Eine Weltkarte. Schwärme von blauen und roten Pfeilen, die sich zu Wirbeln verdichten und gegenläufig wieder zerstreuen. Unterlegt ist dieses Bild mit Kurven, die farbig getönte Zonen verschiedenen Luftdrucks voneinander abgrenzen: Isobaren und Winde. Hübsch sieht eine solche Klimakarte aus; aber wer keine Vorkenntnisse hat, wird sie kaum deuten können. Sie ist abstrakt. Einen dynamischen Prozeß muß sie mit statischen Mitteln abbilden. Nur ein Film könnte zeigen, worum es geht. Der normale Zustand der Atmosphäre ist die Turbulenz. Das gleiche gilt für die Besiedelung der Erde durch den Menschen.
Auch nach einem guten Jahrhundert paläontologischer Forschung ist die Herkunft des homo sapiens noch immer nicht zweifelsfrei geklärt. Man scheint sich aber darauf geeinigt zu haben, daß diese Spezies zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent aufgetreten ist und daß sie sich durch eine lange, in komplizierten und riskanten Schüben verlaufende Kette von Migrationen über den ganzen Planeten ausgebreitet hat. Seßhaftigkeit gehört nicht zu den genetisch fixierten Eigenschaften unserer Art; sie hat sich erst relativ spät ausgebildet, vermutlich im Zusammenhang mit der Erfindung des Ackerbaus. Unsere primäre Existenz ist die von Jägern, Sammlern und Hirten.
Aus dieser nomadischen Vergangenheit mögen sich gewisse atavistische Züge unseres Verhaltens erklären, die ansonsten rätselhaft anmuten, wie der Massentourismus oder die leidenschaftliche Liebe zum Automobil.
Im Mythos von Kain und Abel wird der Konflikt zwischen wandernden und seßhaften Stämmen faßbar. »Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.« Der territoriale Konflikt endet mit einem Mord. Die Pointe der Geschichte besteht darin, daß der Seßhafte, nachdem er den Nomaden getötet hat, seinerseits vertrieben wird: »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.«
Die Geschichte der Menschheit läßt sich als Entfaltung dieser Parabel lesen. Über Jahrtausende hinweg bilden sich immer wieder stationäre Populationen. Aufs Ganze und auf die Dauer gesehen, bleiben sie jedoch die Ausnahme. Die Regel sind: Raub- und Eroberungszüge, Vertreibung und Exil, Sklavenhandel und Verschleppung, Kolonisation und Gefangenschaft. Immer war ein erheblicher Teil der Menschheit in Bewegung, auf der Wanderung oder auf der Flucht, aus den verschiedensten Gründen, auf gewaltförmige oder friedliche Weise – eine Zirkulation, die zu fortwährenden Turbulenzen führen muß. Es handelt sich um einen chaotischen Prozeß, der jede planende Absicht, jede langfristige Prognose zunichte macht.
Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Diese Auffassung läßt sich rational nicht begründen. Um so tiefer scheint sie verwurzelt zu sein.
Dennoch kommt es so gut wie nie zu offenen Auseinandersetzungen. Das liegt daran, daß die Fahrgäste einem Regelsystem unterliegen, das nicht von ihnen abhängt. Ihr territorialer Instinkt wird einerseits durch den institutionellen Code der Bahn, andererseits durch ungeschriebene Verhaltensnormen wie die der Höflichkeit gebändigt. Also werden nur Blicke getauscht und Entschuldigungsformeln zwischen den Zähnen gemurmelt. Die neuen Fahrgäste werden geduldet. Man gewöhnt sich an sie. Doch bleiben sie, wenn auch in abnehmendem Grade, stigmatisiert.
Dieses harmlose Modell ist nicht frei von absurden Zügen. Das Eisenbahnabteil ist ein transitorischer Aufenthalt, ein Ort, der nur dem Ortswechsel dient. Die Fluktuation ist seine Bestimmung. Der Passagier ist die Negation des Seßhaften. Er hat ein reales Territorium gegen ein virtuelles eingetauscht. Trotzdem verteidigt er seine flüchtige Bleibe nicht ohne stille Erbitterung.
Jede Migration führt zu Konflikten, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wird, welche Absicht ihr zugrunde liegt, ob sie freiwillig oder unfreiwillig geschieht und welchen Umfang sie annimmt. Gruppenegoismus und Fremdenhaß sind anthropologische Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, daß sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen. Um sie einzudämmen, um dauernde Blutbäder zu vermeiden, um überhaupt ein Minimum von Austausch und Verkehr zwischen verschiedenen Clans, Stämmen, Ethnien zu ermöglichen, haben altertümliche Gesellschaften die Tabus und Rituale der Gastfreundschaft erfunden. Diese Vorkehrungen heben den Status des Fremden aber nicht auf. Sie schreiben ihn ganz im Gegenteil fest. Der Gast ist heilig, aber er darf nicht bleiben.
Nun öffnen zwei weitere Passagiere die Tür des Abteils. Von diesem Augenblick an verändert sich der Status der zuvor Eingetretenen. Eben noch waren sie Eindringlinge, Außenseiter; jetzt haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandelt. Sie gehören zum Clan der Seßhaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle Privilegien für sich in Anspruch, von denen jene glauben, daß sie ihnen zustünden. Paradox wirkt dabei die Verteidigung eines »angestammten« Territoriums, das soeben erst besetzt wurde; bemerkenswert das Fehlen jeder Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige Initiation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mußten; eigentümlich die rasche Vergeßlichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet wird.
Clans und Stammesverbände gibt es, seitdem die Erde von Menschen bewohnt ist; Nationen gibt es erst seit ungefähr zweihundert Jahren. Der Unterschied ist nicht schwer zu sehen. Ethnien entstehen quasi naturwüchsig, »von selbst«; Nationen sind bewußt geschaffene, oft ganz künstliche Gebilde, die ohne eine spezifische Ideologie nicht auskommen. Diese ideologische Grundlage, samt den dazugehörigen Ritualen und Emblemen (Flaggen, Hymnen), ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Sie hat sich, von Europa und Nordamerika aus, auf der ganzen Welt ausgebreitet.
Ein Land, das es zur Nation bringen will, braucht ein wohlcodiertes Selbstverständnis, ein System von eigenen Institutionen (Armee, Zoll, Polizei, Diplomatie) und vielfältige juristische Mittel zur Abgrenzung nach außen (Souveränität, Staatsangehörigkeit, Paßwesen usw.).
Vielen, aber nicht allen Nationen ist es gelungen, ältere Formen der Identifikation auf sich zu übertragen. Das ist eine psychologisch diffizile Operation. Mächtige Gefühle, von denen früher kleinere Verbände beseelt waren, sollen auf diese Weise zugunsten der modernen Staatenbildung mobilisiert werden. Dabei geht es selten ohne Geschichtslegenden ab. Beweise für die glorreiche Vergangenheit der eigenen Ethnie werden notfalls gefälscht, ehrwürdige Traditionen schlichtweg erfunden. Die abstrakte Idee der Nation konnte aber nur dort ein selbstverständliches Leben gewinnen, wo der Staat sich organisch aus älteren Zuständen entwickeln durfte. Je artifizieller seine Entstehung, desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl. Das gilt für die »verspäteten Nationen« Europas, für die neuen Staaten, die aus dem Kolonialsystem hervorgegangen sind, aber auch für Zwangsunionen wie die UdSSR und Jugoslawien, die zum Zerfall oder zum Bürgerkrieg tendieren.
Natürlich gibt es nirgends auf der Welt Nationen mit einer kompakten, ethnisch absolut homogenen Bevölkerung. Dem Nationalgefühl, das sich in den meisten Staaten herausgebildet hat, ist diese Tatsache von Grund auf zuwider. Infolgedessen fällt es dem »Staatsvolk« dort in aller Regel schwer, sich mit der Existenz von Minderheiten abzufinden, und jede Einwanderungsbewegung gilt dort als politisches Problem. Die wichtigsten Ausnahmen von diesem Schema sind jene modernen Staaten, die ihre Existenz Migrationen großen Umfangs verdanken; vor allem die USA, Canada und Australien. Ihr Gründungsmythos ist die tabula rasa. Die Kehrseite dieser Medaille ist die Ausrottung der Urbevölkerung, deren Resten erst in jüngster Zeit wesentliche Minderheitenrechte eingeräumt worden sind.
Fast alle anderen Nationen rechtfertigen ihre Existenz durch eine wohlzementierte Selbstzuschreibung. Die Unterscheidung zwischen »eigenen« und »fremden« Leuten kommt ihnen ganz natürlich vor, auch wenn sie historisch äußerst fragwürdig ist. Wer an ihr festhalten will, müßte eigentlich, seiner eigenen Logik folgend, behaupten, er sei schon immer dagewesen – eine These, die nur allzuleicht zu widerlegen ist. Insofern setzt eine ordentliche Nationalgeschichte...