Offenheit und Geheimhaltung
Auf die Bedeutung des Stigmas »lesbisch« und die Bedeutung von Stigma-Management wurde früher eingegangen.
Hier geht es um die Offenheit bzw. Geheimhaltung des Stigmas gegenüber den wichtigen sozialen Bezugsgruppen der Frauen, insbesondere in der Familie und am Arbeitsplatz. Da die Untersuchung nicht konkretes Verhalten erforscht hat, sondern die Frauen über ihr Verhalten befragt wurden, geben die Ergebnisse zu diesem Fragenkomplex eigentlich Auskunft über die Haltung der jeweiligen Frau zur Offenheit bzw. Geheimhaltung.
Die als Gegensätze beschriebenen Verhaltensstrategien »offen« und »geheim« liegen aus verschiedenen Gründen nahe: Der von vielen Frauen beschriebene Zwang zur Geheimhaltung wird als bedrückend erlebt. Darüber hinaus wurde in der Frauenbewegung die bekennerische Offenheit als ein emanzipatorischer Schritt betrachtet. Die Untersuchung der Faktoren, die das eine oder andere Verhalten begünstigen, könnte ein Beitrag sein, den Prozeß der Offenheit zu fördern. In der Untersuchung wurden vorwiegend die Geheimhaltungsstrategien betrachtet, nicht zuletzt deshalb, weil (möglicherweise vorschnell) davon ausgegangen wurde, daß Offenheit keine Form von Stigma-Management ist, sondern ein selbstverständliches Verhalten.
Der Grad der Offenheit bzw. Geheimhaltung wurde gemessen an den Personen, die über die Situation der Frau Bescheid wissen. »Wer weiß Bescheid?« in der Familie, am Arbeitsplatz und im Freundeskreis lautete die Frage. Für die Kategorisierung wurden nur die Antworten zum Bereich Familie und Kollegen am Arbeitsplatz ausgewertet. Ausschlaggebend dafür war, wer normalerweise über die persönlichen Verhältnisse Bescheid weiß. Bei Vorgesetzten und Untergebenen spielen andere Faktoren eine Rolle; beim Freundeskreis, als selbstgewählter Bezugsgruppe, zeigte sich, daß häufig diejenigen als Freunde bezeichnet werden, die Bescheid wissen, bzw. nur solche Freundschaften geschlossen werden, in denen Offenheit möglich ist. Die Familie und die Kollegen am Arbeitsplatz sind aber Bezugspersonen, denen man nicht ausweichen kann bzw. will, die im allgemeinen am persönlichen Schicksal teilhaben.
Die Antworten reichen von »es wissen alle« bis »niemand«, dazwischen gibt es »einige«. Überraschend ergab sich während der Untersuchung, daß es eine bedeutsame Gruppe von Frauen gibt, die sagten, daß die Familie oder einzelne Personen es »ahnten«, aber nicht wüßten. Deshalb wurde die Kategorie »ahnen es« gebildet. Unter diesem Stichwort wurden die Antworten zusammengefaßt, bei denen die Frauen sagen, daß es zwar niemand weiß, aber ahnt:
»In meiner Familie weiß es keiner – explizit. Irgendwo werden sie es gemerkt haben. Habe immer nur Frauen mitgeschleppt. Die sind auch richtig integriert in die Familie. Die Freundin wird zu Familienfesten eingeladen.« (2)
»Meiner Mutter möchte ich gern erzählen, wie ich bin, weil ich sicher bin, daß sie das weiß und nicht wahrhaben will. Sie ahnt es. Ich habe immer nur Freundinnen mitgebracht, ich rede nur von Freundinnen; ich habe vier Jahre mit einer Freundin zusammengewohnt …, die ist ja nun auch nicht doof …« (3)
»Durch die Jahre haben meine Mutter und meine Brüder so Andeutungen gemacht, die mich davon abgehalten haben, mit ihnen offen zu sprechen. Sie vermuten es vielleicht und verdrängen es, also verdränge ich es auch.« (26)
»Von den Kollegen nehme ich an, einige ahnen es. Bei Festlichkeiten am Arbeitsplatz bin ich schon angesprochen worden: Bring doch deine Freundin mit, aber ich habe Angst, daß sie nur neugierig sind, und anschließend ziehen sie sich daran hoch … Sie bringt mich jeden Morgen zum Dienst, aber nicht bis vor die Haustür. Ich steige immer schon an der Ecke aus.« (58)
Die Beispiele zeigen, daß es bei den Kategorien nicht darum geht, wer wirklich Bescheid weiß, sondern darum, ob die befragten Frauen davon ausgehen, daß ihre Homosexualität geheimhaltungsbedürftig und auch geheimhaltbar ist. Die Antworten zeigen, ob die Frauen in Kauf nehmen, von einzelnen oder vielen Personen in ihrer beruflichen und/oder familiären Umgebung für homosexuell gehalten zu werden. Aus diesem Grund sind die Antworten zusammengefaßt worden: Wenn eine Frau auf die Frage »Wer weiß Bescheid?« mit »alle« oder »einige« antwortet, wird sie unter »offen« eingeordnet, da sie, auch wenn es »nur« einige wissen, davon ausgehen muß, daß es sich herumspricht, oder weil »einige« auch bedeuten kann, daß es fast alle wissen und nur einer es nicht weiß.
Als »geheimhaltend« dagegen wurden diejenigen bezeichnet, die »niemand« oder »ahnen es« geantwortet haben, weil es diejenigen sind, die nicht darüber sprechen und sich ihrer eigenen Einschätzung nach so verhalten, daß ihre Homosexualität verborgen bleibt.
Tabelle 6: Offenheit: »Es wissen Bescheid«
| alle | einige | niemand | ahnen es |
in der Familie | 12 (16 %) | 38 (51 %) | 25 (20 %) | 10 (13 %) |
am Arbeitsplatz | 22 (30 %) | 29 (40 %) | 17 (23 %) | 5 (7 %) |
Es verhalten sich also 67 Prozent der Frauen in der Familie und 70 Prozent den Kollegen gegenüber offen, während 33 Prozent in der Familie und 30 Prozent am Arbeitsplatz ihre Homosexualität geheimhalten.
Der Vergleich der beiden Bereiche zeigt, daß sich 53 Frauen (72 Prozent) in der Familie und den Kollegen gegenüber gleich verhalten: 41 (56 Prozent) sind offen und 12 (16 Prozent) geheimhaltend. 12 Frauen verhalten sich Familienmitgliedern gegenüber eher »geheimhaltend« als gegenüber den Kollegen (16 Prozent), während 8 Frauen (11 Prozent) sich eher gegenüber ihren Kollegen »geheimhaltend« zeigen als in der Familie.
Für die weitere Auswertung werden die beiden Bereiche meist gemeinsam betrachtet; Frauen, die in der Familie und am Arbeitsplatz offen sind, werden als »offen« bezeichnet, verhalten sie sich in einem Bereich geheimhaltend, werden sie mit »geheimhaltend« bezeichnet, Frauen, die in beiden Bereichen geheimhaltend sind, werden als »extrem geheimhaltend« bezeichnet.
Von 75 Frauen sind:
offen | geheimhaltend | extrem geheimhaltend |
42 (56 %) | 21 (28 %) | 12 (16 %) |
Es scheint verschiedene Faktoren zu geben, die die Offenheit bzw. die Geheimhaltung beeinflussen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Offenheit und der Schichtzugehörigkeit, der Lebensgeschichte, dem Beruf und den gegenwärtigen Lebensumständen.
Über die Schichtzugehörigkeit wurde bereits gesprochen. Es fällt auf, daß sich die Frauen als besonders geheimhaltend zeigen, deren Väter der mittleren Mittelschicht und der unteren Mittelschicht angehören, während diejenigen überdurchschnittlich offen sind, die der oberen Unterschicht und der unteren Unterschicht entstammen:
Tabelle 7: Offenheit – Schichtzugehörigkeit des Vaters
Eine ähnliche Tendenz zeigt sich im Hinblick auf die Schulbildung der Frauen:
Tabelle 8: Offenheit – Schulbildung
Schulabschluß | N = 75 | offen | geheimhaltend | extrem geheimhaltend |
Volksschule | 31 | 20 (64 %) | 8 (26 %) | 3 (10 %) |
Mittelschule | 25 | 14 (56 %) | 4 (16 %) | 7 (28 %) |
Abitur | 14 | 8 (57 %) | 5(36 %) | 1 (7 %) |
Universität | 5 | – | 4 (80 %) | 1 (20 %) |
Diese Ergebnisse widersprechen dem gängigen Vorurteil, daß die Diffamierung von homosexuellen Verhaltensweisen in der Unterschicht besonders scharf sei. Sie widersprechen auch der Vermutung, die Durchsetzung der herkömmlichen Rollenvorschriften, hier die gegenüber der Frau, sei in der Unterschicht besonders streng. Wäre es so, dann müßten gerade diese Frauen besonders geheimhaltend sein.
Auffallend ist auch, daß von den fünf Frauen, die eine Hochschulausbildung hinter sich haben und die alle geheimhaltend sind, vier der unteren bzw. der mittleren Mittelschicht entstammen und eine der Oberschicht und daß nur eine im Beruf »geheimhaltender« ist als in der Familie.
Eine Interpretation dieser Ergebnisse ist nur sehr vorsichtig möglich. Vielleicht erfahren Frauen in der Unterschicht immer wieder, daß normwidriges Verhalten zwar unerwünscht ist, aber nicht unbedingt zum sozialen Ausschluß führt. Ähnlich verhält es sich wohl mit ledigen Müttern und Kriminellen: Auch deren Verhalten wird von der Familie und der sozialen Umgebung nicht gebilligt, führt aber in der Regel nicht zum dauerhaften Bruch. Möglicherweise fördert also die Erfahrung, daß sehr viele Leute sich normwidrig verhalten, ohne dabei nachhaltige Nachteile in der Gruppe zu erleben, größere Offenheit.
Umgekehrt könnte die Orientierung an sozialem Aufstieg, der u.a. gewährleistet...