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E-Book

Testfall Ukraine

Europa und seine Werte

VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518741023
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR


<![CDATA[Katharina Raabe, geboren 1957 in Hamburg, ist Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag. <p>Manfred Sapper, geboren 1962, ist Chefredakteur der Zeitschrift <em>Osteuropa</em>.</p>]]>

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Leseprobe

Kateryna Mishchenko
Stille Aktion


Vor ein paar Tagen meldete die Presse, in der Ukraine habe es ein leichtes Erdbeben gegeben, dessen Ausläufer selbst in Kiew zu spüren waren. Genau zu dieser Zeit wurde hier der Toten des Maidan gedacht und der Jahrestag der ersten Proteste begangen. Die Nachricht ließ mich über die politische Tektonik des Maidan nachdenken, schließlich war er ja unter anderem auch ein Anstoß gewesen, ein Nullpunkt, auf den die Ungewissheit folgte. Wie hat sich nun diese Tektonik verändert, welche Schichten sind verschwunden und was für ein Relief ist entstanden? Der Boden unter den Füßen bewegt sich immer noch; infolge der schrecklichen Verschiebungen von der städtischen Befreiungsguerilla gegen Regierung und Miliz hin zu Okkupation und Krieg hat sich unter unseren Füßen ein Abgrund aufgetan, dessen Magnetfelder Menschenleben wertlos machen und dazu zwingen, die Wirklichkeit nur als Kampf ums Überleben zu sehen; Platz für Gedanken und Kreativität ist hier nicht vorgesehen.

Die Totalität des Maidan, sein Hinausgehen über die Grenzen des dreidimensionalen Raumes, ließ keine Möglichkeit, ihn irgendwie vollwertig zu benennen. Welchen Namen wir diesem Phänomen auch gaben – politisches Wunder, Gesamtkunstwerk, soziale Bewegung, Revolution –, es blieb immer noch etwas Anderes, Unausgesprochenes. Die Menschen schienen einen anderen Kosmos geschaffen zu haben, der ein neues Verständnis von der eigenen Person, von Politik und Gesellschaft prägte. Ich bin mir nicht sicher, ob die Zeit helfen kann zu vermessen, was mit diesem Kosmos jetzt passiert. Vielleicht existiert er wie die Galaxie in einem kleinen Amulett aus einem Science-Fiction-Film als kleinere Einheit: »der Maidan im Kopf«, »in der Seele«, »im Herzen«, auf Fotos, in Büchern, auf Video – in den Spalten unserer Realität, aber er ist sicher nicht mehr so allgegenwärtig wie früher.

Das Universum des Maidan hat sich ins Innere zurückgezogen, ist auf eine glatte Oberfläche zusammengeschrumpft. Am 21. November 2014 kamen Menschen mit Blumen, Kerzen und Plakaten auf diese Oberfläche, sie kamen, um zu gedenken – nicht nur der Toten, sondern auch ihrer Erfahrung von Kollektivität, sie kamen, um die Kraft in den Muskeln des körperlichen Gedächtnisses zu spüren. Als ich diese Oberfläche betrat, erkannte ich den Maidan wieder und gleichzeitig auch nicht. Unter den Füßen neue Pflastersteine, ein riesiges, kitschiges Banner verdeckt das ausgebrannte Gewerkschaftsgebäude, die Zelte und Barrikaden sind verschwunden – die Stadtreinigung hat im Auftrag des neuen Bürgermeisters versucht, auf die Schnelle die sozialen Wunden zu flicken oder einfach ein paar Pflaster darauf zu kleben. Uns wird davon abgeraten, in diese Wunden zu blicken, für eine Weile oder auch auf lange Zeit. Schließlich sind mit der Krim und dem Donbass neue Epizentren entstanden.

Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Okkupation der ukrainischen Stadtzentren sind diese Territorien von repressiven Militärapparaten okkupiert, die die Gesellschaft als solche vernichten wollen. Geografisch betrachtet, erinnerte der Maidan an eine von Barrikaden begrenzte und von Menschenströmen umspülte Insel mitten in der Stadt. Die Annexion der Krim, ihre Umwandlung in eine okkupierte Insel, war die konterrevolutionäre Antwort auf den Protest. Die als Volksaufstand maskierte Eroberung der Städte im Donbass und die Verbreitung von Thesen über einen Bürgerkrieg zwingen uns in aller Dreistigkeit eine politische Symmetrie der Ereignisse auf, in deren Folge zwei angeblich gleichberechtigte Seiten entstehen. Diese Seiten existieren jedoch nur in einer Dimension – auf der Oberfläche. Durch eine oberflächliche oder gar platte Interpretation lassen sich Debatten über neoimperialistische Ressentiments und befreienden Ungehorsam, über Protest von unten und einen von oben aufgezwungenen Konflikt, über Hierarchien auf internationaler Ebene umgehen. Der öffentliche Diskurs zwingt dazu, den Maidan aus der Vogelperspektive zu betrachten, als konspirativ interpretierte Oberfläche, und den derzeitigen emanzipativen Kampf der ukrainischen Bürger als Krieg um Territorien beziehungsweise die Neuaufteilung von »Einflusssphären«.

Als Antwort auf diesen Prozess kann man nur entschlossen auf das Unsichtbare blicken. Gemeinsam mit denen suchen, lernen und denken, die, nachdem sie im Frühjahr den öffentlichen Raum verlassen haben, ihre kleine Galaxie fest umschlossen halten und ins Ungewisse gehen, das sie sich in einer tollkühnen Schlacht erkämpft haben. Ihre Stimmen klingen aus den Spalten der rasend schnell verschwindenden Realität, manchmal jage ich ihnen nach und gerate dabei in diverse Leerstellen meiner Erinnerung, wobei ich paradoxerweise vergesse, dass draußen eine schreckliche neue Welt entsteht.

 

***

 

»Was ich am 30. November mache? Das ist Sonntag. Unter den Maidanlern ist ein Toter, den ich persönlich kannte. Der Mann unserer Krankenschwester. An diesem Tag würde ich mich gern mit ihr treffen und auch mit einigen von meinen Klienten, ihnen diese historischen Orte zeigen. Man könnte eine völlig stille Aktion machen. Warum eine stille, Katja – weil jetzt die alltägliche Arbeit zählt und keine ins Mikro gerufenen Losungen. Der Maidan ist ein so totales und besonderes Thema, aber eins weiß ich genau: Die Menschen, die versuchen, etwas zu bewegen, was sich nicht bewegen lässt, verdienen unsere Achtung, und ihre Anstrengungen sind keine Sisyphusarbeit.«

Am Ende des Arbeitstages sitze ich mit Olexij, einem Mitarbeiter des Kiewer Sozialdienstes, in seinem Beratungszimmer. Wir haben uns auf einem Seminar für Sozialarbeiter kennengelernt, in der sogenannten Nach-Maidan-Zeit, im Herbst, als sich alle Tischgespräche in der Mittagspause um Krieg, Umsiedler, Kriegstechnologie und die Frage drehten, wer von den internationalen Politikern sich wie zu den Ereignissen im Donbass geäußert hatte. Olexij hat mit den am stärksten marginalisierten, einfacher gesagt, am wenigsten gebrauchten Menschen in der Ukraine zu tun, mit Straßenkindern, Drogenabhängigen, Alkoholikern und Armen, aber auch mit ihren Verfolgern, der Miliz, und verfügt über einen Schatz an unzähligen mündlichen Geschichten, deren Nacherzählung er immer mit den Worten beginnt: »Ich hatte mal einen Klienten …« Er hatte im psychologischen Dienst des Maidan gearbeitet, operative soziale Unterstützung geleistet. Unter dieser Bezeichnung verstehe ich psychologische Beratung oder die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für Menschen aus anderen Orten. Wobei die Anlaufstelle der ersten Binnenflüchtlinge der Maidan selbst war. Die Menschen kamen aus anderen Städten mit ihren ungeklärten gerichtlichen Angelegenheiten, sie kamen, um auf Kiews zentralem Platz »Gerechtigkeit zu finden«. Einige waren gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, weil sie zu Hause Drohungen bekommen hatten, weil sie die Proteste unterstützten oder daran teilgenommen hatten; hier besorgten sie sich neue Papiere, genauso wie diejenigen, deren Papiere schon auf dem Maidan verbrannt waren. Jetzt ist Olexij regelmäßig auf dem Bahnhof im Einsatz, wo er Umsiedler berät. Aber die Maidanler kommen immer noch zu ihm. Ihre Berichte schreibt er gewissenhaft auf und verwahrt sie sorgfältig in einem Safe. Denn am stärksten interessieren sich nicht Verlage oder Journalisten für diese Berichte, sondern die Miliz.

»Ich habe einen Klienten, einen Maidanler aus Armjansk. Er kann überhaupt nicht schlafen. Von den Pillen, die er verschrieben bekommen hat, hilft überhaupt nichts. Er hat eine Quetschung und mehrere Verletzungen. Er hört nur mit Hörgerät. Seit einiger Zeit trinkt er zwei, drei Flaschen Gin Tonic, nur so kann er einschlafen. Er wurde als potentieller Alkoholiker zu mir geschickt, braucht psychologische Hilfe. Solche Fälle gibt es bei uns sehr viele, wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Leute zu einem anderen Leben zurückfinden müssen. Und das Leben, das es gibt, ist kein ruhiges.«

Die Unmöglichkeit zurückzukehren ist ein durchgängiges Symptom unserer Zeit, wohl nicht nur in der Ukraine. Diejenigen, die nach den unglaublichen Erfahrungen letzten Winter in Kiew an ihre Fernsehbildschirme und Laptops zurückgekehrt sind, wissen genau, dass sie nicht mehr dort sind, wo sie früher waren. Der Schmerz und die körperlich spürbare Realität nach Jahren virtueller Politik und virtueller Kommunikation lassen nicht nach, sosehr sie auch versucht haben, so zu tun, als sei alles wieder beim Alten. Und diese merkwürdige Bezeichnung für unsere Flüchtlinge: »Binnenvertriebene« … Die trockene Amtssprache kriecht in die Seele, lässt die subjektiven Verschiebungen durchscheinen. Hunderttausende mussten im wahrsten Sinne des Wortes vor der Wirklichkeit fliehen. Sie haben ihr Zuhause, ihre Angehörigen und ihren Glauben an die Zukunft verloren. Andere traten die Flucht ins Innere an – ins Privatleben, in die Arbeit, in die Sucht, ja sogar in den Wahnsinn. Die Soldaten, die auf Urlaub zu Hause sind, schweigen oft und wollen nicht viel reden, obwohl sie sich in den Fernsehreportagen nicht wiederfinden. Ich frage mich ständig, wohin sich die Angehörigen der zwanzigjährigen Jungs flüchten können, deren Leichen kreuz und quer durch die Ukraine transportiert werden. Und wird es irgendwann irgendwo einen Ort geben, an den die Kriegsflüchtlinge ihr Leben verschieben können?

 

***

 

»Der wird schon ganz zu Recht mit Hitler verglichen, das ist einfach ein Scheusal. So viele, wie der ins Unglück gestürzt hat!«

»Poroschenko hat ihm halt die Hand gegeben, na und? Was soll er denn machen, wenn sie sich...

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