1. Bewusst im Hier und Jetzt
„Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.“
Henry Thoreau
„Da bin ich“, ruft mein dreijähriger Sohn, während er die Tür aufreißt, mit den schlammverschmierten Stiefeln den Flur entlangrast und sich in meine Arme wirft. Da ist er, ganz im Moment, ohne sich um das Vorher oder Nachher zu kümmern. Voller Wiedersehensfreude.
Diese Qualität des Erlebens kennen wir alle, diese Momente, in denen wir „im Flow“ sind und alles zusammenzupassen scheint; Momente, in denen wir uns und das Leben um uns herum intensiv wahrnehmen und ganz in dem aufgehen, was wir gerade tun. Dies müssen nicht nur die „leichten“ Augenblicke des Lebens sein. Auch wenn wir anfallende Schwierigkeiten mit Ruhe und Kreativität angehen, hinterlässt das ein erfüllendes Gefühl des Beschwingtseins in uns.
Was all diesen Flow-Momenten gemein ist, ist das Sein im Moment, das von Klarheit und intensiver Wahrnehmung geprägt ist.
Werden wir älter und reflektierter, verlieren wir die kindliche Unbefangenheit des Dreijährigen, der noch nicht die Folgen seines Handelns überblickt und sich so ganz unbefangen auf den Moment einlassen kann. Er antizipiert vor seinem Tun nicht, dass anschließend der Flur mit Eimer und Putzlappen erst mal vom Schlamm befreit werden muss.
Die kindliche Unbefangenheit geht uns verloren, dafür präsentiert uns unser Gehirn fast zeitgleich Folgen und Konsequenzen einer überstürzten Impulshandlung. Wir wägen alle möglichen Eventualitäten ab und kommen so „zum Glück“ zu dem Entschluss, dass auch das Ausziehen der Schuhe vor dem Eintreten unserer Wiedersehensfreude keinen Abbruch tut. Nur ist es meist sehr viel mehr, was nottäte, hinter uns gelassen zu werden, als nur unsere Schuhe. Denn wie oft ist das Ankommen belastet von dem Stress des Arbeitstages und den Gedanken daran, was noch erledigt werden muss. Und dies steht zudem nicht selten noch in Widerstreit mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen: „Eigentlich will ich nur noch in die Badewanne und dann ins Bett!“ So findet ein richtiges Ankommen, das ungetrübte „Da bin ich“, nicht mehr statt.
An meiner Tür hängt eine Kalligrafie von Thich Nhat Hanh, einem vietnamesischen Zen-Meister (Abbildung 1.1):
Abbildung 1.1: Kalligrafie von Thich Nhat Hanh (mit freundlicher Genehmigung des Europäischen Instituts für Angewandten Buddhismus)
Sie erinnert mich daran, anzukommen, den Raum immer wieder neu zu betreten und mich an dem, was da ist, zu erfreuen. Ich bin zu Hause.
Im Moment ankommen – darum geht es in der Achtsamkeitspraxis. Und dies ist zugleich die Basis für Gesundheit und Resilienz (nicht nur) im Schulalltag.
* * *
Achte gut auf diesen Tag
Achte gut auf diesen Tag,
denn er ist das Leben –
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf liegt alle Wirklichkeit
und Wahrheit des Daseins.
Die Wonne des Wachsens – die Größe der Tat –
die Herrlichkeit der Kraft.
Denn das Gestern ist nur ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.
Das Heute jedoch – recht gelebt –
macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück
und jedes Morgen zu einer Vision voller Hoffnung.
Darum achte gut auf diesen Tag.
(unbekannt, aus dem Sanskrit)
* * *
1.1 Achtsamkeit – was ist das eigentlich?
Diese Frage stelle ich meinen Student*innen immer in der ersten Sitzung des Seminars „Kommunikation und Achtsamkeit“. Häufige Antworten darauf sind: „Der Respekt vor dem Gegenüber“, „die Fähigkeit, sich einzufühlen, empathisch zu sein“, „Wertschätzung entwickeln“. Diese Definitionen lenken den Blick auf unser Gegenüber, nach außen. Andere Student*innen erweitern die Perspektive und beziehen sich selbst mit ein: „Es geht darum, sich selbst zu spüren, die eigenen Emotionen und Gedanken wahrzunehmen.“ Es erfolgt also eine Aufteilung in Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ich stelle daraufhin die Definition von Paul Grossmann vor (2004, S. 73):
„Achtsamkeit ist durch ein gelassenes, nichtwertendes und kontinuierliches Gewahrsein wahrnehmbarer geistiger Zustände und Prozesse von Augenblick zu Augenblick gekennzeichnet. Dies bedeutet ein anhaltendes, unmittelbares Gewahrsein körperlicher Empfindungen, Wahrnehmungen, Affektzustände, Gedanken und Vorstellungen.“
Was ich an dieser Definition sehr schätze, ist, dass es hier keine Unterscheidung oder Trennung von Ich und Du gibt. Es ist ein „unmittelbares Gewahrsein körperlicher Empfindungen, Wahrnehmungen, Affektzustände, Gedanken und Vorstellungen“, sowohl der eigenen Zustände als auch der meines Gegenübers: Ich nehme mein Gegenüber in der Interaktion automatisch über meine Sinne wahr. In meinem Gehirn (in den sogenannten sensorischen Projektionszentren) werden diese Reize mit den bereits gespeicherten Daten abgeglichen und Spiegelneurone geben Signale an meine Nervensysteme, sodass ich empfinden kann, wie sich mein Gegenüber fühlt (s. Kasten). In der Neurowissenschaft spricht man von einer affektiven Resonanz (vgl. Singer 2015, S. 45). Wird meinem Partner Schmerz zugefügt, werden bei mir dieselben Hirnareale aktiviert wie bei eigenem Schmerzempfinden. Ist man jedoch für die eigenen Emotionen und körperlichen Reaktionen nicht empfänglich, wie es etwa bei Alexithymie (Gefühlsblindheit) der Fall ist, dann entsteht eine mangelnde (oder gar keine) Aktivierung der empathiebezogenen Bereiche im Gehirn (ebd., S. 50). Um sich in andere Menschen einfühlen zu können, um sie zu verstehen, muss man also zunächst die eigenen Emotionen und Körperzustände begreifen. Alle Informationen über die Außenwelt haben eine körperliche Entsprechung in der eigenen Innenwelt. Die Grenze lässt sich nicht ziehen, wo die eigene Wahrnehmung oder die Wahrnehmung des Gegenübers stattfindet. Martin Buber spricht vom „Strom der Wechselwirkung“ (2002, S. 33) und stellt die Beziehung an den Anfang alles Zwischenmenschlichen (ebd., S. 22).
Die Entdeckung der Spiegelneuronen bietet zu diesem Prozess eine neuropsychologische Erklärung an:
Spiegelneurone
Ob wir Handlungen bei anderen beobachten oder sie selbst ausführen: Für Spiegelneurone ist das offenbar ein und dasselbe.
„Spiegel-Nervenzellen simulieren beziehungsweise imitieren in unserem Gehirn ein Spiegelbild der inneren Vorgänge, die sich in anderen Personen abspielen, vorausgesetzt, diese Personen befinden sich im ‚Einzugsbereich‘ unserer fünf Sinne. Sehen wir einen anderen Menschen eine Handlung ausführen, so wird die Beobachtung dieser Handlung in unserem Gehirn Nervenzellen in Aktion setzen, die auch dann aktiv werden müssten, wenn wir die beobachtete Handlung selbst ausführen müssten. Spiegelneurone üben also ‚heimlich‘ mit (…).“
(Bauer 2010, S. 8)
Mittlerweile weiß man auch, dass sie nicht nur anspringen, wenn wir eine Handlung mitverfolgen, sondern dass sie uns ebenso fühlen lassen, was andere fühlen (z. B. Freude oder Traurigkeit, Begeisterung oder Desinteresse, Wohlbefinden oder Schmerz).
„Unsere Spiegelzellen informieren uns nicht nur über die inneren Vorgänge anderer Menschen, sie können uns auch anstecken. Ein Mensch (z. B. ein Pädagoge), der jede Körperspannung vermissen lässt und gähnt, wird mich (oder die Schüler) nicht nur spüren lassen, dass er müde ist, er wird meinen eigenen Befindenszustand (beziehungsweise den der Schüler) verändern.“
(Ebd.)
Die Resonanzen werden sowohl von der verbalen Sprache als auch von der bewusst oder unterbewusst wahrgenommenen Körpersprache ausgelöst, denn Spiegelneurone sind präreflexiv: Sie arbeiten, ohne dass wir bewusst nachdenken müssen.
Der zweite Aspekt der obigen Achtsamkeitsdefinition von Grossmann schildert die Wahrnehmung von „Augenblick zu Augenblick“. Oft stecken wir in Sorgen oder Erinnerungen an die Vergangenheit fest; überlegen wieder und wieder, wie wir uns in schwierigen Momenten verhalten haben. Oder wir verlieren uns in Planungen für die Zukunft: Was muss noch alles erledigt werden? Wer wartet auf meinen Anruf? Welche Termine muss ich einhalten? Die To-do-Liste ist schier endlos. Sowohl das Sicherinnern als auch das Planen haben einen Wert, nur findet beides oft in Momenten statt, in denen wir weder die jeweilige Thematik bearbeiten noch klare Entscheidungen treffen können. Und so bewegen sich unsere Gedanken in immer fortwährenden Schleifen. Diese ergänzen die bereits bestehende Gedankenflut oft nur um ein „Daran sollte ich auch noch denken“, führen aber nicht zu einem effektiven Ergebnis und „zersplittern“ unsere Aufmerksamkeit. Es ist uns nicht möglich, dem Kind vor uns zuzuhören, wenn wir parallel dazu innerlich den Ablauf der nächsten Stunde durchgehen. Hier kommt der lang gehegte Mythos des Multitaskings ins Spiel. Dass er sich so lange hält, entspricht sicher unserem Wunsch, die vielen Dinge, die es zu tun gilt, quasi übereinanderzuschieben und dadurch Zeit zu sparen. Und es passt auch in das von Selbstoptimierung und Effizienz geprägte Bild des perfekten Arbeitnehmers, wie es ein Artikel im Handelsblatt beschreibt: „Mitarbeiter, die wie ein Computer mehrere Aufgaben zugleich erledigen können, sind der Traum eines modernen Arbeitgebers“ (Wolf 2010, S. 1). Jedoch bleibt dies ein Traum, der aufgrund unserer neuronalen Ausstattung nicht erfüllt werden kann. Denn unser Gehirn kann nicht zwei...