Kapitel 2
Schwerbehindertenrecht (Deutschland)
Das Schwerbehindertenrecht umfasst alle rechtlichen Regeln, die die Rechtsverhältnisse von Schwerbehinderten in Deutschland betreffen. Rechtsgrundlage ist seit dem 1. Juli 2001 der zweite Teil des (SGB IX), in dem „Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“ enthalten sind. Nicht zum Schwerbehindertenrecht gezählt werden die Regeln nach dem Bundesversorgungsgesetz über die Versorgung von Personen, die durch militärische oder militärähnliche Dienstverrichtungen gesundheitliche Schädigungen erlitten haben.
Schwerbehinderte Menschen sind Personen, deren körperliche, geistige oder seelische Behinderung einen Grad von wenigstens 50 hat (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Sie stehen in vielfacher Hinsicht unter einem besonderen rechtlichen Schutz und können eine Reihe von Nachteilsausgleichen in Anspruch nehmen.
2.1 Zweck des Schwerbehindertenrechts
Gefördert werden sollen die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Des Weiteren sollen durch das Schwerbehindertenrecht Benachteiligungen von Behinderten vermieden bzw. entgegen- gewirkt werden. Das Schwerbehindertenrecht wurde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts „allein zum Schutz“ der schwerbehinderten Menschen konzipiert.
2.2 Grad der Behinderung
Grad der Behinderung
Das Vorliegen der Behinderung und deren Ausmaß werden als sogenannter Grad der Behinderung (GdB) auf Antrag des Betroffenen durch die zuständigen Behörden (u. a. Versorgungsämter) festgestellt. Der GdB wird – zwischen 20 und 100 – in Zehnerschritten (oft fälschlich als „Prozent“ bezeichnet) bemessen.
Eine Behinderung liegt vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit einer Person mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe dieser Person am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Eine Behinderung wird von der zuständigen Behörde ab einem Grad der Behinderung von 20 festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX).
Eine Schwerbehinderung wird von der zuständigen Behörde ab einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen vor, so wird der GdB im Wege einer Gesamtschau festgesetzt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Dabei werden alle Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt, die wenigstens einen Einzel- GdB von 10 haben (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX).
Die Gleichstellung mit Schwerbehinderten durch die Bundesagentur für Arbeit auf Antrag des Betroffenen soll ab einem GdB von 30 erfolgen, wenn aufgrund der Behinderung ansonsten ein Arbeitsplatz nicht erlangt oder behalten werden kann (§ 2 Abs. 3, § 68 Abs. 2 SGB IX).
Darüber hinaus gibt es noch verschiedene Merkzeichen, die bei besonderer Ausprägung der Schwerbehinderung
erteilt werden: „G“ (erheblich gehbehindert), „aG“ (außergewöhnlich gehbehindert), „B“ (auf der Vorderseite des
Schwerbehindertenausweises steht „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen.“), „H“
(hilflos), „BL“ (blind), „RF“ (Ermäßigung des Rundfunkbeitrags auf Antrag/Sozialtarif bei der T-Com), „GL“ (gehör- los).
Die Einstufung erfolgt seit 2009 nach den Grundsätzen der Versorgungsmedizin-Verordnung.
Auch Kriegsbeschädigungen sind in das gleiche System eingebunden; ein Anspruch auf eine Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz
(Kriegsbeschädigtenrente) besteht aber nur auf die anteiligen kriegsbedingten Schädigungsfolgen.
2.3 Antragstellung
Das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung werden nur auf Antrag des behinderten Menschen durch die nach Landesrecht zuständigen Behörden (meist Versorgungsamt genannt) festgestellt.
2.4 Bescheid der zuständigen Behörde
Die zuständige Behörde teilt die Einstufung in einem Bescheid mit. Dieser Feststellungsbescheid kann mit einem Widerspruch und – falls dieser nicht zum gewünschten Erfolg führt – über ein Verfahren vor dem Sozialgericht angefochten werden.
Dieser Bescheid ist nur für den Betroffenen bestimmt und nicht zum Nachweis der Behinderung gegenüber Behörden, Arbeitgebern usw., weil darin unter anderem die medizinische Diagnose aufgeführt ist: Im zugehörigen Merkblatt ist ausdrücklich erwähnt, dass niemand das Recht hat, Einblick in diesen Bescheid zu verlangen. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass Personalverwaltungen die Vorlage des Feststellungsbescheids verlangen; dazu sind schwerbehinderte Menschen nach der Rechtsprechung nicht verpflichtet.[1]
2.5 Schwerbehindertenausweis
Schwerbehindertenausweis
Die zuständigen Behörden stellen gleichzeitig auch den Schwerbehindertenausweis aus, der zum Nachweis der Be- hinderung gegenüber Behörden, Arbeitgebern usw. bestimmt ist. Er ist in der Regel auf fünf Jahre befristet. Die Befristung der Schwerbehindertenausweise ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Hessen beispielsweise werden die Schwerbehindertenausweise, wenn keine Nachprüfung von Amts wegen vorgesehen ist, auf 15 Jahre oder bis zum 90. Lebensjahr ausgestellt und dann jeweils verlängert. Die Praxis geht in der hessischen Versorgungs- verwaltung allerdings dahin, dass nach Möglichkeit die Ausweise unbefristet ausgestellt werden. Bis zur Vollendung des 9. Lebensjahres werden die Schwerbehindertenausweise ohne Lichtbild ausgestellt, ab dem 10. Lebensjahr wird die Ausstellung eines Ausweises mit Lichtbild erforderlich.
2.6 Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen
Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen
Personen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, können auf Antrag einem schwer- behinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können. Die Gleichstellung erfolgt auf Antrag des behinderten Menschen durch die für seinen Wohnort zuständige Agentur für Arbeit. Für gleichgestellte behinderte Menschen gelten dieselben Regelungen des Schwerbehindertenrechts wie für schwerbehinderte Menschen, mit Ausnahme des Anspruchs auf Zusatzurlaub (§ 125 SGB IX) und des Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Per- sonenverkehr. Gleichgestellte behinderte Menschen haben keinen Anspruch auf die Altersrente für schwerbehinderte Menschen.
2.7 Rechtsfolgen einer Schwerbehinderung
Schwerbehinderte Menschen genießen besonderen Schutz und Förderung im Arbeitsleben. Sie werden unter anderem durch folgende Regelungen geschützt und gefördert:
2.7.1 Besonderer Kündigungsschutz
Schwerbehinderte und gleichgestellte behinderte Menschen haben bei Arbeitsverhältnissen einen besonderen Kündigungsschutz
(§§ 85 bis 92 SGB IX). Ihnen darf ordentlich oder außerordentlich nur gekündigt werden, wenn das Integrationsamt
vorher zugestimmt hat. Eine ohne Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist unwirksam.[2] Voraussetzung für den besonderen Kündigungsschutz ist, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits länger als sechs Monate andauert. Die Kündigungsfrist beträgt dann mindestens vier Wochen (§ 86 SGB IX). Eine bestimmte Größe des Betriebs ist dagegen (anders als beim allgemeinen Kündigungs- schutz) nicht erforderlich.
Die Schwerbehinderung oder die Gleichstellung muss bei Zugang der Kündigung bereits durch die zuständige Be- hörde festgestellt worden sein oder der entsprechende Antrag auf Anerkennung oder Gleichstellung muss bereits mindestens drei Wochen vor dem Zugang der Kündigung gestellt worden sein (§ 90 Abs. 2a SGB IX).[3] Der beson- dere Kündigungsschutz besteht aber stets auch bei offensichtlicher Schwerbehinderung.
Die Unwirksamkeitsfolge tritt auch dann ein, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung nichts wusste, sofern der Gekündigte den Arbeitgeber innerhalb einer Frist von drei Wochen nach Kündigungszugang über seinen Behindertenstatus oder den gestellten Antrag informiert.
Die Kündigung gilt als von Anfang an rechtswirksam, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht erhoben hat (§ 7 in Ver- bindung mit § 4 KSchG). Die Frist läuft aber erst ab Bekanntgabe der Entscheidung des Integrationsamtes an den Arbeitnehmer (§ 4 Satz 4 KSchG). Hat der Arbeitgeber keine Zustimmung beantragt oder erhalten, läuft die Frist also nicht.
2.7.2 Zusatzurlaub
Schwerbehinderte Menschen (nicht: ihnen Gleichgestellte) haben nach § 125 SGB IX Anspruch auf bezahlten zu- sätzlichen Urlaub von einer Arbeitswoche, meist fünf Tage, im Kalenderjahr. Ist die...