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E-Book

Vom Strafvollzug zum letzten Chef der Volkspolizei

Keine gewöhnliche Generalslaufbahn

AutorDieter Winderlich
VerlagEdition Berolina
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783958415447
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Um den Strafvollzug in der DDR ranken sich bis heute zahlreiche Mythen. Dieter Winderlich, Strafvollzugsbeamter, Stellvertreter des DDR-Innenministers und Generalmajor a. D., gewährt exklusiv tiefen Einblick in den Arbeitsalltag des DDR-Strafvollzugs und in seinen Aufstieg zum letzten Chef der Volkspolizei. Seine Arbeit war geprägt von ungebrochenem Modernisierungsstreben und beharrlichem Reformwillen - vor allem unter den schwierigen Bedingungen der Wendezeit, in der die DVP für einen friedlichen Ablauf sorgte. Fundiert und kritisch nimmt er deshalb das Rentenstrafrecht unter die Lupe, das viele ihrer Angehörigen zu den Verlierern des neuen Deutschlands macht. Dieter Winderlich räumt auf mit grassierenden Vorurteilen gegenüber der Deutschen Volkspolizei und dem Strafvollzug der DDR und schreckt dabei nicht vor unbequemen Einsichten zurück. Ein außergewöhnlicher Mann mit keiner gewöhnlichen Karriere!

Dieter Winderlich, geboren 1938 in Lüben/Schlesien, ist ausgebildeter Lichtbogenschweißer, Pädagoge und Diplomjurist. Nach seiner Tätigkeit als Leiter des Jugendgefängnisses in Wriezen wurde er 1974 ins Ministerium des Innern der DDR berufen. Dort arbeitete er in der Verwaltung Strafvollzug sowie als Sekretariatsleiter von Innenminister Dickel. Dieter Winderlich war unter der Modrow-Regierung der letzte Chef der Deutschen Volkspolizei. Nach der Übergabe der Institution an das Innenministerium des Kabinetts von Lothar de Maizière fungierte er als Leiter der Abteilung für die Zusammenarbeit mit Bund und Ländern der BRD. Am 2. Oktober 1990 wurde er als Chefinspekteur a. D. entlassen.

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Leseprobe

Kindheit unter den Auswirkungen des faschistischen Weltkriegs

Mein Leben begann schon nach acht Monaten im schützenden Mutterleib. Am Sonntag, den 4. Dezember 1938 erblickte ich in der Kleinstadt Lüben in Schlesien als zweiter Sohn das Licht der Welt. Mein Vater war Musiker und hatte sich für zwölf Jahre zur Wehrmacht verpflichtet. Er diente in der Garnison Lüben als Militärmusiker.

Das Ehepaar Winderlich mit ihren Söhnen Gerhard
und Dieter (im Hintergrund)

Immer, wenn Regierende einen Krieg führen wollen, suchen sie nach einem zugkräftigen Grund, um die friedliebende Bevölkerung für das Töten zu begeistern. Oft gibt es solch einen Grund nicht, was nicht schlimm ist, man kann ja schnell einen schaffen. So war es auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. SS-Leute, getarnt als Polen, überfielen den deutschen Sender Gleiwitz, ließen einen echten Polen tot zurück und verkauften es als Kriegsgrund. Am 1. September 1939 wurde Polen durch die deutsche Wehrmacht überfallen, und ein Weltkrieg begann seinen zerstörerischen Lauf.

Der Militärmusiker Alfred Winderlich musste noch nicht in den Krieg ziehen. Er spielte flotte Marschmusik, wenn die jungen Rekruten aus den Kasernen auszogen und zum Bahnhof in Lüben marschierten. Ehe sie nach Polen und später an die Westfront abfuhren, wurde ihnen mit schmetternder Musik ein Siegesgefühl fürs Vaterland eingeblasen. Manchmal musste das Militärorchester Trauermusik spielen, wenn gefallene Söhne heimkehrten. Aber nach der »Heldenbeisetzung« wurde mit flotter Marschmusik weitermarschiert.

Mit der Ausweitung des Krieges wurden mehr Soldaten gebraucht, und so kam es zur Auflösung des Militärorchesters Lüben. Jetzt musste auch Alfred an die Front. Die Familie zog zu den Verwandten nach Guhlau. Ziemlich am Ende der Dorfstraße lag rechterhand das Haus, in dem wir wohnten.

Dieter als Kind auf dem Bauernhof der Großeltern

Am 20. November 1943 wurde mein Bruder Hans geboren, nun waren wir schon drei. 1944 wurde ich eingeschult und musste fortan täglich zu Fuß nach Prausnitz zur Schule laufen. Unsere Lehrerin war eine alte Dame, die man wieder in den Schuldienst geholt hatte, obwohl sie schon pensioniert war. Für kleinste Vergehen gab es Schläge mit einer Rute auf die Handflächen, was wir als »tapfere Soldaten« ertrugen. Für nicht erledigte Hausaufgaben musste man sich über die erste Bank legen und bekam einige Schläge aufs Gesäß.

Weihnachten und Silvester 1944 verliefen in einer eigenartigen Stimmung. Opa Wilhelm und die anderen letzten alten Männer des Dorfes waren zum Volkssturm eingezogen worden. Vor uns Kindern wurde getuschelt. Wir erfuhren es aber dennoch: Die Russen kommen! Wir müssen weg. Nun wusste ich nicht, was Russen sind. Auf meine Frage sagte mir Oma Anna: »Das sind Menschen aus einem großen Land. So ähnlich wie unser Nachbar, der Pole.«

Mich überzeugte dies nicht. Der Herr Belelawski aus Omas Nachbarschaft war gut zu uns Kindern. Warum sollten wir wegen solchen guten Menschen weggehen? Also ging ich mit derselben Frage zu Oma Minna. Die erzählte mir dann, dass die Russen schlechte Menschen sind, die uns umbringen wollen und wenn nicht, schneiden sie den Kindern die Ohren ab. Deshalb sei mein Vati in Russland, um dies zu verhindern. Nun war mir klar, wir mussten weg aus Guhlau.

Ein großes Schlachten und Braten begann in Oma Minnas Küche. Hühner und Gänse wurden gebraten, Schweineschmalz ausgelassen und vieles eingeweckt. Jeden Tag konnten wir Kinder uns im Keller das eingeweckte Obst aussuchen, das es dann reichlich als Kompott gab. So stellte ich mir das Schlaraffenland vor.

Nach Silvester begann die große Unruhe. Alles wurde zur Flucht vorbereitet. Wir Kinder durften nur einen kleinen Rucksack mit Spielsachen mitnehmen. Meine Mutter und Oma Minna packten auf der Tenne einen großen Leiterwagen, wie er im Schlesischen zum Einfahren des Heues und des Getreides benutzt wurde.

In der ersten Hälfte des Januars 1945 war es dann soweit. In der Nacht, so gegen dreiundzwanzig Uhr, kam ein Beauftragter des Ortsgruppenleiters und trommelte gegen die Türen. Um Mitternacht spannte Oma Minna drei Pferde vor den großen beladenen Leiterwagen. Aus allen Gehöften fuhren die Fuhrwerke auf die schneebedeckte Dorfstraße.

Wochenlang fuhr der Flüchtlingstreck gen Westen, und wir landeten im Frühjahr 1945 im Sudetenland, in einem Schloss der Stadt Aussig. Im April 1945 kam mein Vater auf Genesungsurlaub. Er hatte eine schwere Kopfverletzung erlitten. Monatelang war er im Lazarett, wo man ihm eine Silberplatte in die Schädeldecke einpflanzte.

Nach seinem Genesungsurlaub musste sich Vater trotz der schweren Operation wieder bei der Wehrmacht melden. Drei Wochen danach war alles vorbei.

Am 1. Mai wurde in der Nähe des Schlosses geschossen. Wir sahen aus dem Fenster und bemerkten bewaffnete Zivilisten. Dann schrie jemand: »Die Russen kommen!« Jetzt wurden überall weiße Fahnen aus den Fenstern gehangen. Auch meine Mutter hängte ein Bettlaken raus. Und dann kamen sie. Ein paar Panzer ratterten vorbei und danach Panjewagen an Panjewagen, besetzt mit wild aussehenden Soldaten der Roten Armee.

Wir Kinder liefen auf die Straße und winkten den Soldaten zu. Wir hatten keine Angst, dass sie uns die Ohren abschneiden würden, denn die Soldaten, die wir sahen, saßen auf ihren kleinen Wägelchen, spielten Harmonika und sangen Lieder. Als sie uns Brot gaben und Bonbons herunterwarfen, war die Scheu endgültig vorbei.

Als wir wieder ins Schloss kamen und auf die Gardinenpredigt gespannt waren, geschah ein Wunder. Unser Vater stand fröhlich und frisch rasiert im Zimmer. Wir erfuhren jetzt, dass er immer bei uns gewesen war. Nach Ende des Genesungsurlaubs wollte er nicht mehr in den sinnlosen Krieg ziehen. Meine Mutter und die Großeltern hatten ihn im Schloss versteckt und versorgt, ohne dass dies jemand gemerkt hatte. Wir freuten uns alle riesig, dass er da war und lebte. Endlich war der Krieg für uns aus.

Es war, so glaube ich, noch im Monat Mai, als die tschechischen Behörden alle deutschen Flüchtlinge aufforderten, in ihre Heimat zurückzukehren. Nun galt es wieder einen Treck vorzubereiten, diesmal musste aber zu Fuß gegangen werden.

Nach wochenlangen Fußmärschen kamen wir im Sommer in der alten Heimat Guhlau an. Alle begannen sich wieder einzurichten, reparierten, was kaputt war, und machten überall Ordnung. Alle Erwachsenen waren zur Arbeit im benachbarten Rittergut verpflichtet.

Im August geschah etwas Schreckliches: Der russische Verwalter, der als Folge des Krieges nur noch ein Bein hatte, wurde von bewaffneten polnischen Banden bei einem Überfall auf das Rittergut erschossen. Schon vorher hatte es Informationen aus anderen Dörfern über plündernde, bewaffnete Polen gegeben. Das alles führte zu Verunsicherung und Angst. Was wird wohl erst die Zukunft bringen?

Die Ungewissheit dauerte nicht lange, und die Zukunft brachte nichts Gutes. Eines späten Abends im August kam eine Gruppe polnischer Soldaten, man erkannte sie an ihren eckigen Mützen, ins Dorf. Mit vorgehaltener Maschinenpistole wurden alle Bewohner in den Hof von Oma Anna getrieben. Es war ein schrecklicher Anblick: Die Frauen hatten ihre Kleinkinder auf dem Arm, die Großeltern uns größere an sich gezogen, und im Schein der Hoflampe und eines Scheinwerfers des Militärjeeps harrten alle mit erschrockenen Gesichtern aus. Schon als uns die polnischen Soldaten aus dem Haus geholten hatten, hatten sie gebrüllt und uns Angst eingejagt. Auf dem Hof standen die Männer abseits unter strenger Bewachung. Bisher wurde noch kein Wort Deutsch gesprochen. Alle dachten an das Schrecklichste: Erschießungen wegen der Überfälle, die man dem deutschen Werwolf andichten wollte.

Plötzlich hörte das Brüllen auf. Es trat Totenstille ein. Ein polnischer Offizier stieg aus einem Jeep und stellte sich mit einem älteren Zivilisten am Hoftor auf. Dieser übersetzte, was der polnische Offizier den Dorfbewohnern zu verkünden hatte: »Alle Deutschen haben bis morgen acht Uhr früh auf dem Marktplatz von Prausnitz zwecks Aussiedlung nach Deutschland zu erscheinen. Dieses Gebiet wird polnisch. Die Aussiedlung erfolgt zu Fuß. Jeder kann das mitführen, was er tragen kann.« Großes Gemurre setzte ein. Die Soldaten stiegen auf ihre Autos und fuhren ab. Alle begaben sich nach Hause, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre.

Von dem wochenlangen Marsch nach Deutschland oder, wie die Erwachsenen sagten, ins Reich ist mir nur in Erinnerung geblieben, was für einen sechsjährigen Jungen äußerst ungewöhnlich erschien. Es gab auch ein positives Erlebnis, welches mich wohl für mein späteres Leben prägte.

Es war wieder mal so ein Tag, von denen es viele gab. Ich trottete hinter dem Handwagen der Großeltern her. Opa Wilhelm zog den Wagen, Oma schob, und ich suchte bei ihr Trost, weil mir die Latscherei wieder zu schaffen machte. Es ging in einem Waldstück eine ziemlich gerade Straße bergauf. Ich hatte Durst, Hunger hatten wir ja immer, und der Berg nahm kein Ende. So vor mich hin jammernd, zogen wir am Ende des Trecks bergauf. Auf einmal tauchte neben uns ein junger Russe mit einem Herrenfahrrad auf. Er musste meine Querelen schon länger beobachtet haben. Er stieg vom Rad, sagte etwas zu mir und setzte mich blitzschnell auf die Querstange seines Fahrrades. Da er mich dabei anlächelte, hatte ich keine Scheu. Er stieg auf, und wir radelten an der Kolonne vorbei, wobei ich allen irgendetwas zurief. Die anderen Kinder winkten mir zu, und warum die Erwachsenen wie versteinert guckten, wollte mir nicht einleuchten. Was hatten sie nur? Meine Mutter schrie mir sogar zu,...

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