Im germanistischen Studium geht es um Texte: Texte lesen und verstehen, über Texte sprechen, über Texte neue Texte schreiben. – Im folgenden Kapitel steht zunächst die wissenschaftliche Praxis des Lesens im Mittelpunkt: Sie werden schnell merken, dass sie sich von der alltäglichen Lektürepraxis unterscheidet.
Alles fängt damit an, dass es nicht gleichgültig ist, welche Ausgabe eines Textes Sie verwenden.
1. An einigen Beispielen werden Sie sehen, warum Sie sorgfältig auswählen müssen.
2. Anschließend stelle ich Ihnen die drei wichtigsten Typen von Ausgaben vor.
3. Danach erhalten Sie einen kurzen Einblick in das Lesen von Handschriften, um selbst nachvollziehen zu können, wie schwer das Entziffern manchmal ist.
4. Und weil es im Studium immer wieder Gelegenheiten gibt, bei denen man Texte in der alten deutschen Schrift, der Frakturschrift, lesen können muss, bekommen Sie auch hierzu eine kurze Einführung. Ich bin sicher, dass Sie auch solche Texte schnell problemlos lesen können, selbst wenn Sie bisher noch keine Erfahrungen damit gemacht haben.
5. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels ist dem Lesen wissenschaftlicher Texte gewidmet, denn auch dafür gibt es eine Reihe von nützlichen Hinweisen.
1Unterschiede zwischen Textausgaben
Auf den ersten Blick ist Lesen sehr einfach: Sie nehmen ein Buch, etwa GOETHEs Faust, schlagen es auf und fangen an zu lesen. Man macht sich selten bewusst, wie viel von diesem Griff zum Buch abhängt: Beim wissenschaftlichen Umgang mit Literatur müssen Sie sicher gehen, dass Sie den Text, über den Sie eine Aussage machen wollen, auch vor sich haben. Die Gestalt des Textes kann aber von Ausgabe zu Ausgabe variieren, abhängig von den Entscheidungen der Herausgeberin oder des Herausgebers. Manchmal wählen sie verschiedene Fassungen, manchmal greifen sie in den Text ein. Außerdem variieren, je nach Ausgabe, die Qualität und der Umfang der zusätzlichen Informationen.
Bevor ich Ihnen unten die drei wichtigsten Typen von Ausgaben vorstelle und sage, wie man eine zuverlässige und ‚zitierfähige’ Ausgabe findet, will ich Ihnen an einer Reihe von Beispielen vorführen, dass Unterschiede zwischen Ausgaben nicht selten sind und dass solche Unterschiede weitreichende Konsequenzen für mögliche Interpretationen haben können. Zunächst geht es um Winzigkeiten im Text, ein Apostroph oder ein Komma, die eine große Wirkung haben können. Es gibt außerdem Texte, die in verschiedenen Fassungen vorliegen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden; und schließlich gibt es Überlieferungssituationen, in denen man weder von Fassungen noch überhaupt von einem ‚Text’ im geläufigen Sinn sprechen kann.
1Kleine Unterschiede: Apostroph und Komma
Das erste Beispiel sind die berühmten Schlussverse von GOETHEs Faust. Am Ende der Handlung, nach seinem Gang durch die ‚große’ und ‚kleine Welt’, wird Faust von den rettenden Engeln mit Gesang in höhere Sphären getragen. Die letzten Verse, die der Chorus mysticus singt, lauten:
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das ewig Weibliche
Zieht uns hinan.
(Faust II, Vv. 12108–12111)
So steht es zum Beispiel in der Ausgabe des Reclam-Verlags. ERICH TRUNZ, der Herausgeber der Hamburger Ausgabe von GOETHEs Werken, hat in seinem Kommentar zu diesen Versen geschrieben: „In diesem Gefüge darf es keine Unregelmäßigkeit, kein Holpern geben. Nur wenn man beim Sprechen diese Harmonie Klang werden lässt, symbolisiert die Form den Ausklang, die Läuterung, welche durch die ganze Szene sich steigert und hier ausklingt.“ Und tatsächlich: Wenn Sie die Stelle laut lesen, werden Sie merken, dass sie wirklich harmonisch klingt. Das Ganze ist ein regelmäßiger daktylischer Rhythmus mit ein paar Pausen. Die vier Verse lassen sich in zwei Verspaare teilen, die metrisch gleich gebaut sind (Isometrie). Die These von TRUNZ, dass die Sprache hier einen Prozess der ‚harmonischen Läuterung’ formal noch einmal beglaubigt, erscheint auf den ersten Blick also durchaus überzeugend. – Erstaunlich ist allerdings, dass diese Stelle in Goethes letzter eigenhändiger Handschrift des Faust, nach der sich eigentlich alle Ausgaben richten, gar nicht so regelmäßig klingt. Die Verse lauten dort:
Das Unbeschreibliche
Hier ist es getan;
Das ewig Weibliche
Zieht uns hinan.
Wenn Sie diese Fassung mit der anderen Fassung aus dem Reclam-Heft vergleichen, werden Sie den Unterschied schnell entdecken: Dort steht im zweiten Vers „Hier ist’s getan.“ Im Original ist das Verb aber nicht auf diese Weise mit dem Pronomen „es“ zusammengezogen, und darum liest sich die Stelle rhythmisch auch nicht so reibungslos wie angenommen, sondern ‚holpert’ doch. Offenbar haben die Editoren also in den Text eingegriffen und eine Verbesserung vorgenommen. Sie haben sich dabei auf ein anderes Manuskript gestützt: auf eine frühere Abschrift des Faust, die ein Schreiber in GOETHEs Auftrag angefertigt hatte. Die Entscheidung, an dieser Stelle auf das andere Manuskript zurückzugreifen, ist offenbar ästhetisch motiviert. TRUNZ gibt darüber in seinem Stellenkommentar auch Auskunft: „Es kommt darauf an, dass Vers 12109 klanglich genau dem Schluß-Vers Zieht uns hinan entspricht.“ Die harmonischere Fassung erscheint TRUNZ darum plausibler. In einer späteren Ausgabe, die der Editor ALBRECHT SCHÖNE hergestellt hat, ist die originale Schreibung beibehalten (SCHÖNE hat sich streng an GOETHEs eigene Handschrift gehalten und über 3000 von diesen Satzzeichen und 500 andere Eingriffe rückgängig gemacht, die in anderen Ausgaben zu finden sind). Und er gibt auch eine alternative Deutung für die Stelle: So wie TRUNZ dem regelmäßigen Rhythmus große Bedeutung beigemessen hatte, legt SCHÖNE jetzt Wert auf das Unregelmäßige. Es soll als Ausdruck dafür zu verstehen sein, wie ‚unbeschreiblich’ die Erlösungshandlung ist, die auf der Bühne vorgeführt wird.
Ein Apostroph und ein Buchstabe mehr oder weniger können also unter Umständen darüber entscheiden, wie plausibel eine Interpretation ist – und ob man den Text mit oder ohne Apostroph vor sich hat, hängt von der verwendeten Ausgabe ab. Wenn man in solchen Fragen sicher gehen will, dann muss man eine ‚historisch-kritische Ausgabe’ verwenden, die darüber informiert, welche Varianten es zu einer Textstelle gibt (Sie finden Angaben dazu unten im Abschnitt über die drei Typen von Textausgaben).
Solche bedeutsamen ‚kleinen Unterschiede’ wie der Apostroph in GOETHEs Faust sind gar nicht selten. Man könnte etwa auch auf die eigentümliche Praxis der Interpunktion im Werk HEINRICHs VON KLEIST (1777–1811) verweisen: Seine Sätze sind voll von Kommata und anderen Satzzeichen. Das liegt oft daran, dass KLEIST sich mit seinen überaus verschachtelten Formulierungen an der Darstellung einer komplexen und vielfach verworrenen Wirklichkeit versucht. An manchen Stellen setzt er einfach mehr Satzzeichen als syntaktisch nötig, an anderen Stellen setzt er zu wenige. Manche Herausgeber haben darum auch hier eingegriffen und versucht, den Text nach modernen Regeln zu ‚normalisieren’, so dass syntaktische Einheiten klarer zu erkennen sind. Der erste Satz der Erzählung Michael Kohlhaas etwa ist in der Erstausgabe durch fünf Kommata strukturiert, in anderen Ausgaben sind es nur noch zwei. Die Texte werden auf diese Weise lesbarer, aber gleichzeitig ist dadurch auch eine Eigenheit von KLEISTs Stil verwischt worden: Er verwendet die Zeichensetzung eben nicht nur zur Kennzeichnung syntaktischer Einheiten, sondern eher wie musikalische Phrasierungszeichen, die zum Beispiel Beschleunigung oder Stocken der Rede anzeigen können, so dass manche Wörter auch semantisch stärker betont werden als andere. Der Umgang mit KLEISTs Satzzeichen hat also auch hier Konsequenzen für mögliche Interpretationen.
2Texte in verschiedenen Fassungen
Neben diesen kleinen Unterschieden, die nur auf den ersten Blick unbedeutend sind, gibt es natürlich auch größere Unterschiede zwischen Textfassungen, die noch schneller ins Auge springen. Ein gutes Beispiel dafür ist GOETHEs Roman Die Leiden des jungen Werthers aus dem Jahr 1774, der zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Romanen der deutschen Literaturgeschichte zählt. Er hat die Epoche des ‚Sturm und Drang’ mit begründet und ein wahres ‚Wertherfieber’ im Lesepublikum ausgelöst. Gerade deshalb hat die zeitgenössische Öffentlichkeit den Roman auch mit Argwohn betrachtet: Es schien, als lade er insbesondere die Leser auf...