verstehen, als Gegensatz zum bloßen »Agieren«, somit als Verbindung von Mittel und Zweck.
Handeln ist »motiviertes Agieren«. Das ist nicht stets selbstverständlich oder offenbar. Strafen kann auch (scheinbar) ansetzen am bloßen »So-Sein«, etwa als Mitglied einer Gruppe (»Blutrache«), oder an unerklärlichen »Einflüssen« (Strafe wegen »bösen Blicks«) oder an zweckfreiem Agieren (Ersticken eines Säuglings durch die schlafende Mutter). In allen drei Fällen steckt dahinter aber eine – vielleicht nicht bewusste – Bezugnahme auf motiviertes Handeln: im ersten Fall die Verfehlung einer gruppenangehörigen dritten Person; im zweiten Fall das Böse-Sein als »Strafe« für religiöse Verfehlungen; im dritten Fall das Unterlassen von Vorsichtsmaßnahmen vor dem Einschlafen.
Der Blick des Strafens ist also auf »zweckgerichtetes Agieren« gerichtet. Daraus folgt aber noch nicht, an welcher Stelle dieses Ablaufs es ansetzt. Er lässt sich in drei Phasen unterscheiden: Idee/Plan; Ausführen des Plans; Erreichen des Ziels. Ob man schon die erste Phase bestrafen will oder erst die zweite oder dritte, ist von den Begriffen nicht vorgegeben; es unterliegt starken Wandlungen in Theorie und Praxis. Hinzu kommt das Problem,...