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E-Book

Und hätte die Liebe nicht

50 Jahre in Pakistan

AutorRuth Pfau
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783451336409
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Pakistan und Afghanistan - die gefährlichsten Regionen der Welt. Ruth Pfau, Lepraärztin und katholische Ordensfrau war im Untergrund in Afghanistan als das Land noch von den Russen besetzt war. Sie kennt Pakistan Land von innen und außen wie kaum jemand anderer. Zu Fuß, mit dem Jeep, auf dem Rücken von Pferden und Kamelen hat sie das wilde, zerklüftete, wüstenhafte Land durchstreift, nach Kranken gesucht,Hilfe geleistet - und die Lepra ausgerottet. 1997 wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert. Sie berichtet von der Faszination des Islam, von seiner Fähigkeit zur Mystik, dem geistlichen Hunger, der 'nicht vom Brot allein' gestillt werden kann. Aber auch von seinen Abgründen. Ihr eigener Glaube an einen unbegreiflichen Gott ist von unvorstellbaren Erfahrungen menschlichen Leids und menschlicher Grausamkeit gesättigt, die sie am Ende nur noch überwinden kann mit einem 'Dennoch gegen die Angst'. In diesem Buch zieht die 80jährige nach 50 Jahren die Bilanz eines aufregenden Lebens.

Ruth Pfau, Dr. med., geb. 1929 in Leipzig, seit 1960 Lepraärztin in Pakistan. 1981 erstmals im Untergrund in Afghanistan, wo sie einen Gesundheitsdienst aufbaute. 2002 Magsaysay-Award ('asiatischer Nobelpreis'), 2004 Goldmedaille des Albert-Schweitzer-Preises, 2005 Dönhoffpreis.

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Leseprobe

Bilder der Erinnerung


Die Naturwissenschaften sagen, dass der Mensch nie etwas vergisst. Was einmal in unserem Gehirn ist, das bleibt drin, das bekommen wir nicht mehr raus. Manches vergisst man. Manches kann man sich wieder ins Gedächtnis rufen. In meiner Erinnerung sind vor allem Begegnungen mit Menschen aufgehoben.

 

Es begann im Aussätzigencamp in Karachi. Dort habe ich vor 50 Jahren mit einigen Mitschwestern angefangen zu arbeiten. Ich erinnere mich noch sehr genau an einige Patienten, an Mitarbeiter weniger.

Abdullah, den wir nicht retten konnten


Bei einem unserer ersten Patienten hatten wir mit den damaligen Mitteln der Diagnostik eine Nierenerkrankung festgestellt. Er war nicht mehr als 30 Jahre alt und ist ganz schnell gestorben, ohne dass wir ihm helfen konnten. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, welche Krankheit er wirklich hatte, habe es aber nicht herausgefunden. Wir hatten damals keine Möglichkeit zum Röntgen. Wir konnten nur ein paar Tests machen, das war alles. Es hat mich ziemlich mitgenommen, dass wir ihn nicht retten konnten. Sehr erstaunt war ich, dass die Patienten des Camps auf Abdullahs Tod mit der Bemerkung reagierten, dass noch nie jemand so schön gestorben sei wie er: umsorgt und betrauert. Ich dachte mir: Das ist auch gut, das ist etwas, was wir immer machen können, in jedem Fall besser, als gar nichts tun zu können.

Dhamandra – die Überquerung des Flusses


Es war auf dem Weg von Gilgit nach Dhamandra, einem Dorf hoch im Himalaya. Wir mussten den Indus überqueren, einen reißenden Fluss oben in den Bergen. Eine Brücke gab es nicht. Nur eine Kerahla führte hinüber. Eine Kerahla ist ein Sitz-Brett, das an einem Seil hoch über den Fluss gezogen wird. Das aber war keine Kerahla an einem Drahtseil, sondern an einem Wollseil. Abdullah, einer meiner besten Mitarbeiter in den Anfangsjahren, wollte nicht, dass ich es als Erste versuchte. „Ich gehe erst mal allein, um zu sehen wie und ob es überhaupt zu machen ist“, schlug er vor. Es war zu machen. Er und dann ich schafften es, und es ist uns nichts passiert.

Der Weg nach Dhamandra war weit und steil. Ich fragte, ob es denn kein Pferd gebe, denn eine so lange Kletterei sei schwierig für mich. Damals hatte ich schon meinen Herzklappenfehler, wusste es aber noch nicht. Abdullah lachte. Kein Kommentar. Dann marschierten wir los. Es dauerte nicht lange, bis ich verstand: Ein Pferd hätte das nie geschafft! Vor dem Rückweg hatte ich Angst. Rückwege im Gebirge sind auch nicht gefährlicher als Aufstiege, aber man kennt die Risiken besser. Wir mussten aber heimkommen, und das bald: Es fing an zu schneien. Der Gedanke, den Winter über in Dhamandra festzusitzen, ohne Bücher, ohne Computer, war schlimmer, als sich den Rückweg mit all seinen Gefahren vorzustellen.

 

Wenn ich heute nach Gilgit fahre, bin ich froh, dass die Zeit vorbei ist, in der ich den Bergen auf diese Weise ausgesetzt war. So sehr ich natürlich damals die Schönheit und das Abenteuer genossen habe! Aber ich bin im Grunde weder sportlich noch sonstwie heroisch veranlagt.

Die schlaflose Angstnacht


In meinem Leben habe ich so viel berechtigte Angst ausgestanden, dass ich einfach nicht alles verdrängen und verdauen konnte. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich fast meine Fassung verloren hätte. Es war im Kaghan-Tal im hohen Norden. Wir kamen spät abends in einem Dorf an. Die Leute hatten mich in einem Haus untergebracht, in dem sonst keiner wohnte. Nachts habe ich immer Angst, auch heute noch. Das kommt von den Bombennächten im Krieg und wird sich auch nicht mehr geben, solange ich lebe. Ich konnte die Türen in diesem Haus nicht richtig abschließen und es gab Geräusche, die ich nicht einordnen konnte, weil ich sie nicht kannte. Eigentlich wollte ich erst einmal ins Freie, um der Sache nachzugehen und herauszufinden, woher die Geräusche kamen, dann wäre ich beruhigt gewesen. Aber das konnte ich im Dunkeln nicht. Diese schlaflose Angstnacht werde ich nie vergessen.

Danach habe ich mir selbst gesagt: Du bist verrückt! Warum hast du den Leuten nicht offen gesagt, dass du das nicht willst und nicht kannst? Warum hast du nicht darum gebeten, in einem Haus bei Leuten zu schlafen, oder dass jemand für diese Nacht ins leere Haus kommt und dort schläft? Ich habe das damals nicht gemacht, weil ich ein falsches Ideal von Unverletzlichkeit hatte. Zu bitten, dass man etwas für mich tut, ist mir immer schwer gefallen. Es fällt mir heute noch schwer.

Der Trost des knarrenden Bettes


Ähnlich war es dann noch einmal in einem Tal ganz nahe an der Grenze zu Kaschmir. Im Haus war so eine Art Kamin, der offenbar im Winter geheizt wurde. Durch den fauchte die ganze Nacht der Wind hindurch. Ich fühlte mich schrecklich ausgesetzt. Einer meiner Mitarbeiter hatte das wohl bemerkt und holte sich eines dieser in Pakistan üblichen, geflochtenen Bettgestelle, einen Charpoy, in das Nebenzimmer. Dieses Bett knarrte jedes Mal unsäglich, wenn er sich umdrehte oder sich bewegte. Aber das störte mich überhaupt nicht. Denn es war das beruhigende Zeichen, dass ein Mensch da war. Das genügte.

Karakorum-Highway


Unvergesslich bleiben die frühen Fahrten auf dem Karakorum-Highway. Das waren pure Angststrecken. Nicht ohne Grund. Bei den mehr als abenteuerlichen Straßenverhältnissen und dem Streckenverlauf durch die Indusschlucht. Wenn man oben heil ankam, war man jedes Mal erstaunt, dass es wieder gut ausgegangen war. Natürlich wurden unterwegs auch nur die Gruselgeschichten von den Fahrten erzählt, die nicht gut ausgegangen waren. Das waren die Geschichten von den Bussen, die bei den plötzlich auftretenden Bergrutschen mit in die Indusschlucht hinunter gerissen worden sind. Niemand hat dann auch nur die Überreste gefunden oder jemanden lebend herausholen können.

 

Damals habe ich das nicht reflektiert. Heute, nach fünfzig Jahren Reisen durch das wilde Land, frage ich mich: Warum waren es immer die anderen? Warum ist mir nichts Ernstliches widerfahren? Damals war ich nur damit beschäftigt, durchzukommen. Ich fühlte mich gegenüber meinem Team verpflichtet, keine Angst aufkommen zu lassen oder zu zeigen. Denn nichts ist so ansteckend, wie wenn jemand auf einer solchen Straße im Jeep Angst bekommt! Das ganze Team ist dann einsatzunfähig. Dann kann man wieder umkehren. Das geht jedoch auch nicht. Aber das hat mich damals keine Kräfte gekostet. Ich habe es genossen!

Immer die Flucht nach vorn


Ich wollte unbedingt nach Waras, einem Dorf in Zentralafghanistan. Warum, wusste ich nicht. Irgendwann muss ich einmal Patienten aus Waras gehabt haben. Wir waren kurz vor dem Ziel, mussten aber die letzte Nacht davor in einem anderen Dorf zubringen. Dort wurden wir herausgerufen zu einem Patienten. Die Mudschaheddin, also die sog. Freiheitskämpfer, haben uns aber nicht erkannt als jemand, der von ihnen gerufen wurde. Sie begannen auf uns zu schießen. Wir sind nur ganz knapp dem Kugelhagel entkommen. Da wollte das Team dann nicht mehr weiter. Wir hatten vorher ausgemacht: Wenn einer Nein sagt und sechs sagen Ja, dann gilt die Neinstimme. Einige wollten wirklich nicht mehr weiter. Sie fragten: „Warum müssen wir denn unbedingt nach Waras?“ Da ging mir auf: Nur weil ich wollte! Also sind wir zurückgefahren!

Beim nächsten Mal sind wir dann bis nach Waras gekommen. Damals hat mir das eben Spaß gemacht. Ich gehörte zu den Menschen der Generation, die sich sowieso ihre Kicks verschafft hätte. Dankbar bin ich dafür, dass mir mein Leben diese Möglichkeit zu sinnvollen Highs verschafft hat. Verschafft hätte ich sie mir auf alle Fälle!

Sympathie für das Risiko


Ich habe eine ausgeprägte Sympathie für das Risiko. Sonst hätte ich das Leben nicht leben können, das ich gelebt habe. Meine Fähigkeit zum Risiko und meine Risikoneigung haben mich immer angetrieben. Im Rücken dieser Neigung zum Risiko standen die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Ich bin eben nicht in einem Klima der Geborgenheit aufgewachsen.

 

Der Herrgott, mein Partner, war dabei, nicht nur in meinem Rücken, sondern rundum. Er war mit mir auf dieser Flucht nach vorn. Dabei hat er mich an seiner Hand gehalten. Das war meist eine Erfahrung entgegen allen Erwartungen. Erwartet habe ich immer Katastrophen. Ich bin nie ins Bett gegangen, ohne die Fluchtwege festzulegen und ohne zu überlegen, wie wir im Falle einer Katastrophe entkommen könnten. Für den Fall, dass jemand angreift, dass Feuer ausbricht oder die Erde zu beben beginnt. Nie habe ich schlafen können, wenn die Tür nicht richtig verrammelt war. Ich konnte im Freien schlafen, wenn vier oder fünf Betten um mich herum aufgebaut waren. Das war etwas anderes. Ich war verliebt in die Überwindung von Angstsituationen.

Mein Traum: das Elend wirklich abschaffen


Angefangen hat alles in Pakistan mit dieser spontanen und stark emotional motivierten Reaktion auf das Elend in der Lepra-Kolonie in Karachi. Da ich ein Kriegs- und Nachkriegskind bin, habe ich immer davon geträumt, irgendwo auf der Welt irgendwelches Elend abschaffen zu können, wirklich abzuschaffen. In Karachi bot sich mir...

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