Elternhaus (II)
Spielort meiner Träume. Träume, bei denen man mit dem Erwachen tief aufatmet: man hat sie hinter sich gebracht. Ein vierstöckiges Mietshaus in einer guten Gegend der Großstadt N.; Bürger, die es zu etwas gebracht hatten, oder auf dem Weg zur Solidität. Hierher waren meine Großeltern gezogen; hatten in der Gründerzeit ein Haus gebaut (oder hatten sie es gekauft?). Verschuldung auf Jahrzehnte; »Hypothek« war eine magisch-unheimliche Vokabel, die meine Kindheit bedrängte; nach neunzig Jahren war sie immer noch nicht abgezahlt; ich erhielt sie vom Vater, freilich auf wenige Tausend Mark zusammengeschrumpft, vererbt, habe sie dann gelöscht.
Dieses Haus also gehörte den Großeltern, später meinem Vater und seinen Geschwistern; ich habe es jedoch immer als ein fremdes Haus empfunden; man wohnte drinnen wie die anderen Parteien auch. Es passierte nicht viel in meinem Elternhaus. Traumata können eigentlich für die Träume nicht verantwortlich sein. Aber vielleicht weisen die Ritzen, die den bürgerlichen Grund durchziehen, auf ein brodelndes Tieferes hin.
Da war ein Ofen im vierten Stock, zwei Etagen über unserer Wohnung, geplatzt; kurz nach Weihnachten; offensichtlich hatte man den Weihnachtsbaum verschüren wollen; die Nadeln hatten zu viel Hitze entwickelt da war es geschehen. Wir gingen weg – hatten einen Besuch zu machen; die Fenster des unvorsichtigen Hausbewohners waren hell erleuchtet. Die Feuerwehr hatte nicht zu kommen brauchen; aber die Sache wurde jetzt wohl inspiziert; vielleicht gar von der Polizei.
Das Schreckliche hat oft eine ganz einfache Ursache. Unsere Wohnung hatte eine Reihe schöner Kachelöfen. Schon passierte es. Etwas Unvorsichtigkeit – schon tut sich ein Vulkan auf. Das Elternhaus bedeutete Geborgenheit. Aber konnte nicht auch bei uns geschehen, was im vierten Stock geschah? In die Luft fliegen … Man saß auf dem Pulverfass. Immer drohte Gefahr. Meine Mutter sagte: Da kann etwas passieren; sei vorsichtig; Unheil bahnt sich an; geh ihm aus dem Weg! Mit Gründlichkeit wurden die Ängste anerzogen; nichts war so sicher, dass es nicht auch unsicher sein konnte. Walter Benjamin hat in seinen Kindheitserinnerungen davon gesprochen, dass immer und überall ein »bucklicht Männlein« stand, das auf Verderben sann. Das dunkle Stiegenhaus war ein Pandämonium; ich verriegele doch ganz fest die Korridortür; vergebens; die Tür fliegt auf, die dunkle Nacht dringt herein und mit ihr der Einbrecher. Denn dieser lauert ständig. Schließ gut zu. Mach nicht auf. In den Träumen so vieler Jahrzehnte darnach die Türen, die der Sog der Bedrohung aufreißt.
Bald explodierten Bomben. Die leere Nacht, gefüllt mit dem durchdringenden Auf- und Abschwellen der Sirenen. Darauf wartete man stündlich. Die Kleider lagen genau geordnet auf dem Stuhl. Damit man rasch, wie im Schlaf, sich anziehen konnte. Doch wenn die Sirene ertönte, war man hellwach. Solche Töne reißen einen aus dem tiefsten Schlummer. Mein Vater, der Luftschutzdienst in einem benachbarten Schulhaus tun musste, hatte uns im Schutzraum – Kapazität 18 Personen, dazu Feuerpatsche, Löschsand, Wassereimer – einen ganz bestimmten Platz angewiesen: dort, wo die Decke als Gewölbe gemauert, deshalb stabiler, tragfähiger war, wenn die Schuttmassen auf uns herunterfielen. Er würde dann von außen nachgraben, wenn es ihn nicht selbst verschüttet hatte. Viele Abschiede; »Behüt dich Gott« – meine Mutter mit Tränen in den Augen; dann schlossen sie sich wieder glücklich in die Arme, nach der Entwarnung. Erneut Alarm. Bombeneinschläge, die immer näher kamen. Die Mitglieder der Hausgemeinschaft, in Decken und Mäntel gehüllt, Katakombengestalten, dazwischen ein kleiner elektrischer Heizofen; nun ging das Licht aus – die Kerzen erinnerten mich an Weihnachten, auch wenn ich vor Angst schlotterte; Singsang von Beschwörungsformeln: nur nicht näher, nur nicht hierher, es wird schon wieder ferner; in der Tat: leiseres Geknalle. O die ruhigen Nächte der Friedenszeit. Sich ins Federbett einschmiegen; die Wärmeflasche an den Füßen; Wärmestrom, der von unten her ins kalte Linnen ausstrahlt; dieser Augenblick des Versinkens in den Schlaf, der dir ein glückliches Aufwachen verheißt. Und war man krank – der Doktor hatte die Eltern beruhigt; sie schauten dennoch jede Stunde ins Zimmer; es geht schon besser; die fieberheiße Stirn wird befühlt – schon kühler: aus dem Tapetenmuster steigen wirre Gestalten hervor. Am nächsten Morgen ist die Temperatur auf 37 Grad gesunken. Meine Mutter, die auch keine heitere Gelegenheit für ein paar Tränen ausließ, weint ein bisschen. Gott sei Dank.
Nächtliches Aufschrecken. Doch keine Fieberphantasie. Hell erleuchtet die rückwärtigen Räume der Nachbarhäuser; Schreien; zersplitterndes Glas. Möbelstücke und Geschirr fliegen herunter und zerschellen auf dem Pflaster. Fliegen da nicht auch Menschen herunter? Nein, hier geschieht das nicht. Auf den langen Balkonen, die sich, jeweils von der Küche ausgehend, um die rückwärtigen Zimmer zogen, geflüchtete Menschen; zusammengedrängt, wie wenn ein Brand sie aus dem Innern vertrieben hätte. Zusammengeknäult. Dann drohende braune Uniformen. Grölen. Saujuden!
Man zog mich vom Fenster. Diesmal weinte mein Vater. (Vor ein paar Wochen erhielt ich wieder einmal Post von einer alten Schülerin meines Vaters: er habe ihr, der Verfolgten, Trost zugesprochen; Schulbücher, die ihre Mutter nicht mehr kaufen konnte, gezahlt; sie wolle gerne sein Grab aufsuchen.)
Man zieht mich vom Fenster. Am nächsten Mittag, nach dem Essen, schließen sich meine Eltern im Arbeitszimmer ein; beratschlagen. Was denn? Der Vater: in den Spiegel könne er eigentlich nicht mehr sehen; sich nicht mehr ansehen; er sei feig. Ach, sag nur nichts. Du bist nicht bei der Partei. Dich holen sie auch. Händeringen der Mutter. Er sagt nichts. – Sehe ich dann im Krieg einen der verbliebenen jüdischen Nachbarn mit dem gelben Stern, gehe ich auf die andere Straßenseite. Er wird mir doch nicht ins Haus folgen? Mich um Mitleid bitten? Was soll ich denn tun? Die Tür fest zumachen. Denn ich kann doch nicht helfen. Man sagt, wenn Luftalarm ist, müssen sie oben bleiben. Um nicht die Reinrassigen im Keller zu belästigen. Die armen Judenkinder, klagt meine Mutter.
Nach dem Mittagessen brach der Streit aus. Oder nach dem Abendessen. Ich kauerte mich in eine Sofaecke. Mein Vater rannte von einem Zimmer ins andere, meine Mutter folgte ihm schluchzend, aber beharrlich; er schrie auf, sie schrie auf; doch wie es gekommen, ging es auch vorüber; die Versöhnung war noch etwas vom Wetterleuchten durchzuckt; dann schöne, beruhigte Nachgewitterzeit; Wolken am Horizont, aber abgezogen.
Meine Eltern machten sich nicht zu oft »Szenen«; aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Eifersucht meiner Mutter mag jeweils für die Auslösung des Konflikts gesorgt haben; oder aber mein Vater war nervlich wieder einmal fertig: man hatte ständig auf seine Nerven Rücksicht zu nehmen. Ich ziehe mich zurück, in eine Ecke, in eine Nische, wenn durch die Zimmerflucht die schreienden Eltern jagen. Oder gehe in die Küche, zum Dienstmädchen, das von gar nichts etwas weiß und ein Lied singt, damit man nichts vom Streit hört. Bald darauf kommt meine Mutter mit geröteten Augen, aber glücklich lächelnd und kocht Tee. Hoffentlich kommt nicht bald wieder ein Brief von einer Schülerin, die meinen Vater anhimmelt!
Wie gesagt, es gab viele Zimmer. Das vordere Esszimmer (für mehr festliche Gelegenheiten) und das hintere (für den Alltag); das Arbeitszimmer; die beiden Schlafzimmer; eine Schlafkammer. Die war dann jahrelang mein Zimmer; zu einer Zeit, da die Wohnung mit zwei weiteren Familien belegt war. Nach der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung, als die Trümmerjahre vorüber waren, stand die Wohnung wieder ganz zur Verfügung. Für zwei Leute war das schon sehr viel. Jetzt möchte ich schöner wohnen, sagte meine Mutter und richtete sich alles »Chic« ein. – Es war eine Qual, eine solche Wohnung auflösen zu müssen.
Ich kann kaum atmen, wenn mich der Alptraum in die Gegenständlichkeit der elterlichen Wohnung treibt. Die Kleider, die noch im Schrank hängen. Die »Ausstattung« – die vielen Bettüberzüge und Tischdecken und Servietten. Und das Silber. Und das Bild über der Servante. Eine Voralpenlandschaft Die Heiterkeit des Vorfrühlings. Meine Eltern genossen den Nachsommer. Fuhren mit ihrem Volkswagen in die Berge. Die Pensionsinhaberin eine ehemalige Schülerin. Aber die Eifersucht war längst vergangen.
Von meiner Schlafkammer wollte ich sprechen. Ich war privilegiert. Hatte inmitten der rigorosen Einschränkungen, wie sie Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich brachten, immerhin ein eigenes Zimmer. Ein Bett und einen Schrank, der mit viel Überflüssigem – gerade das hatte die Bombennächte überstanden – voll gestopft war. Außerdem gab es einen Kanonenofen. Mein Vater fand immer etwas Brennbares, eventuell alte Bücher, mit dem er uns den Winter 1945/46 überstehen ließ. Er schürte ihn am späten Vormittag an und ließ ihn am Nachmittag ausgehen. So hatte ich nachts noch etwas Wärme.
Im selben Raum gab er im Laufe des Tages ein paar Privatstunden. Da zog ich mich in die Küche zurück, wo meine Mutter ständig beschäftigt war, irgendetwas Essbares »herzustellen«. Etwas aus Buttermilch, so etwas Ähnliches wie Quark. Aus Futterrüben kochte sie Sirup. Wenn das Gas nicht abgedreht war.
Als es Frühling wurde, rezitierte mein Vater Frühlingsgedichte. Ein Streifzug durch die deutsche Literatur. Dieser unversiegbare Quell. Dieser Brunnen erhabener Denkungsart, lieblicher...