Symptom 4:
Bespiegelungen
Es treten auf: Narziss, Heidi, Dieter und andere Experten für Impressionmanagement und Pseudo-Events.
Woher weiß der Mensch, dass es ihn gibt? Weil er sich im Spiegel anschauen kann. Und woher weiß er, dass er schön ist? Weil der Spiegel zu ihm spricht: »Ja, du bist die Schönste im ganzen Land.« Ein Königreich für solch eine Antwort!
Seit den Zeiten, als der schöne Jüngling Narziss sich in sein Spiegelbild verliebte, gehört eine satte Portion Eigenliebe zur Grundausstattung derer, die sich nicht mit Nebenrollen zufrieden geben. Der Narzissmus ist weit verbreitet und außerordentlich hilfreich für alle, die das Rad der Welt schneller drehen wollen mit ihren Initiativen und Visionen. Es gibt allerdings auch die Menschen, die nicht recht wissen, ob sie sich selbst mögen sollen; es aber zu gerne würden. Für sie ist der sprechende Spiegel noch wichtiger. Sie suchen ihn.
Was für den angehenden Selbst-Lieber zählt, ist die Reaktion, die er erhält, und welche Reichweite sie hat. Ich erhalte Resonanz, also bin ich. Je mehr Spiegel, je besser.
Ausweitung der Bühnenzone
Seit jeher üben daher die Künste, die Bühnen, das Showbusiness eine magische Anziehungskraft aus, vor allem auf alle, die durch den Beifall des Publikums zu Höchstleistung stimuliert werden und so (erst) zu ihrem vollen Ausdruck und ihrer ganzen Kraft finden.
Verhältnismäßig neu sind zwei für den großen Wahnsinns-Kontext interessante Entwicklungen: erstens die Ausweitung der Bühnenzone in die vormals eher nüchterne und applausarme Arbeitswelt, sprich ins Büro. Vorhang auf, Beamer an.
Und zweitens die Erfindung der Casting-Shows in den TV-Redaktionen. Aus dem ursprünglichen Casting, der routinemäßigen Besetzungspraxis für ein Theaterstück oder einen Film, wurden die bekannten Shows. Die Nachfahren von Schneewittchens Stiefmutter fragen nicht mehr alte Wand-Spiegel, sondern meinungsbildende Autoritäten: Bin ich schön? Werde ich reich? Komme ich an? Heidi und Dieter sind die modernen Spiegel und Resonanzverstärker. Es geht allerdings nicht um reale, wirklich zu besetzende Rollen (so viele gäbe es gar nicht), sondern um Selbsterregung. So nennt der Physiker das Entstehen von Schwingungen, die zunächst eine positive, später aber eine negative Rückkopplung in Gang setzen.
Ein klassischer Selbsterreger ist zum Beispiel ein Generator: Er erzeugt selber den Strom, der zu seiner Erregung (also zu seinem Funktionieren) erforderlich ist. Das Prinzip der Casting-Show lautet entsprechend: Erzeuge den Wind selbst, auf dem du segelst.
In den Büros der Unternehmenswelten vollzieht sich Ähnliches. Das Arbeiten dort entwickelt sich zunehmend zu einer Casting-Show. Es beginnt mit den Assessment-Centern, die die Kandidaten das Fürchten lehren: Alle wollen rein und bibbern vor den Aufgaben, die sie unter Beobachtung lösen sollen – und dann natürlich auch vor dem Urteil der Jury, dem gefürchteten »Feedback«. Es ist Schneewittchens alter Spiegel in neuer Form, der da spricht. Noch ist es aber nur ein Casting, ein Auswahlprozess für real zu vergebende Rollen. Das Assessment Center ist nicht öffentlich – und das Feedback der einzige Spiegel. Noch gibt es keine Spiegelungen vom Spiegel, keine sich selbst verstärkende Show um ihrer selbst willen. Die Initiatoren der Veranstaltung sind im Gegenteil meist sehr bemüht, passable Kriterien zu finden und anzuwenden, um die Besten zu identifizieren und einzustellen.
Entscheidender ist, wie es für die Kandidaten nach Bestehen des Auswahlverfahrens weitergeht. Denn wer glaubt, mit dem Vorsingen sei es jetzt vorbei und nun wird gearbeitet, hat sich getäuscht. Jetzt beginnt das Performance-Programm erst, und zwar streng öffentlich. Jedes Meeting, jedes Projekt, irgendwann auch jedes Kantinengespräch und jeder Kollegenstammtisch wird zur Bühne, auf der Ingenieur X oder Expertin Z wieder und wieder »performen«, nämlich den möglichst besten Eindruck hinterlassen müssen. Dass sie für eine Rolle, eine bestimmte Position be- und gesetzt worden sind – eigentlich der Sinn des Auswahlprozesses –, heißt gar nichts. Stattdessen gilt: Sie können sich nie sicher sein, ob sie genügen. Auch ein unbefristeter Vertrag schützt nicht vor Kaltstellung. Besser, sie beginnen sofort damit, ihr Image zu polieren und permanent Feedback einzuholen, ob sie ankommen, wie sie ankommen. Besser, sie hören gar nicht mehr auf damit, bei den richtigen Leuten den richtigen Eindruck zu hinterlassen.
Weit verbreitet sind dabei befristete Zweckgemeinschaften der gegenseitigen Belobigung. Applaudierst du mir, applaudiere ich dir. Befristet sind sie, weil die Beteiligten sich irgendwann selber zur Konkurrenz werden. Dann gilt es, sich ab- und anderen Spieglern zuzuwenden.
Kernkompetenz Windmachen
So viele Erfolgsgeschichten wie heute waren noch nie zu hören im alltäglichen Betrieb. Als existierte die Wunde der Bedeutungslosigkeit nicht, werden Lebensläufe aufgedonnert, Power-Profile gestanzt, Erfolgsstorys in Umlauf gegeben. Dass die Inflation der Selbst-Behauptungen diese im selben Moment auch entwertet, peitscht den Kreislauf nur weiter an.
Die Vor-Spiegelungen funktionieren auch umgekehrt: Wenig hat im direkten Arbeitszusammenhang eine so unmittelbare Wirkung wie ein gut platziertes Lob. Der Unterschied zwischen aufrichtiger Anerkennung und gezielter Schmeichelei, mit dem Ziel, noch eine weitere Tanzeinlage vom Kandidaten gratis zu bekommen, verschwimmt. Die härteste Strafe ist jedenfalls die Nichtbeachtung. Und um hier den arg strapazierten Begriff der Wertschätzung kurz anzutippen: die Klage, dass es heutzutage viel zu wenig davon gibt, deutet sehr auf diese tiefe Angst vor der Bedeutungs-, sprich Resonanzlosigkeit hin. Dahinter lauert die kaum verhohlene Bitte: »Sag mir, gibt es mich? Bin ich gut? Bin ich schön? Bin ich wichtig?«
Der gut ausgebildete Narzisst, der das von sich selber absolut sicher weiß, den ein katastrophales Feedback gar nicht erreicht, geschweige denn irritiert, ist gar nicht mehr so oft anzutreffen. Zahlreicher sind die Zweifelnden, die aber nicht zu unrecht glauben, dass sie sehr viel selbstverliebter und selbstsicherer werden müssten, um mitspielen zu können. Wir kennen die aparte Abschiedsfloskel für Casting-Show-Kandidaten, die ohne Foto oder Vertrag nach Hause müssen: »Du musst noch an deinem Selbstbewusstsein arbeiten.« Gemeint ist natürlich die Selbst-Behauptung.
Impression-Management für Einsteiger
Die Business-Vokabel für Eindruckschinden heißt nicht Casting-Show, sondern »Impression-Management«. Dabei wäre »Cast« das durchaus passende Wort. Es bezeichnet ursprünglich den Gießling, der dem einfließenden Blei seine Form »eindrückt«.
Für den richtigen Eindruck zu sorgen ist eine Kunstform, die sehr viel Arbeit macht; die Überwindung, Durchhaltevermögen, Disziplin, Erfindungsreichtum und Risikobereitschaft erfordert. Impression-Management bedeutet konkret zum Beispiel, für die wichtigen Meetings und Shows überhaupt eine Einladung zum Mitspielen zu ergattern. Im Grunde egal, mit welchem Thema. Falls genügend Geigenspieler vorhanden sind, dann muss man schon mal auf Trompete umstellen, und falls auch dort Gedrängel herrscht, hole man die alte Trommel aus den Datenkellern des Vorjahres hervor, bespanne sie neu und behaupte kühn, dass ohne sie das ganze Ensemble den richtigen Ton nicht finden werde. So schafft man es auf die Teilnahmeliste – und das Trommelsolo steht auf der Agenda.
Diejenigen, die dieses Mal leider draußen bleiben mussten, dürfen dafür wenigstens ausgiebig lästern. Über die Industrieschauspieler, die Blender, die Wichtigtuer. Sie können behaupten, sie wollten da ja gar nicht rein. Und wo sie schon mal draußen stehen, stehen sie natürlich auf jeden Fall drüber, über diesem Theater.
Drinnen ist es in der Tat auch gar nicht so lustig. Denn hier läuft jetzt die Performance-Show – und schließlich wird auch das Urteil gefällt. Drei Varianten der Aburteilung sind für die Teilnehmer möglich: 1. Unsichtbar geblieben, aber überlebt. Das ist respektabel. 2. Überraschend einen Treffer gelandet; das ist selten und produziert Glücksbotenstoffe respektive Neid respektive umfangreiche Zusatzarbeit. 3. Gedemütigt worden, vor versammelter Mannschaft. In diesem Fall kann es nur heißen: Aus der Türe des überhitzten Meetingraums wanken, hinaus in den Flur zu den lästernden, aber interessierten Zaungästen, und das Lächeln anknipsen. Denn Einsteckenkönnen ist eine Schlüsselkompetenz – die inzwischen allerdings gelernt, um nicht zu sagen internalisiert ist. Hatte ein Kandidat nämlich Glück und eine gute sogenannte Potenzialförderung, dann ist er vom Chef oder der Abteilung Personalentwicklung frühzeitig in solche Gremiensitzungen als Reality-Training geschickt worden, um sichtbar zu werden (»Visibility«) und sich zu bewähren. Denn nur da gibt es die relevanten Spiegel, die relevante Resonanz geben.
»X war gar nicht schlecht«, lautet die ultimative glücksverheißende Nebenbemerkung einer leitenden Führungskraft über den Kollegen der mittleren Ebene, die diesen quasi für die nächste Runde qualifiziert. Je mehr solcher Veranstaltungen X für sich entscheiden kann, desto mehr Preisgeld und bessere Verträge winken.
Die permanente Imagepflege ist nichts weniger als schiere Notwendigkeit. Gegen die Not des Vergessens. Die aktuellen Arbeitskontexte wechseln so rasant, dass sich kein bleibender Eindruck langfristig aufbauen lässt. Vierteljährlich kommen neue Mitarbeiter, Chefs, Kollegen, Projektverantwortliche, Kunden. Es herrscht epidemische Erinnerungslosigkeit. Immer wieder muss man neu anfangen. Es ist unmöglich, sich dauerhaft in einem nicht mehr vorhandenen kollektiven...