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E-Book

Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation

Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis

AutorHeinrich Burkhardt
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783170316614
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Durch die steigende Lebenserwartung und das Anwachsen der Gruppe älterer und hochbetagter Menschen steigt auch der Anteil derer, die an einer Multimorbidität, also mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig leiden. Multimorbidität kann als eine bedeutsame Facette der zunehmend komplexer werdenden Arbeit im Gesundheitsbereich betrachtet werden und unterliegt den Besonderheiten komplexer Problemstellungen. Sie hat große Auswirkungen auf diagnostische Strategien und auch therapeutische Maßnahmen wie z.B. die Pharmakotherapie, wird aber aktuell noch unzureichend wahrgenommen und diskutiert. Das Buch zeigt theoretische Aspekte dieses Phänomens mit dem Schwerpunkt auf geriatrische Multimorbidität auf und gibt hierzu eine aktuelle Definition. Es gibt außerdem anhand von Fallbeispielen praktische Hilfestellung für die klinische Arbeit.

PD Dr. med. Heinrich Burkhardt ist Chefarzt der Sektion Altersmedizin der II. Med. Klinik an der Universitätsmedizin Mannheim. Habilitiert für das Fach Innere Medizin mit einem Thema zur Gerontopharmakologie, Internist mit der Zusatzbezeichnung Klinische Geriatrie mit 28 Jahren Berufserfahrung. Sektionsvorsitzender der Sektion II der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie bis 2016. Autor der FORTA-Gruppe zur Optimierung der Medikation für ältere Patienten.

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Leseprobe

2          Theoretische Aspekte der Multimorbidität und epidemiologische Befunde


 

 

2.1       Verwendung des Begriffs und Definitionen


Mit Multimorbidität wird gewöhnlich das Vorliegen von mehr als einem chronischen Gesundheitsproblem bezeichnet. Aktuell existiert aber keine allgemein gültige Definition einer solchen Multimorbidität. Für gewöhnlich ist damit eine gleichzeitige Aktivität von drei Gesundheitsproblemen gemeint. Eine aktuelle Publikation der Academy of Medical Sciences greift diese Diskussion auf (The Academy of Medical Sciences. 2018) und definiert Multimorbidität bereits als das Vorhandensein zweier chronischer Zustände, die folgendes sein können:

•  eine physische nicht übertragbare chronische Erkrankung wie z. B. eine Tumorerkrankung oder eine kardiovaskuläre Erkrankung

•  eine chronische psychische oder mentale Erkrankung wie Depression oder Demenz

•  eine langdauernde infektiöse Erkrankung wie HIV oder Hepatitis C

So folgt diese Definition einem mathematisch orientierten strengen Ansatz, andere Autoren würden die Schwelle höher legen und implizieren damit auch aus einer klassischen klinischen und mehr empirisch geleiteten Sicht heraus, dass ein gewisser Schwellenwert der Problematik vorhanden sein könnte, ab welchem dann erst eine klinische Bedeutung zugewiesen werden kann. In dem Positionspapier der Academy of Medical Sciences wird darüber hinaus auch das erstaunliche Defizit belastbarer Erkenntnisse über dieses so bedeutsame Phänomen herausgestellt und eine Reihe von sechs konkreten Aufträgen bzw. Forschungsfragen für die zukünftige, speziell auch wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas abgeleitet:

1.  Welche Trends und Muster der Multimorbidität lassen sich erkennen?

2.  Welcher Multimorbiditäts-Cluster erzeugt die größte Belastung der Gesundheit?

3.  Wie lassen sich geeignete Determinanten distinkter Multimorbiditäts-Cluster definieren?

4.  Was sind geeignete präventive Strategien um die wichtigsten chronischen Konditionen, die schließlich zu Multimorbiditäts-Clustern führen zu kontrollieren?

5.  Welche Strategien können helfen Risiken therapeutischer Maßnahmen in der Situation der Multimorbidität zu minimieren und den Nutzen derselben zu optimieren?

6.  Wie kann das Gesundheitssystem organisiert werden, um besser auf die Bedürfnisse der Patienten mit Multimorbidität eingehen zu können?

Erst die gezielte Bearbeitung dieser Forschungsfelder wird die Gesellschaft und die Gesundheitssysteme in die Lage versetzen, die Herausforderungen, welche durch Multimorbidität entstehen, in angemessener Weise bestehen zu können. Es kann durchaus sein, dass dies einige Traditionen im medizinischen und auch pflegerischen Denken verändern wird.

Im dritten Teil dieses Werkes lassen sich einige Hinweise an konkreten Beispielen aufzeigen, in welche Richtung die Beantwortung dieser Fragen gehen kann ( Kap. 3). Kommen wir aber zunächst zurück zu den bisher vorliegenden Positionen und Erkenntnissen und den theoretischen Grundlagen, die sich hinter den aufgeworfenen Fragen verbergen. Das betrifft zunächst die Charakterisierung der einzelnen, letztlich die Multimorbidität hervorbringenden Konditionen oder Gesundheitsstörungen, später dann die Frage übergeordneter Muster. Diese beim Zustandekommen von Multimorbidität beteiligten Gesundheitsprobleme sind klassischerweise, wie auch in diesem Vorschlag, stark an die Nosologie der ICD-Klassifikation angelehnt, meinen also weniger syndromartige Komplexe oder auch Bereiche der Funktionalität. Multimorbidität ist heute der populärste unter einer ganzen Reihe von Begriffen, die eigentlich eine höhere Komplexität der Gesundheitsproblematik aufzeigen und besonders auf die Interaktivität und Interkonnektivität unterschiedlicher Aspekte und Kompartimente im Organismus hinweisen. Wichtige Begriffe in der Abgrenzung, die auch heute in aktuellen Diskussionen aufzufinden sind, sind Komorbidität und Vulnerabilität. Häufig bleibt die Diskussion hier aber zu sehr an der Oberfläche und es lohnt, hier unterschiedliche Ebenen der verwendeten Konzepte zu beschreiben. So unterteilen Kuhlmey und Tesch-Römer (2013) wie folgt:

•  Statistisches Multimorbiditätskonzept

•  Geriatrisches Multimorbiditätskonzept

•  Dynamisches Multimorbiditätskonzept

Das statistische Konzept beschreibt das Vorliegen von mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig und orientiert sich sehr an der medizinischen Diagnosestellung nach ICD. Hier wird fast ausschließlich auf quantitative Aspekte fokussiert. Mit geriatrischen Konzepten meinten Kuhlmey und Tesch-Römer die Erweiterung dieses Ansatzes mit einem Ablösen von einem ausschließlich auf die nosologische Sphäre des ICD-Systems beschränkten Blickes durch eine zusätzliche Mitbetrachtung von funktionellen Aspekten. Hochkomplexe Strukturen wie der Mensch in seinen physischen Bedingtheiten und psychischen und sozialen Bezügen lassen sich immer nur sehr vereinfachend und näherungsweise beschreiben. Daher stellt die klassische medizinische Nosologie mit der strikten Trennung von gesund und krank, dem damit einhergehenden Festhalten an harten diagnostischen Grenzen und einem festgeschriebenen Katalog von Erkrankungen bereits eine sehr starke Vereinfachung dar. Die Erfahrung zeigt, dass so vielfach Gesundheitsprobleme nur unvollständig beschrieben sind. Ein Bespiel hierfür ist die kontinuierliche Entwicklung der diabetischen Stoffwechsellage beim klassischen Typ 2 Diabetes von der initialen Insulinresistenz über das metabolische Syndrom bis zum Erreichen der diagnostischen Schwelle zum Diabetes mellitus. Ähnlich ist es mit der Definition des Lungenemphysems beim älteren Menschen. Hier werden gar die strikten Grenzwerte der Norm in der Lungenfunktionsanalyse einfach linear weiter extrapoliert. Diese Schwächen im traditionellen Verständnis von Gesundheitsproblemen sind lange erkannt und wurden bei Formulierung des aktuellen Konzepts von Krankheit und Gesundheit nach den Vorstellungen der WHO berücksichtigt. Hier werden wichtige Hauptbezüge unterschiedlicher Sphären beschrieben. Die folgende Abbildung ( Abb. 1) gibt diese wieder.

Abb. 1: Das Biopsychosoziale Krankheitsmodell der WHO

Von besonderer Bedeutung ist hier, dass zusätzlich zu der Ebene der Integrität, worin die klassischen Auswirkungen auf Erkrankung durch Veränderung von Physiologie oder auch psychischem Erleben repräsentiert sind mit einer als funktionelle bzw. partizipativ beschriebenen ebene viel stärker die Auswirkungen auf Alltagsfunktion und Teilhabe betont werden, wie das üblicherweise im medizinischen Kontext beschrieben und diskutiert wird. Hält man sich diese bereits recht komplexen Wechselwirkungen beim Zustandekommen von Krankheit vor Augen, wird deutlich, dass es auch bei evtl. sehr unterschiedlichen und scheinbar klar getrennten Auswirkungen von zwei Erkrankungen im Bereich der Physiologie durch andere mögliche Wechselwirkungen zu einer starken wechselseitigen Beeinflussung kommen kann. Ein klassisches Beispiel ist das gleichzeitige Vorliegen einer primär somatischen Störung wie z. B. der eingeschränkten Pumpfunktion des Herzens (Herzinsuffizienz) und einer Depression, welche das Coping mit der Erkrankung behindert und dadurch die Auswirkungen auf die funktionelle und partizipative Ebene erheblich verstärken kann. Diese zusätzliche Berücksichtigung der Dynamik zwischen den beschriebenen und aufgezählten Problemfeldern sind schließlich mit dem dynamischen Multimorbiditätskonzept gemeint.

An dieser Stelle lohnt ein kritischer Blick auf das ICD-System der Erkrankungen (ICD-10, 2016), welches seit nunmehr über 80 Jahren von der WHO immer weiterentwickelt wurde. Diese Systematik diente ursprünglich in ihren frühen Versionen der Erfassung von Todesursachen und lehnt sich im Kern der Systematik stark der Vorstellung von den großen Systemen des Organismus an, so wie er zu Beginn des letzten Jahrhunderts verstanden wurde. Zum Beispiel werden alle Herzerkrankungen in eine Gruppe zusammengefasst, alle Lungenerkrankungen in eine andere. Man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen, dass alle Erkrankungen, die eine Atemnot bedingen in eine Gruppe zusammengefasst werden müssten, also eine Einteilung nach Leitsymptomen sinnvoller wäre wie eine solche nach den hauptsächlich betroffenen Organen. Interessanterweise, war und ist in diesem System nicht vorgesehen, dass ein Tod auch auf natürliche Weise also ohne Erkrankung eintreten könnte. Dass eine solche rein an den Organen und Geweben...

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