1 Historischer Überblick
Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensweisen die Umwelt als unerwünscht und störend empfindet und die sich selbst in ihrer Lebensgestaltung und Entwicklung beeinträchtigen, hat es in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegeben. Bewertungen der Auffälligkeiten und Reaktionen der Umwelt geschahen und werden weiterhin realisiert in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen, d. h. insbesondere von kulturellen, religiös-ethischen und nicht zuletzt ökonomischen Bedingungen. Die Reaktionen waren durch die Jahrhunderte hindurch sehr vielfältig und unterschiedlich. Sie reichten im europäischen Kulturraum von den verschiedenen Formen körperlicher Züchtigung über Isolationsmaßnahmen bis hin zur Tötung einerseits und zu verständnisvoller Akzeptanz mit umfassender Hilfe zur Selbstentfaltung andererseits. Die harten Maßnahmen, denen verhaltensabweichende junge Menschen unterworfen wurden, gipfelten in der ideologisch begründeten »Ausmerzung« während des Terrorregimes der Nationalsozialisten in Deutschland.
Soweit das Leben geschont wurde, lassen sich die Reaktionen durch die Jahrhunderte hindurch mit den Begriffen Separieren, Isolieren, Disziplinieren und Normalisieren zusammenfassend bezeichnen (siehe auch Kobi 2004, 107 ff.).
Bereits die ersten Einrichtungen, die sich – wie die Findelhäuser und Klöster – Kindern mit und in Schwierigkeiten pflegerisch und erzieherisch annahmen, waren separierende und isolierende Anstalten mit harter Zucht. Die Schulen, zunächst der Klöster und der Gemeinden, später des Staates, konnten lange auf dauerhafte Separierung und Isolation der »Störenfriede« verzichten. Durch religiös begründete körperliche Züchtigungen erreichten und hielten auch sie Disziplin aufrecht, d. h. ein »Verhalten nach den vorgegebenen Ordnungsgeboten« (Hagemeister 1968, 25). Als dann, erst im 20. Jahrhundert, körperliche Züchtigung in Verruf kam, wurden die »psychopathischen« oder »schwer erziehbaren« Kinder und Jugendlichen in Sonderklassen separiert und isoliert, um sie noch besser disziplinieren und normalisieren zu können. Sie wurden aus der Gemeinschaft der anderen ausgesondert, psychisch und physisch vereinzelt und besonderen Maßnahmen unterzogen, um sie zu befähigen, sich möglichst »normal« zu verhalten, also situativen und übergreifenden Erfordernissen der Gemeinschaft zu genügen und so zu werden wie die anderen.
1.1 Fünf historiografische Linien
Die besonderen Einrichtungen, die für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen entstanden und das Erfahrungsfeld waren für die Entwicklung einer differentiellen Pädagogik, die wir heute als Pädagogik bei Verhaltensstörungen bezeichnen, lassen sich von ihren Ursprüngen über ihre Entfaltung und Konsolidierung oder auch ihren Niedergang in fünf historiografischen Linien verfolgen, und zwar über:
1. die sozialpädagogische Linie:
Waisenhäuser – Rettungshäuser – Erziehungsheime – Heimschulen,
2. die kriminalpädagogische Linie:
Zuchthäuser – Jugendstrafvollzug – Gefängnisschule,
3. die schulpädagogische Linie:
Beobachtungsklassen – Erziehungsklassen – Kleinklassen, Sonderklassen – Sonderschulen – Integrierte Fördereinrichtungen – inklusive Schulen,
4. die pädagogisch-psychiatrische Linie:
Einrichtungen der Psychopathenfürsorge – Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie – Klinikschulen,
5. die berufspädagogische Linie:
Arbeitserziehung – Industrieschulen – Fortbildungsschulen – Berufsschulen – Berufsbildungswerke (vgl. Myschker 1989).
Innerhalb der einzelnen historiografischen Linien spiegeln sich jeweils spezifische Entwicklungen in theoretischer, praktischer und organisatorischer Hinsicht wieder. Neue Möglichkeiten und Konzepte wurden häufig von Gemeinschaften, Gruppen Gleichgesinnter, aber auch von Einzelpersonen initiiert und getragen. Einige Einrichtungen gibt es nicht mehr: Rettungshäuser, Zuchthäuser und die »Psychopathen«-Fürsorge, Industrieschulen, Fortbildungsschulen gehören der Vergangenheit an. Heime und Heimschulen reduzieren sich oder sind in einigen Bundesländern bereits völlig abgebaut. Das Sonderklassen- und Sonderschulwesen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen wurde seit Beginn der 2000er Jahre zunächst weiterentwickelt (siehe Opp 2003), befindet sich aber nun in einer neuen Legitimationskrise durch die Inklusionsdiskussion, bei allerdings aktuell bundesweit steigender Feststellung von Förderbedarf, insbesondere im hier relevanten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung.
1.1.1 Die sozialpädagogische Linie: Waisenhäuser – Rettungshäuser – Erziehungsheime – Heimschulen
Verwaister, verlassener, ausgesetzter, bedrohter oder verwahrloster Kinder und Jugendlicher nahmen sich im Bereich abendländischer Kultur zuerst christliche Ordensleute in Klöstern und Hospitälern, später auch in speziell gegründeten Findelhäusern an. Sie handelten aus der Verpflichtung zur Nächstenliebe heraus und um der Kinder wie der eigenen Seligkeit willen. Diese religiöse Motivation war über Jahrhunderte hinweg tragend. Die mittelalterlichen Mönch-Pädagogen waren tief verwurzelt in der christlichen Anschauung von der »Verderbtheit des Fleisches« und dem »Körper als Sitz des Bösen«. Ihre Erziehung, die sie entsprechend auf Rute und Peitsche gründeten, war »von barbarischer Strenge« (Günther et al. 1976, 57).
Im 15. Jahrhundert stieg mit der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse die Zahl verwahrloster, hilfsbedürftiger Kinder stetig an und führte Mitte des 16. Jahrhunderts dazu, dass viele Eltern »selbst ihre Kinder weder regieren und unterrichten, noch sie etwas Gutes lehren können«, und die Kinder nur »rabauten« und betteln lernten (zitiert nach: Scherpner 1979, 33). In dieser Zeit wurden einerseits in vielen Ländern Europas Waisenhäuser in großer Zahl gegründet, andererseits gegen Armut und Bettel verschärfte Gesetze erlassen (Karl Marx: »Blutgesetzgebung«), die Erwachsene und auch Kinder an den Galgen brachten.
Nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges kam es in der Pädagogik zu einer Neubesinnung auf christliche Werte und Lebensgestaltung – auch und gerade mit dem Blick auf heranwachsende junge Menschen. Gottgefälligkeit wurde zur Maxime und bestimmte auch das Handeln der pädagogisch bedeutsamen pietistischen Theologen wie Philipp Jakob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727). Beide gründeten Waisenhäuser bzw. Erziehungseinrichtungen mit Vorbild-Charakter. Spener, der »Vater des Pietismus«, und Franke, dessen Hallesche Anstalten ein Großunternehmen und weltberühmt wurden, erkannten die Bedeutung der liebevollen Zuwendung und des engen pädagogischen Bezuges und versuchten, ihre Erziehung entsprechend auszurichten. Ihr Vorbild bestimmte das Handeln späterer neupietistischer Theologen, unter denen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) als Gründer des »Rauhen Hauses« in Hamburg und der »Inneren Mission« sowie als kämpferischer Anwalt der Rettungshaus-Bewegung der bekannteste wurde (vgl. Wichern 1956, Lindmeier 1998, Birnstein 2007). Im »Rauhen Haus«, einem differenziert organisierten, neupietistisch geprägten Kinderdorf für »verkommene«, »mißratene«, »sittlich verwahrloste« Jungen und Mädchen waren die drei wesentlichen Faktoren des Rettungswerkes »Familie, Schule und Arbeit«, die »eine organische Einheit bilden« sollten (Wichern 1833 und 1868, Janssen Bd. 2, 33 und 258). Wichern hat in seinen Schriften wie auch in seiner pädagogischen Praxis im »Rauhen Haus« deutlich zum Ausdruck gebracht, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensschwierigkeiten nicht Strafe angebracht, sondern liebevolles Akzeptieren in einer tragenden, erziehenden Gemeinschaft vonnöten ist.
Diese Überzeugung verbreitete sich – nicht zuletzt durch die von Wichern initiierte, konzentriert wirkende und die gesamte Kinder- und Jugendfürsorge beeinflussende »Innere Mission«. Sie wirkte sich aus auf...