|41|2 Handlungsempfehlungen
2.1 Prävention
Prävention beginnt im Alltag – einerseits im familiären Alltag mit den Eltern und andererseits auch im institutionellen Alltag. Spezifische Präventionsprogramme und -maßnahmen sollten dennoch zusätzlich angeboten und durchgeführt werden.
Im Erziehungsalltag sollten die Grundhaltung an den Kinderrechten orientiert und der Umgang miteinander respektvoll und achtsam sein. Erst wenn Kinder und Jugendliche sich ernst genommen fühlen und in Entscheidungen und tägliche Abläufe soweit wie möglich mit einbezogen werden, können sie Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung entwickeln. In der Gruppe sollte eine Sensibilität für die eigenen Belange sowie für die Bedürfnisse anderer geschaffen und gefördert werden. So kann Prävention schon im Alltag ansetzen.
Zusätzlich zu der Vermittlung von gegenseitigem Respekt und Achtsamkeit im Alltag ist die Erarbeitung eines umfassenden Präventionskonzepts für jede Einrichtung, in der mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird, wichtig. Dafür wurden am Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ (Abschlussbericht RTKM, 2011) in einer Arbeitsgruppe (Arbeitsgruppe I zum Thema Prävention, Intervention und Information) Leitlinien beschlossen. Diese Leitlinien können als Mindeststandards im Kinderschutz in Institutionen angesehen werden. Sie sollten als Grundlage in der Entwicklung eines individuellen Schutzkonzeptes dienen. Zur Umsetzung der Mindeststandards gehören laut der Leitlinien des Runden Tisches neben der Prävention die Handlungsebenen Intervention und langfristige Aufarbeitung und Veränderung. Diese drei Ebenen sollten als notwendige Elemente eines Qualitätsentwicklungsprozesses der Träger angesehen werden. Die Grundlage des gesamten Konzeptes ist die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen, ihr Schutz, d. h. die Sicherung des Kindeswohls, sowie die Förderung einer altersentsprechenden Entwicklung. Es soll ein aufgeklärter und selbstbestimmter Umgang mit Sexualität ermöglicht und gefördert werden. In den Leitlinien wird hervorgehoben, dass alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zeitnah ein Konzept entwickeln sollen, für das die Verant|42|wortung bei den Trägern der jeweiligen Institution liegt. Außerdem soll nach zwei Jahren eine Prüfung der Umsetzung von Mindeststandards durch eine übergeordnete Behörde erfolgen.
Um vor einer Implementierung der Mindeststandards ein Grundverständnis der Problematik zu schaffen, ist zunächst eine Risikoanalyse durchzuführen, in der spezifische Risiken des jeweiligen institutionellen Kontextes formuliert sind. Zudem sollte die Haltung des Trägers und das momentane Vorgehen in den genannten Risikobereichen beschrieben werden. Träger sollten sich außerdem verpflichten, aufkommenden Vermutungen nachzugehen und entsprechende Handlungspläne in einem Vorfall zu beschreiben und umzusetzen. Auch eine ausführliche Dokumentation des Ablaufs ist wichtig.
Wie bereits erwähnt, sind Prävention, Intervention sowie die langfristige Aufarbeitung und Veränderung nach Fällen sexueller Gewalt als zentrale Bausteine eines Schutzkonzeptes vor sexueller Gewalt anzusehen. Im Folgenden wird vor allem auf die Prävention eingegangen, bevor die Intervention in einem eigenen Kapitel behandelt wird.
2.1.1 Präventionsmaßnahmen
Ein gutes Präventionskonzept kann nicht allgemein beschrieben werden, sondern muss von jeder Einrichtung individuell erarbeitet und angepasst werden. In der Leitlinie des Runden Tisches (2011) wurden dennoch allgemeine Aspekte der Prävention und spezifische Präventionsmaßnahmen formuliert, die als Grundlage und Stütze für die Erarbeitung eines eigenen Schutzkonzeptes dienen können und sollen.
Im Allgemeinen liegt die Verantwortung des Kinderschutzes beim Träger. Das heißt er ist im Rahmen der allgemeinen Präventionsmaßnahmen dafür zuständig, auf jeweilige Zielgruppen (d. h. Eltern, Kinder und Mitarbeitende bzw. angehende Mitarbeitende) angepasste Informationen über die eigene Haltung bereitzustellen. Dazu gehören beispielsweise Handlungsleitlinien im Falle sexueller Gewalt sowie ein Verhaltenskodex für alle Mitarbeitenden. Außerdem liegt die Verantwortung für Maßnahmen und Verfahren für alle Beteiligten im Falle eines sexuellen Übergriffs beim Träger. Auch die Verankerung des Themas in die interne Gremienarbeit sowie in Qualifizierungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen ist ein wichtiger Aspekt allgemeiner Präventionsmaßnahmen. Hierzu gehört beispielsweise, Fortbildungen für Mitarbeitende anzubieten, Führungszeugnisse von angehenden Mitarbeitenden anzufordern und arbeitsvertragliche Regelungen zu vereinbaren.
Am Anfang der spezifischen Präventionsmaßnahmen steht die bereits erwähnte Risikoanalyse. Dabei werden strukturelle und arbeitsfeldspezifische Risiken des |43|Trägers und der Einrichtung analysiert, um daraufhin die bisherige Haltung der Einrichtung bzw. des Trägers und das bisherige Vorgehen in Risikobereichen zu beschreiben und Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge aussprechen zu können. Entsprechende spezifische Präventionsmaßnahmen können dann auf Basis der Risikoanalyse überlegt werden. Auch hierzu sind in den Leitlinien des Runden Tisches Mindeststandards formuliert, anhand derer individuell und den Bedürfnissen der jeweiligen Einrichtung entsprechend präventive Maßnahmen geplant und umgesetzt werden können:
Mindeststandards für die Erarbeitung eines Präventionskonzeptes
Jede Einrichtung sollte spezifische Angebote und Aufklärung für die jeweiligen Zielgruppen und Geschlechter leisten. Dazu gehören Workshops, Thementage und andere Formen der Aufklärung über Sexualität und sexuelle Gewalt für Kinder und Jugendliche. Wichtig ist hier vor allem die Erarbeitung von Schutzmaßnahmen mit den ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, denn letztendlich sind es die Erwachsenen, die verantwortlich sind für den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexueller Gewalt.
Außerdem sollten alle Beteiligten bei der Entwicklung und Durchführung von Maßnahmen, Verfahren und Angeboten partizipieren können. Weder den Kindern und Jugendlichen noch den Mitarbeitenden sollten einfach Regeln „von oben“ oder „von außen“ aufgestellt werden. Viel verständlicher und einprägsamer sind sie, wenn sie gemeinsam erarbeitet wurden. So wird auch die Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen gestärkt.
Kinder und Jugendliche sowie Eltern sollten über interne Beschwerdemöglichkeiten Bescheid wissen. Auch wenn es eine bestimmte Person gibt, die dafür zuständig ist, sollte den Kindern und Jugendlichen bewusst sein, dass sie sich mit ihren Problemen auch jeder anderen Fachkraft anvertrauen können.
Externe Ansprechpersonen müssen ebenfalls bekannt sein. Hier sollten die Nummer des Jugendamtes, einer insoweit erfahrenen Fachkraft, von telefonischen oder Online-Beratungsangeboten bekannt sein, da die Schwelle, sich an einen Mitarbeitenden der eigenen Einrichtung zu wenden, häufig besonders groß ist (vgl. hierzu auch die „Arbeitshilfe: Ansprechpersonen“ im Anhang auf Seite 94).
Die Trägerhaltung muss in der Gestaltung der Dienstverhältnisse regelmäßig deutlich werden, zum Beispiel indem das Thema sexuelle Gewalt nicht nur in den Einstellungsgesprächen thematisiert wird und Vereinbarungen im Arbeitsvertrag getroffen werden, sondern auch indem polizeiliche Führungszeugnisse regelmäßig angefordert werden. Durch entsprechende Routinen wird potentiellen Täter*innen demonstriert, dass hier keine Möglichkeit für Übergriffe besteht.
|44|Es gibt bereits zahlreiche Workshops zum Thema sexuelle Gewalt sowie Ideen und Anleitungen für die spielerische Gestaltung der Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Daher wird das im Rahmen dieser Orientierungshilfe nicht ein weiteres Mal beschrieben. Im Anhang des dieses Buches findet sich eine Liste mit...