Hans-Peter Dürr
Teilhaben an einer unteilbaren Welt
Das ganzheitliche Weltbild der Quantenphysik
Wir können diese Weltkrise der Gegenwart als eine Zukunftschance begreifen. Unsere zentrale Aufgabe und die gesellschaftliche Herausforderung in dieser entscheidenden Zeit ist die Frage der Zukunftsfähigkeit, die sich mittlerweile als eine Frage des Überlebens der Menschheit herauskristallisiert. Zukunftsfähigkeit erwächst uns jedoch nur, wenn wir zu einer neuen und erweiterten Betrachtungsweise der Welt finden und die Fesseln eines mechanistischen Weltbildes abstreifen, in dem wir uns als willenlose Rädchen einer großen Maschine verstanden haben. Wir haben uns eine falsche Vorstellung von der Welt gemacht und uns in ein enges Weltbild hineinmanövriert, aus dem uns keine Lösungen erwachsen. Wir haben uns gleichsam selbst gefesselt. Nun ist es an uns, diese Fesseln abzustreifen. Hierfür brauchen wir die Bereitschaft, neue Impulse und Inspirationen in dieses verknöcherte und veraltete Denken hineinzubringen. Es ist an der Zeit, unserem Leben wieder die Lebendigkeit zurückzugeben, die diesem zueigen ist. Das heißt auch, dass wir die geistige Dimension unserer Existenz wieder erkennen müssen, die wir verdrängt haben, denn deren Verlust in der modernen Welt wiegt schwer.
Der moderne Mensch erfährt sich als etwas von der Natur Getrenntes, als gleichsam außerhalb der Natur lebend. Wir können diesen Zustand «Naturvergessenheit» nennen. Der Mensch hat sich zum Herrscher über die Natur aufgeschwungen und dabei die Natur erniedrigt. Um zu überleben, so dachte er, müsse er seine eigene Natürlichkeit aufgeben und leugnen, dass er selbst Teil der ihn umgebenden Natur ist. Das ist der folgenschwere Denkfehler der Neuzeit. In deren anthropozentrischem Weltbild dient die Natur dem Menschen nur mehr als Baustein und Werkzeug zur Erfüllung seiner Bedürfnisse. Darüber hat der Mensch vergessen, dass er selbst zutiefst in diese Natur eingebettet und gänzlich abhängig von ihr ist. Die Illusion der Trennung führte dazu, dass wir einerseits das Machbare heillos überschätzen und andererseits unterschätzen, was für Möglichkeiten der Teilhabe wir tatsächlich haben.
Das neue Weltbild der Quantenphysik trägt hingegen das Eingeständnis in sich, dass dem menschlichen Wissen und Allmachtstreben Grenzen gesetzt sind. Freiheit ist nicht etwas, das wir beliebig ausdehnen könnten. Wir leben auf einem Planeten, dessen Reichtum wir nicht verschleudern und dessen Rohstoffe wir nicht ungestraft ausbeuten können. Dieser Planet ist nicht beliebig, und deshalb können wir uns auch nicht beliebig verhalten. Wir haben uns weit von einer friedlichen und gerechten Welt entfernt, so weit, dass viele Menschen mittlerweile Gerechtigkeit und Frieden für eine Utopie halten. Sie glauben, dass die Wirklichkeit so ist, wie sie sich derzeit darstellt, und dass es in dieser Welt immer unfriedlich und ungerecht zugehen wird. Das aber sind Annahmen, denen ein falsches Menschen- und Weltbild zugrunde liegt.
Wir tragen die Verantwortung für diese Welt. Wir können nicht weiterhin russisches Roulette mit dem Leben unserer Kinder und Enkelkinder spielen. Es ist an der Zeit, unsere schöpferischen und kreativen Fähigkeiten zu begreifen und verantwortlich zu gebrauchen. Wenn wir weiterhin die natürlichen Lebensgrundlagen der Erde zerstören, sind wir die Ersten, die dabei abstürzen werden.
Neue Physik – altes Weltbild
Die Entstehung der Quantentheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte nicht nur zu einer Revolution innerhalb der Physik, sondern zugleich zu einer radikalen Veränderung des bis dahin gültigen klassischen Weltbildes. Dessen Fundament wurde durch die Aufklärung im 17. Jahrhundert gelegt, die ihrerseits das Ergebnis eines mit der Renaissance einsetzenden beispiellosen Triumphzuges des menschlichen Forscherwillens war, der den vernunftbegabten Menschen in den Mittelpunkt des Weltgeschehens hob. Diesem Weltbild lag die Vorstellung einer streng determinierten Natur zugrunde, die sich von dem mit Geist begabten und mit vielfältigen Fertigkeiten ausgestatteten Menschen manipulieren und in den Griff bekommen ließe. Je mehr Wissen der Mensch sich dabei aneignete, desto größer erschien seine Macht über das von ihm vermeintlich Beherrschbare.
Mit den Entdeckungen der neuen Physik erfuhr der Glaube der Wissenschaft, dass wir die Welt im Griff hätten, jedoch eine grundlegende Erschütterung. Bis dahin galt die Welt als von unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Es herrschte die Überzeugung, dass es der Naturwissenschaft möglich wäre, die Welt durch die Zerlegung in ihre Bestandteile zu analysieren, und dass sich der Wissenschaftler mittels einer objektiven Betrachtung gleichsam von der Welt trennen und diese von außen betrachten könnte. Lange glaubte die Wissenschaft, dass der Beobachter unabhängig vom Beobachteten existiere. Dies jedoch war ein folgenschwerer Irrtum. Denn mit der Trennung von Subjekt und Objekt verlor die Wissenschaft das Wesentliche aus dem Blickfeld – das Lebendige.
Die neue Physik hingegen macht deutlich, dass der Forscher selbst Teil dessen ist, was er erforscht, und dass die Welt weit mehr ist als die Summe ihrer Teile. Mit dem Blick auf das Ganze fördert sie eine gänzlich neue Betrachtungsweise der Welt zutage, die zugleich das Eingeständnis in sich trägt, dass es dem menschlichen Verstand nicht möglich ist, die Wirklichkeit zu begreifen. Damit markiert die Quantenphysik den Abschied von einem aristotelischen Weltbild, in dem noch alles erklärbar schien, und knüpft an eine heraklitische Weltsicht an, in der alles im Fluss ist. Die Wirklichkeit wird nicht mehr als Realität, sondern vielmehr als Potenzialität begriffen, und damit die Prozesshaftigkeit alles Bestehenden erkannt. Alles steht in Beziehung zueinander. Das Quantenfeld kreiert ein Meer aus Möglichkeiten, ein lebendiges Erwartungsfeld, aus dem heraus sich unablässig Neues gebiert.
Während unsere heutige Technik auf den Errungenschaften der neuen Physik basiert, wird die Gesellschaft immer noch vom Weltbild der klassisch-materialistischen Physik dominiert, die weiterhin an den Schulen und Universitäten gelehrt wird. Diese Sicht auf die Welt führt dazu, dass der Mensch das, was er sieht, als Realität (vom lateinischen res, das Ding) wahrnimmt. Die Welt besteht für ihn aus Dingen, aus Materie und wird als greifbar und damit begreifbar wahrgenommen. Dies ist die Grundlage unserer materialistischen Sichtweise der Welt, in der es dann letzten Endes nur noch darum geht, möglichst viel materiellen Reichtum anzuhäufen. Denn alles, was man greifen und festhalten und gegen andere verteidigen kann, erscheint dieser Weltsicht als real.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Kapitalismus – ebenso wie der Marxismus – ein Denkmuster aus dem 19. Jahrhundert ist. Als der Marxismus unterging, hätte man eigentlich erwarten können, dass der Kapitalismus ebenfalls von der Landkarte verschwinden würde, weil er die Welt in ähnlich begrenzter Weise versteht. Leider ist das bislang nicht geschehen. Vielmehr glauben die Anhänger des Kapitalismus nun, weil sie übrig geblieben sind, im Besitz der einzig gültigen Wahrheit zu sein. Und die Menschen glauben ihrerseits – übrigens völlig zu Unrecht –, dass es keine Alternative zu der kapitalistisch-neoliberalen Wirtschaftsform gäbe, in der wir leben, und dass wir diese einfach so akzeptieren müssten, wie sie ist. Das aber ist reiner Fatalismus, dem wir entschieden entgegentreten müssen. Fatalismus bedeutet Phantasielosigkeit und Unverständnis dessen, was wirklich hinter dieser Welt steht.
Wir Menschen hängen an diesem veralteten materialistischen Denkgebäude, weil es uns die Illusion vermittelt, dass es mit unseren Händen greifbar und daher für unseren Verstand zu begreifen sei. Wir können ein Stück dieser Welt in der Hand halten und behaupten, dass es uns gehöre. Und dann können wir mit anderen das Streiten darüber beginnen, weshalb es uns und nicht ihnen gehört. Ständig treibt uns der Ehrgeiz um, ein noch größeres Stück der Welt in Händen halten zu können. Das ist das Grundprinzip der Wettbewerbsfähigkeit. So konnten Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken zum Leitmotiv unserer Zeit werden. Wettbewerb heißt, wir müssten schneller sein als die anderen. Die Richtung, in die wir dabei rennen, ist sekundär, Hauptsache, wir kommen als Erster dort an. Derzeit rennen wir auf den Abgrund zu.
Was die Welt im Innersten zusammenhält
Ich bin Kernphysiker geworden, weil ich herausfinden wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mein ganzes Forscherleben habe ich damit verbracht zu untersuchen, was tatsächlich hinter der Materie steckt. Das Endergebnis ist ganz einfach – wenn auch überraschend: Es gibt gar keine Materie! Ich habe somit fünfzig Jahre nach etwas gesucht, was es gar nicht gibt. «Der arme Kerl», denken Sie jetzt vielleicht, «hat fünfzig Jahre seines Lebens an etwas drangegeben, was es gar nicht gibt.» Doch ich kann Ihnen versichern, dass es sich gelohnt hat, den weiten Weg zu gehen. Zu sehen, dass das, von dessen Wirklichkeit alle überzeugt sind, am Ende gar nicht existiert, ist eine erstaunliche, geradezu phantastische Erkenntnis. Was aber macht ein Naturwissenschaftler, wenn er plötzlich erkennt, dass es das, was als die Grundlage der Naturwissenschaft gilt – nämlich Materie, die wir alle greifen können – gar nicht gibt? Wenn er erkennen muss, dass die Wirklichkeit eine völlig andere ist, als er bislang annahm? Dass von der Materie, je weiter man sie auseinander nimmt, am Ende gar nichts mehr übrig bleibt, was an Materie erinnert?
Die neue Physik hat erkannt, dass die Materie nicht das Fundament unserer Wirklichkeit...