VORWORT
»Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht«, lässt Georg Büchner seinen Woyzeck sagen.
Ich sehe hinab. Seit drei Jahren rede ich mit Menschen über ihre Brüche, ihre Schicksale, über tiefe emotionale Krisen und wie sie diese überwunden haben. Bei manchen ist dabei die schiere Abwesenheit von Unglück schon ein großes Glück.
In diesem Buch versammelt sind 28 Geschichten von Menschen, deren Leben sich mitunter binnen eines Wimpernschlags verändert hat, deren vermeintliche Sicherheiten sich in Luft aufgelöst haben, die plötzlich alleine dastanden.
WAS HEISST SCHON SICHERHEIT?
Es ist dabei ein Buch entstanden, das zwar Einblicke in menschliche Tragödien gestattet, aber zugleich Zeugnis gibt von der Kraft der Überlebenden, ihrer Haltung, ihrer Liebe zum Leben und bisweilen ihres Humors.
Eine Gewissheit konnte ich aus den Aufzeichnungen ziehen: Wir können uns nicht gegen alles versichern. Und vor allem gibt es keine Versicherung gegen Schicksalsschläge. Früher oder später wird jeder von uns damit konfrontiert, mal mehr, mal weniger tief greifend. Sie gehören zum Leben dazu.
Es ist eine Binsenweisheit, dass nicht nur Krankheit, Verlust oder körperlicher Missbrauch Spuren in einem hinterlassen, sondern auch wiederkehrende verbale und emotionale Kränkungen. So wohnt wohl jedem Menschen die eine oder andere Verletzung inne und kaum jemand ist ohne Narben, die auch wieder aufreißen können. Kommandos wie »Reiß dich zusammen!« oder Aussagen wie »Was dich nicht umbringt, macht dich stärker« spiegeln oft mehr die Ohnmacht des Betrachters. Den Empfänger solcher Botschaften, den Leidenden, erreichen sie fast nie. Und wenn, dann verdrängt oder verbirgt er den Schmerz, setzt eine Maske auf, um niemanden mit dem eigenen Schicksal zu behelligen oder zu belasten. Im Inneren schwelen die Verletzungen dann oft weiter.
»ZEIGE DEINE WUNDE«
In diesem Buch finden Sie Geschichten von Menschen, die ihre Wunden zeigen, und wie sie für sich Heilung gefunden haben, indem sie ihren Weg weitergehen – zwar beschädigt, aber dennoch gestärkt und oft um Facetten ihrer Persönlichkeit bereichert, die sich erst in der Krise entwickeln durften.
Wie es dazu kam, dass ich diese Geschichten sammelte? Vor einigen Jahren steckte ich in einer Situation, die, wie Wolf Biermann es so schön ausdrückte, »von einer Liebesaffäre zerfleddert« war. Die Welt drehte sich trotzdem weiter und es wurde erwartet, dass ich mich mit ihr drehe. Doch das schien mir unmöglich: Meine Welt tauchte für Monate ins Schwarz. Melancholie und Schwermut wuchsen sich in eine schwere Depression aus. Die einzige Frage, die sich mir jeden Tag stellte, lautete: Wie überleben?
Da ich bei meinen Expartnerinnen auf Schweigen stieß, suchte ich Hilfe im Gespräch mit anderen. Ich konnte gar nicht anders, als mich in meiner Verletzlichkeit zu zeigen, und erlebte dabei etwas Wunderbares: Auch meine Gesprächspartner öffneten sich in unerwarteter Intensität.
So kam es, dass ich von verschiedenen Menschen zutiefst persönliche, eindringliche Geschichten von ihren Lebenskrisen und den Wegen hinaus zu hören bekam. Dabei habe ich viel gelernt. Tatsächlich konnte ich aus diesen Lehren und Trost zur Bewältigung meines eigenen Schmerzes ziehen, der mir damals schier unüberwindbar schien.
WORIN BESTEHT DIE KUNST DES ÜBERLEBENS?
Wann ist eine persönliche Krise Auslöser für einen Absturz, wann für einen neuen Über-Lebenswege? Bei mir war es Liebeskummer, in dem ich mich fast verlor. Ein Schmerz, den andere Menschen wegwischen, als sei nichts gewesen – und andere zu neuen Ufern aufbrechen lässt, ohne ihr Leid zu vergessen, sondern es als unverzichtbaren Teil der eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Ich durfte in vielen intensiven Begegnungen lernen, dass Leiden sich nicht kategorisieren lassen und jeder Mensch (sein) Leid anders definiert. Dieses Buch beruht letztendlich auf den folgenden Fragen: »Wieso bricht der eine zusammen, während der andere mit einem schweren Problem klarkommt?«, »Warum ist für den einen das Glas halb voll, für den anderen aber halb leer?«, »Was gibt einem Menschen die Kraft, selbst einen Todesmarsch oder den Verlust des Kindes zu überstehen?«, »Worin besteht die Kunst des Überlebens?«.
Es geht dabei zentral um Resilienz, um die psychische Widerstandsfähigkeit eines jeden Menschen – und die Frage »Was bietet Halt?«. Der Kern dieses Schutzschildes ist ein unerschütterliches Vertrauen in die Fähigkeit, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Experten stimmen darin überein, dass jeder etwas für diesen persönlichen Schutzschild tun kann – ein Leben lang.
Hier berichten also unterschiedlichste Menschen über ihr Leben. Über ihr Überleben, über Verlust, Trauer, Neuanfang und wie sie Anker geworfen haben, die ihnen neue Sicherheit und Halt schenken.
»WO ABER GEFAHR IST, WÄCHST DAS RETTENDE AUCH«
Wir leben im Jetzt – und das bietet die Chance, jeden Tag neu anzufangen und sich neu zu (er)finden. Sie werden entdecken, dass alle hier versammelten Protagonisten die Kraft dazu in sich selbst gefunden haben. Somit sind ihre Geschichten die von Menschen, die Mut machen, eben weil sie eine schwere persönliche Krise über-lebt haben. Ob es Antworten enthält, entscheiden Sie, lieber Leser, ganz intuitiv und persönlich für sich selbst.
Wir müssen – das ist meine Lehre aus all diesen Begegnungen –, Verantwortung für uns selbst übernehmen, um ein erfülltes Sein haben zu können und Frieden in uns zu finden. Ohne auf Rettung von außen zu hoffen. Wir müssen lernen, uns selbst zu verzeihen, Schicksalsakzeptanz zu entwickeln, um dann wieder hinauszugehen in die Welt, Kontakte aufzubauen und sie zu pflegen. Die Lösung mag auch in einem Satz aus dem Neuen Testament verborgen sein: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Wenn man den zweiten Teil wirklich versteht, dann hat man vielleicht die Lösung in der Hand.
Ich glaube fest daran, dass man durch Konfrontation mit seinen Traumatisierungen wachsen, gesunden und seinen Seelenfrieden finden kann. Wir müssen keinen vermeintlichen Schicksalsbahnen folgen, die uns durch Muster aus der Kindheit vorgegeben zu sein scheinen, sondern können unsere Zukunft positiv gestalten. Hier im Jetzt. Auch wenn sich das in dem Moment einer Krise völlig abwegig anhören kann. War der Platz, von dem aus wir das Leben betrachten, inmitten der Krise die Welt, so macht er sich nach einer gewissen Zeit ganz klein aus. Dieses Buch dreht sich um »Überlebensglück«, um gewachsene Weisheit und eine freundliche Gelassenheit, die es möglich macht, sich die Themen anderer anzuschauen, ohne über sie zu urteilen. Das kann Mut und Hoffnung machen – und Kraft schenken, sich zu bewegen.
ALS MEIN KÖRPER KAPUTTGING
»Ich kann den Zeigefinger ein wenig bewegen.
Da habe ich Glück gehabt.«
BENEDIKT VON ULM-ERBACH
Einen Tag vor Silvester 2010 passierte der Unfall. Seither bin ich ab dem sechsten Halswirbel querschnittsgelähmt. Ich war mit meiner damaligen Freundin in der Nähe von Innsbruck snowboarden. Wie so viele Male zuvor bin ich etwas abseits im Tiefschnee gefahren. Hinter einer kleinen Erhöhung waren Steine, die ich nicht sehen konnte. Ich blieb hängen und prallte mit voller Wucht mit dem Kopf gegen einen Fels.
Ich war ohne Helm unterwegs. Allerdings sagten mir danach die Ärzte, dass ich mir auch mit Schutz den Halswirbel gebrochen hätte. An den Moment selbst kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, was meine Freunde damals berichtet haben. Dass ich wohl relativ ruhig gewesen sei, aber gesagt hätte, dass meine Arme kribbeln.
Ich war wohl kurz bewusstlos, aber im Helikopter schon wieder ansprechbar. Ich wurde in die Klinik nach Innsbruck geflogen, wo ich operiert wurde. Dort erklärte man mir, was passiert war. Allerdings hatte ich so starke Medikamente intus, dass es eine Woche dauerte, bis ich etwas mitbekommen habe. Ich konnte Dinge erst wieder realisieren, als in meinem Bewusstsein verankert war, dass meine Beine nicht mehr funktionieren.
Jemand fragte, ob ich meine Beine bewegen kann.
Ich verneinte. Aber ich habe keine Panik bekommen.
ÜBERWOGEN HAT IMMER DIE ZUVERSICHT
Anfangs habe ich noch gehofft, dass wie im Film die Körperfunktionen wiederkommen. Aber je länger nichts passierte, umso mehr habe ich die Situation angenommen und versucht, dieses Hoffen zu unterdrücken. Erst ein paar Wochen später habe ich komplett begriffen, dass die Funktionen niemals zurückkommen würden. Enttäuschung, Trauer und Angst habe ich schon gespürt, aber diese Gefühle waren nie überwältigend. Sie wurden durch die Fähigkeiten, die ich schrittweise wieder erlernte, kompensiert. Überwogen hat immer die Zuversicht, aus meiner aktuellen Situation etwas zu machen.
Ich bin von den Brustwarzen abwärts gelähmt. Im Trizeps habe ich nur noch ganz wenig Funktion, im Bizeps aber schon und in der Hand. In den Fingern...