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E-Book

Unsere Grundrechte

Welche wir haben, was sie bedeuten und wie wir sie schützen

AutorGeorg M. Oswald
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783492990639
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Wir halten uns für kritische, aufgeklärte Bürger, die ihre Rechte kennen. Doch wenn wir unsere Grundrechte aufzählen sollen, geraten wir ins Stottern. Das ist fatal. Denn in Zeiten, in denen Rechtspopulismus wieder salonfähig wird und die Demokratie in vielen Staaten wankt, brauchen wir die Grundrechte mehr denn je. Dieses Buch ist kein juristischer Kommentar, keine Staatsbürgerkunde, schon gar keine Sonntagsrede, sondern ein Realitätscheck: Was versprechen die Grundrechte? Und was davon halten sie? Welche Grundrechte haben wir, wozu berechtigen sie und wozu nicht? Georg Oswald zeigt: Unsere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Wir müssen sie schützen. Und wir schützen sie am besten, wenn wir sie nicht zu Lippenbekenntnissen verkommen lassen, sondern sie anwenden, jeden Tag.

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet als Schriftsteller und Jurist in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.

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Leseprobe

»Würde ist die konditionale Form von dem, was einer ist.« – Die Menschenwürde und die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte


»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Der erste Satz des Grundgesetzes ist vermutlich der bekannteste deutsche Gesetzestext. Diese Bekanntheit ist ein wenig trügerisch, denn wenn man den Satz näher betrachtet, stellt man fest, dass er eher Rätsel aufgibt, als etwas zu erklären. Im Vorwort habe ich angedeutet, was er, ins Allgemeinverständliche übersetzt, bedeuten soll: Jeder hat ein Recht darauf, anständig behandelt zu werden. Doch diese »Übersetzung« kann nicht mehr als eine erste Orientierung geben.

In Deutschland gelten etwa zweitausend Bundesgesetze, Abertausende Landesgesetze und Zehntausende von Rechtsverordnungen. Hinzu kommen internationale Gesetze und Verträge, etwa die Rechtsverordnungen der EU oder Handels- und Militärabkommen mit anderen Staaten, und alle diese Regelwerke enthalten Hunderte und Tausende von Vorschriften. Wären sie alle gleichrangig, ergäben sie keine perfekt durchorganisierte Ordnung, sondern ein heilloses Durcheinander.

Da in der Hierarchie der Gesetze das Grundgesetz den höchsten Rang einnimmt und sein erster Artikel die wichtigste Regel formuliert, die unser Recht kennt, müssen sich alle Gesetze, die in Deutschland gelten oder neu geschaffen werden, an diesem ersten Artikel messen lassen.

Doch es ist seltsam: Je öfter man den Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« liest, desto weniger verständlich erscheint er einem. Was soll er denn eigentlich heißen?

Man kommt ihm nur bei, indem man ihn Wort für Wort betrachtet. Beginnen wir mit den bestimmten Artikeln »die« und »des«. In ihnen steckt schon, dass jeder Mensch Würde hat, und zwar gleich viel, ohne Ansehen der Person, und dass Würde etwas Absolutes ist, das sich nicht relativieren lässt. »Des« Menschen bedeutet: jedes Menschen, ohne Ausnahme. Alles, was uns normalerweise einladend erscheint, um zwischen Menschen zu differenzieren, Hautfarbe, Religion, Herkunft, Sprache, soll im Hinblick auf ihre Würde also keinen Unterschied machen.

In den ersten sechs Worten des Grundgesetzes ist ein ganzes Menschenbild formuliert. Es ist radikal egalitär.

Wir neigen einerseits dazu, seine Behauptung für eine Selbstverständlichkeit zu halten – natürlich werden alle Menschen gleich an Rechten und Würde geboren –, aber wenn wir uns nur ein wenig Zeit nehmen, unseren Alltag zu betrachten, müssen wir zugeben, dass wir andererseits permanent damit beschäftigt sind, einander zu bewerten. Dies verletzt nicht notwendigerweise die Menschenwürde, doch es zeigt, dass schon diese erste, scheinbar einfache Formulierung des Grundgesetzes einen nicht unwesentlichen utopischen Anteil enthält, einen Anteil, der erst noch verwirklicht werden muss.

Das Substantiv »Mensch« scheint auf den ersten Blick unmissverständlich. Um die Frage, ab wann ein Mensch als Mensch gilt, wird jedoch erbittert gestritten. Genießt schon die befruchtete Eizelle den Schutz der Menschenwürde? Oder erst der geborene Mensch? Oder doch schon der Fötus? Und falls ja, ab wann genau?

Welche Festlegungen einem hier auch immer als zutreffend erscheinen mögen, man wird zugeben müssen, dass sie genauso willkürlich sind, wie sie erscheinen. Wie verhält es sich mit Menschen, die kein Bewusstsein mehr haben? Und was ist mit den Toten? Und ab wann ist jemand tot?

Zu all diesen Fragen gibt es Gerichtsentscheidungen und Lehrmeinungen. Aber wichtiger, als diese Urteile und Ansichten zu kennen (man kann sie zum Beispiel auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts in den dort abrufbaren Entscheidungen nachlesen), ist es, sich bewusst zu machen, dass noch das scheinbar selbstverständlichste aller Wörter der Auslegung und Interpretation bedarf. Diese Arbeit sollten wir, die Bürger, uns selbst machen und sie nicht ausschließlich den Juristen überlassen, denn die Folgen treffen uns unmittelbar.

Das gilt erst recht für Begriffe, die im Alltag weniger gebräuchlich sind, wie zum Beispiel »Würde«. Ein Wort, das wenig konkret klingt, altertümelnd, vielleicht sogar ein wenig pompös. Genau darüber machte sich derjenige lustig, von dem das Zitat in der Überschrift zu diesem Kapitel stammt, der Wiener Satiriker Karl Kraus.

Sein Bonmot legt nahe, dass es mit der Würde des Menschen nicht so weit her ist, wie dieser gern von sich selbst annimmt. Den Gegenbeweis wird man wohl kaum führen können. Es ist aber dennoch möglich, den Begriff der Würde aus der Sphäre des Unverbindlich-Festlichen zu befreien und ihn mit einer nachprüfbaren Bedeutung zu versehen.

Nahe liegt es, zu sagen: Würde ist das, was den Menschen zum Menschen macht: die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zur Vernunft, sein freier Wille, seine Freiheit, Entscheidungen zu treffen und seine Identität zu bestimmen.

Das klingt zunächst einmal nicht schlecht. Doch sofort drängen sich Fragen auf: Was ist mit den Menschen, die zu Selbstbestimmung und Vernunft nicht fähig oder die nicht bei Bewusstsein sind? Demenzkranke oder Komapatienten beispielsweise haben ihre Vernunft und ihre Entscheidungsfreiheit eingebüßt, aber sind es nicht gerade sie, die ganz besonders auf den Schutz ihrer Würde angewiesen sind?

Es muss also noch etwas Weiteres hinzukommen, nämlich die Anerkennung durch die anderen. Nur, wenn wir uns gegenseitig als freie und gleiche Menschen anerkennen, entfaltet der Begriff der Würde eine gesellschaftliche Wirkung. Daraus erwächst auch die menschliche Verpflichtung in einer Gesellschaft, füreinander zu sorgen.

Die Achtung der Würde des Menschen betrifft somit im Wesentlichen drei Aspekte: den Schutz seiner Individualität, seine prinzipielle rechtliche Gleichbehandlung und die Sicherung seines Überlebens.

Wenn dies die drei wesentlichen Aspekte der Menschenwürde sind, liegt auf der Hand, dass sie permanent und überall auf der Welt bedroht und auch verletzt werden. Diktaturen wie in Nordkorea verteufeln die Individualität, rechtliche Gleichbehandlung erscheint fast überall auf der Welt bestenfalls ein – bisher unerreichtes – Ziel, und die Sicherung des Überlebens, gar ein menschenwürdiges Existenzminimum entbehren unzählige Menschen.

Wie kommt also das Grundgesetz zu der schon beinahe ungeheuerlichen Behauptung: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«? War den Autoren nicht klar, was in der Welt vor sich geht?

Doch, das war es. Der Horror des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts stand den Frauen und Männern, die das Grundgesetz formulierten, vor Augen. Sechzig Millionen Menschen waren in den Jahren zuvor unter den entsetzlichsten Umständen gestorben. Was sollte da »unantastbar« heißen?

Es sollte heißen: nicht verhandelbar.

Das Menschsein darf einem Menschen nicht abgesprochen werden, ohne Ausnahme, nie.

So weit, so klar. Wenn wir an uns selbst denken, erscheint uns das so selbstverständlich, dass es eigentlich keiner Erwähnung bedürfte. Weniger selbstverständlich erscheint es uns, wenn wir daran denken, dass dies bedeutet: Auch die Würde des schlimmsten Verbrechers ist unantastbar. Kann sich ein Kindesmörder auf seine Menschenwürde berufen?

Er kann es, und sie kann ihm nicht aberkannt werden. Das bedeutet nicht, dass er keine Strafe befürchten muss. Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger zu schützen und diejenigen zu bestrafen, die seine Gesetze brechen. Warum ist dann aber ausgerechnet in diesem Zusammenhang die Rede von der Würde des Täters und nicht des Opfers?

An dieser Stelle gerät unser natürliches sittliches Empfinden mit dem Anspruch des Gesetzes in einen ernsten Konflikt. Den Begriff der Würde ausgerechnet mit denjenigen Menschen in Verbindung zu bringen, welche andere entwürdigend behandelt haben, widerstrebt uns, es empört uns. Um es zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was die Grundrechte leisten sollen und was nicht.

Wir sind es gewohnt, Gesetze, Regeln überhaupt, als Verhaltensnormen zu lesen. Auch die Grundrechte formulieren »Verhaltenserwartungen« (der Begriff stammt von dem Soziologen Niklas Luhmann), doch das ist nicht ihr Hauptzweck. In erster Linie sind sie Abwehrrechte gegen den Staat. Das verblüfft zunächst, denn ist es nicht gerade der Staat, der uns diese Gesetze gibt?

Nicht nach der Auffassung, der das Grundgesetz folgt. Danach verleiht nicht erst der Staat dem Menschen die Freiheit. Der Mensch ist frei geboren, unabhängig davon, ob der Staat, in dem er lebt, dies anerkennt oder nicht. Ein Staat, der das respektiert, kann eigentlich nur eine einzige Kernaufgabe haben. Sie ist im zweiten Satz des Grundgesetzes formuliert: Die Menschenwürde »zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«.

Zuerst einmal also ist es die Aufgabe des Staates, seine Bürger zu schützen. Er tut dies zum Beispiel, indem er Strafgesetze erlässt und deren Einhaltung überwacht. In einer idealen Welt würde ihm das so gut gelingen, dass es keine Gesetzesübertretungen, keine Straftaten und damit auch keine Opfer von Straftaten gäbe. Solange es sie jedoch gibt, stellt sich die Frage, wie mit den Tätern umgegangen werden soll.

Die Antwort des Grundgesetzes ist: Wie auch immer sie bestraft werden, die Strafe darf ihr Menschsein nicht infrage stellen. Das bedeutet den Ausschluss der Todesstrafe, das Verbot der Folter und von erniedrigenden und grausamen Strafen.

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