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Unvergessen

Option, KZ, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr. Ein Sarner erzählt.

AutorFranz Thaler
VerlagEdition Raetia
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9788872835296
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Verzeihen ja, vergessen nein. Diesem Grundsatz verpflichtet erzählt Franz Thaler, Jahrgang 1925, von den schlimmsten Jahren seines Lebens: Bei der Option 1939 entschließt sich sein Vater für das Dableiben in Italien und gegen die Auswanderung ins Deutsche Reich, der junge Franz sieht sich plötzlich den Schikanen der einheimischen Nationalsozialisten und deren Mitläufer ausgesetzt. Obwohl Dableiber und somit italienischer Staatsbürger, erhält er 1944 den Befehl zum Einrücken in die Hitler-Armee, flüchtet aber in die Berge. Erst als seiner Familie die Sippenhaft droht, stellt er sich. Sein Leidensweg führt ihn durch mehrere Gefängnisse ins Konzentrationslager Dachau und zweitweise ins Außenlager Hersbruck. Zwanzigjährig kommt er im August 1945 seelisch und körperlich gebrochen wieder nach Hause. Franz Thaler schildert seine Erinnerungen in schlichten, aber eindringlichen Worten. Sein Buch, bereits mehrmals neu aufgelegt, ist ein Klassiker der neuen Südtiroler Geschichtsschreibung.

Franz Thaler: Geboren 1925 im Sarntal. Einer kinderreichen Kleinhäusler-Familie entstammend, besuchte Franz Thaler die damals faschistische italienische Schule. Bei der Option 1939, nach seinem letzten Schuljahr, entschloss sich sein Vater fürs Dableiben; Franz und seine fünf minderjährigen Geschwister waren in den Augen der meisten Nachbarn plötzlich 'Walsche'. Als Thaler 1944, obwohl Dableiber, also italienischer Staatsbürger, den Befehl zum Einrücken in die Deutsche Wehrmacht erhielt, flüchtete er in die Berge. Erst als man seinen Vater bedrohte, stellte er sich. Sein Leidensweg führte ihn durch mehrere Gefängnisse ins Konzentrationslager Dachau. Im August 1945 kam er, zwanzigjährig, seelisch und körperlich gebrochen, nach Hause.

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Leseprobe

Wer von uns wacht hier
und warnt uns,
wenn die neuen Henker kommen?
Haben sie wirklich
ein anderes Gesicht als wir?
Irgendwo gibt es noch Kapos,
die Glück hatten,
Prominente,
für die sich wieder
Verwendung fand,
Denunzianten,
die unbekannt blieben –
gibt es noch all jene,
die nie daran glauben wollten
und dann nur von Zeit zu Zeit
.

Jean Cayrol / Paul Celan

Paris 1955/56 (Nacht und Nebel)

Im Mai 1985 besuchte ich das ehemalige Konzentrationslager Dachau, in dem sich genau vor vierzig Jahren, am 29. April, für mich und meine Freunde das Tor zur Freiheit geöffnet hatte. Im Lager ging ich gleich ins Museum, in dem verschiedene Dokumente und Fotos aus den Jahren 1933–45 zu sehen sind. Beim Anblick mancher Bilder stiegen mir noch einmal Tränen in die Augen. Mit mir waren noch viele Besucher aus den verschiedensten Ländern erschienen, darunter eine besonders große Zahl von Jugendlichen. Aus deren Gesichtern konnte man Entsetzen ablesen. In dem großen Raum war es beinahe ganz still. Man konnte nur ein leises Murmeln hören. Am Nachmittag besichtigte ich die zwei noch erhaltenen Baracken und den Platz, auf dem so viele gehenkt worden waren, den sogenannten Blutgraben, wo so viele ihr Leben durch Genickschuss lassen mussten, und schließlich das Krematorium, in dem Tausende bis zum Skelett Abgemagerte, Erschlagene, Erschossene oder Verhungerte in den Verbrennungsofen „durch den Kamin gingen“, wie man sich in Dachau ausdrückte. Die Gaskammern sind noch zu sehen, doch wurden sie nie in Betrieb genommen. Die Dachauer Todeskandidaten wurden in andere Lager überstellt. Schließlich besuchte ich noch die drei später erbauten Sühnekapellen: die evangelische, die jüdische und – in der Mitte – die katholische, die „Todesangst-Christi-Kapelle“. Hinter diesen liegt das Karmeliterkloster, in dessen Kirche ich für meine toten Kameraden betete. Während des Besuches dachte ich viel an die vergangenen Tage und Jahre.

Mein Weg nach Dachau war schon 1939 vorgezeichnet. Im Juni desselben Jahres hatten das nazistische Deutschland und das faschistische Italien die Umsiedlung der Südtiroler eingeleitet. Man bescherte uns die sogenannte Option. Die Leute wurden vor die Entscheidung gestellt, entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft zu optieren, mit der ausdrücklichen Verpflichtung, in das Großdeutsche Reich abzuwandern, oder die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten, mit der Drohung, dass man dann keinerlei Minderheitenrechte mehr beanspruchen dürfe. Wer überhaupt keine Erklärung abgab, blieb italienischer Staatsbürger. Mit der Durchführung des Abkommens wurde der berüchtigte SS-Gestapo-Chef Heinrich Himmler betraut. Doch von all dem wusste und verstand ich als fünfzehnjähriger Bauernbub noch überhaupt nichts. Ich erinnere mich nur, dass die Leute furchtbar erschraken, als sie von dieser Vereinbarung erfuhren. Die meisten wollten sie gar nicht glauben. Das könne doch nicht wahr sein!

Das war die Stimmung im Juli und auch noch Anfang August im Sarntal, und wohl auch in ganz Südtirol. Dann hörte man immer öfter von geheimen Zusammenkünften und Versammlungen. Bayrische Singgruppen kamen ins Tal. In der Fraktion Unterreinswald fanden sie gute Aufnahme. Die Sänger erschienen bald auch in Durnholz, wo ich wohnte. Sie sangen auf dem Kirchenchor deutsche Lieder. Da die Ankunft vorher angekündigt worden war, erschienen viele Leute. Der Pfarrer machte einmal eine spitze Bemerkung, weil die Kirchengänger oft zum Chor hinaufschauten. Er sagte: „Sind da oben etwa die größeren Heiligen als am Altar?“ Ich glaube, er ahnte bereits, was auf uns zukommen sollte. Im September und Oktober sprach man immer öfter von Wahl und dass man natürlich „deutsch“ wählen müsse. Eine wilde Propagandawelle brach los. Sie wurde vom „Völkischen Kampfring Südtirols“ (VKS), einem nationalsozialistisch ausgerichteten Bund, geführt, der überall im Lande seine Leute sitzen hatte. Aber was wusste ich damals von einem VKS. Auch er war ursprünglich fest für das Bleiben eingetreten. Nach mehreren Gesprächen mit Himmler änderte er seine Gesinnung um hundertachtzig Grad. Jetzt wollte er ein hundertprozentiges Ergebnis für die deutsche Staatsbürgerschaft und die Abwanderung erreichen, um damit in Berlin Staat machen zu können. Eine gewisse Vorarbeit für dieses Resultat war allerdings schon in der Schule geleistet worden. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir Schulbuben oft sagten: „Vater unser, der Du bist, der Mussolini auf dem Mist, der Schuschnigg daneben und der Hitler soll hochleben.“ Die „Option“, die „Wahl“, riss eine tiefe Kluft im Volke auf. Der Riss ging auch im Sarntal durch viele Familien. Ein Teil entschied sich für das Dableiben, der andere begeisterte sich für das „Deutschwählen“. Die Propaganda für das Dableiben äußerte sich nur schwach. Aber es gab noch genug Leute, die beim Vorsatz vom Juni blieben, sich lieber erschießen zu lassen, als für die Auswanderung zu optieren. Ich wohnte damals nicht bei meiner Familie in Reinswald, sondern bei meinem Onkel in Durnholz. Dort wurde ich wie ein Familienmitglied behandelt.

Im späteren Oktober erfuhr ich, dass ein Kanonikus Gamper beim Hofmann in Reinswald eine Versammlung abgehalten habe, bei welcher er sich gegen die Option und fest für das Dableiben ausgesprochen hätte. Der junge Bauer, bei dem ich wohnte, sowie zwei Töchter und der Knecht vom Nachbarn waren auch zu dieser Versammlung gegangen. Sie kamen am frühen Morgen ganz aufgeregt nach Hause und erzählten beim Frühstück, was sie alles gehört hätten. Gamper, sagten sie, habe die Leute über das wahre Wesen des Nationalsozialismus aufgeklärt, über die Verfolgung von Kirche und Religion. Hitler habe das deutsche Volk bereits in den Krieg getrieben, und man wisse nicht, wie das ende. Die Leute sollten doch unbedingt an ihrer Heimat festhalten. Sie würden eine solche nie mehr erhalten. Die Versprechungen der Nazipropagandisten, dass in Deutschland ein ganz gleiches Durnholz und Reinswald wie im Sarntal errichtet würde, sei doch ein glatter Blödsinn. Die Lügen, dass jeder Abwanderer dasselbe Haus und den gleichen Hof bekäme, könne man doch mit den Händen greifen. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung, wer dieser Kanonikus Gamper war. Erst nach meiner Heimkehr erfuhr ich, dass er das geistige Haupt des Widerstandes gegen Faschismus und Nazismus gewesen ist. Gamper konnte nach dem deutschen Einmarsch in Italien im September 1943 nur mit knapper Not den Gestapo-Häschern entkommen und sich nach Florenz absetzen. Der junge Bauer erzählte auch, dass während der Versammlung ein Nazi-Propagandist in die Stube hereingerannt sei und gerufen habe: „Was der da sagt, ist alles erlogen, glaubt ihm nicht!“ Der Mann wollte sogar auf Gamper losgehen, aber ein paar Männer packten ihn und zerrten ihn zur Tür hinaus. Ein paar Tage später gingen wir abends zum Nachbarn, um Karten zu spielen. Dort trafen wir einen Hausierer, der dort übernachtete und der bei der Versammlung am Hofmanhof alles miterlebt hatte. Unter anderem erzählte er auch, was nach der Rede Gampers passiert war. Dieser hatte gesagt, dass die Zuhörer, die dableiben wollten, die Möglichkeit hätten, sich jetzt schon zu erklären, weil er die erforderlichen Formulare bei sich habe. Da habe sich der alte Uhrmacher gemeldet und unterschrieben. Dieser habe sich an seinen Bruder gewandt und gesagt: „Stanis, du wirst wohl auch unterschreiben?“ Und der Stanis ging auch hin und unterschrieb für sich, seine Frau und für seine sechs minderjährigen Kinder. Als der Hausierer das erzählte, lief es mir ganz kalt über den Rücken. Alle Anwesenden starrten mich an, ich schaute nur auf die Tischplatte. Der Stanis war nämlich mein Vater und der Uhrmacher mein Onkel. Irgendjemand sagte zu mir: „Dein Vater hat ‚walsch‘ gewählt, du bist jetzt ein ‚Walscher‘.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und fühlte mich schon jetzt fast wie ein Ausgestoßener. Da sagte die Bäuerin, um mich zu trösten: „Den Franz packen wir einfach in eine Kiste und schmuggeln ihn nach Deutschland.“ Alle lachten, nur mir war nicht zum Lachen zumute. Wir gingen heim. Für mich war das der erste Schlag, den mir der Nazismus versetzt hatte. Auf dem Hof wurde über die Sache nicht viel geredet. Der Bauer war eher für das Dableiben, seine Geschwister aber fürs Auswandern. Am nächsten Sonntag ging ich zu meinen Eltern nach Reinswald. Ich wollte hören, was sie mir zu sagen hatten. Sie erklärten mir, warum sie „walsch“ gewählt hätten. Warum sie den Ratschlägen Michael Gampers gefolgt wären und nicht freiwillig auf die Heimat verzichten wollten. Sie hätten, erinnerten sie mich, schon einmal ihr eigenes Heim der schlechten Zeiten wegen verloren. Jetzt hätten sie sich mit Mühe und Not ein dürftiges Häuschen erbaut. Mein Vater hatte sieben Jahre Militärdienst geleistet. Davon drei Jahre aktiv und vier im Krieg. Er war genug in der Welt draußen gewesen und wollte nicht ein zweites Mal von zu Hause fort. Die Eltern sagten:...

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