Länder-Specials
Kollegen und Kolleginnen vor Ort beschreiben, was in „ihren“ Ländern wichtig ist, und wie man sich dort selbst sieht. Besonders bei Ländern, über die in der deutschen Presse selten berichtet wird, und die auch in deutschsprachige Schulbücher noch keinen Eingang gefunden haben, ist es für Außenstehende fast unmöglich zu wissen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Für die Bevölkerung der jeweiligen Region ist es aber sehr wichtig, sich von ihren baltischen, balkanischen, slawischen, deutschen oder ungarischen Nachbarn abzugrenzen, denn die politischen Grenzen sind zum Teil noch sehr jung (sie sind zwischen fünf und 50 Jahre alt!). Es wird Sie vielleicht überraschen, mit wie viel Stolz und Pathos meine osteuropäischen Kollegen manchmal sprechen. Ich habe ganz bewusst versucht, den Charme der jeweiligen Herkunftssprache so gut wie möglich für Sie zu erhalten, denn so haben Sie Gelegenheit, einen Blick in die Herzen der Menschen zu tun, mit denen Sie doch nachhaltig erfolgreich sein wollen. Die hier angebotene Information eignet sich vielleicht nicht immer für den Einstieg in Smalltalks, aber darauf weisen wir gesondert hin. Keiner unserer osteuropäischen Nachbarn hat bisher mit der Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit beginnen können. Dazu sind die Geschehnisse noch zu frisch. Da die Menschen im Vergleich zu deutschsprachigen Kulturen zudem recht leidenschaftlich sind, muss zeitliche Distanz entstehen, bevor eine objektive Auseinandersetzung mit den ungeliebten Themen möglich wird. Um mit unseren osteuropäischen Nachbarn erfolgreiche Geschäftsbeziehungen führen zu können, ist es sehr wichtig, die geschichtlichen Fakten zu kennen. Nur so kann man als ausländischer Investor oder Vorgesetzter signalisieren, dass man die Kultur und ihre Menschen anerkennt und wertschätzt. Denn über Deutschland, Österreich, die Schweiz und natürlich auch alle anderen europäischen Länder lernt man in Osteuropa sehr viel in der Schule, der Blick auf uns ist also geschärft..
Das Baltikum, ein kurzer Streifzug: Estland – Lettland – Litauen
Die Hanse – gestern, heute und morgen
Die Hanse war ein nordeuropäisches Netzwerk städtischer Kaufleute, Schiffer und Handwerker auf Gegenseitigkeit. Sie schloss Brügge und Gent in Flandern ein; ihre Interessen und Repräsentanzen erstreckten sich bis zum Steinhoff in London und bis zur Hansebrygge in Bergen. Stärke und Reichtum der Hanse aber hatten ihre Wurzeln vornehmlich im mittel- und nordeuropäischen Raum – von Lübeck bis Riga, Reval und Nowgorod. Als 1669 in Lübeck der letzte Handelstag zusammentrat, hielt die Wirtschaftsmacht Hanse längst nicht mehr zusammen. Doch heute, 338 Jahre später, im Zeitalter des Euro und der Integration ganz Europas, eröffnet sich den alten Hanse-Handelsstrecken und der europäischen Region Nordosteuropa die Möglichkeit, aktuelle Anleihen beim gemeinsamen geschichtlichen Erbe zu nehmen, auf Stolz und Tradition, die weltoffene Liberalität und den Geist der Hanse als Lebens-, Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft zurückzugreifen.
Die historische Hanse ist auseinandergebrochen, weil schlussendlich Partikularinteressen überwogen. Doch die Idee der Hanse lebt weiter – weil sie ihrer Zeit weit voraus war. Ebenso wie das Riesenreich der Römer im europäischen Denken nachwirkt, ist auch die Idee der Hanse in Nord- und Nordosteuropa bis heute verankert. Die Hansestädte waren reich. Nordosteuropa ist aufstrebend, aber reich muss es erst wieder werden. Die zu Hanse-Zeiten gepflegte und bewährte dezentrale Kooperation kann Schlüssel zu einem neuen Miteinander werden – über staatliche Grenzen hinweg, jenseits der verschiedenen Kooperationen und der institutionalisierten Integration im neuen Europa. Den Teilnehmern der Hanse gelang über Jahrhunderte ökonomisch das, was heute weltweit als „Win-win-Situation“ bezeichnet wird. Sie suchten und schufen Vorteile für alle und für ihren Wirtschaftsraum – eine stabile Mischung von Eigennutz und Gemeinnutz. Politisch ist dieses mittelalterliche Schutz- und Trutzbündnis nordeuropäischer Städte über nationale Grenzen, Sprachbarrieren und Kulturen hinweg ein frühes Beispiel für Integration, für paralleles Denken und konzentriertes Handeln in Europa. Die Idee der Hanse ist also wirtschaftlich und politisch hochaktuell, wie Herr Dr. Henning Voscherau, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg a. D., in der „HanseZeit“ vom März 2006 bekräftigt. „Die hansische Region muss ein kraftvoller, leistungsfähiger, produktiver, profitabler Pfeiler der Europäischen Union mit verbindender Identität werden, wie es uns der Mittelmeerraum bereits vormacht. Die Entwicklung gemeinsamer aktiver Verantwortung für eine gemeinsame, friedliche, demokratische, marktwirtschaftliche, soziale und ökologisch verträgliche Zukunft in den baltischen Raum der Hanse ist ein langer Prozess. Wir brauchen langen Atem dafür. Nur mit dieser Perspektive ist der Ostseeraum – einst der wirtschaftliche Mittelpunkt des Reichtums der Hanse – eine Wachstumsregion mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Entwicklungspotenzial, kurz: eine europäische Region mit Zukunft und Weltgeltung.“ Angesichts der Globalisierung und der Erweiterung Europas meinen manche, nur global agierende Konzerne profitierten von den Veränderungen. Doch wer, wenn nicht kleine und mittlere Unternehmen haben gute Chancen durch die europäische Integration? Der verbreiteten Discountmentalität zum Trotz besuchen die Kunden individuelle Produkte und ganzheitliche Lösungen. Diese anzubieten erfordert Flexibilität, Fachwissen und Gespür für Marktwünsche – und die sind im Mittelstand sprichwörtlich. Mittelstand heißt Vielfalt und Vielzahl. Natürlich kommt es in der gegenwärtigen Umbruchzeit darauf an, für Neuerungen offen zu sein. Denn dass nicht Altes beim Alten bleiben kann, ist sicher – das gilt auch für den Mittelstand. Der Mittelständler von heute muss sich auf dem internationalen Markt bewähren. Die Osterweiterung der EU bedeutet nicht nur zunehmende Konkurrenz mit Wettbewerbern, die ihre geringen Lohnkosten in die Waagschale werfen, sondern vor allem auch einen frischen Absatzmarkt für die „Fast-Moving-Consumer-Goods“ – sogenannte schnell bewegliche Produkte für den Einzelhandel, also Waren für den täglichen Gebrauch. Der wirtschaftliche Aufbruch im Baltikum, Polen und den anderen Beitrittsländern wird auch dem deutschen Mittelstand neue Märkte und Möglichkeiten eröffnen.*
Lettland und seine Geschichte
Ieva ērziņa und Marion Feldmann sind Mitglieder im Verein Junger Osteuropa-ExpertInnen (JOE-Plattform Berlin e.V.) siehe auch Kurzporträts im Anhang, und engagieren sich im Arbeitskreis Berlin-Riga. Sie organisieren deutsch-lettische Begegnungsprojekte, um die lettisch-deutschen Beziehungen gerade zwischen jungen Menschen zu fördern und weiterzuentwickeln. An dieser Stelle erzählen sie die Geschichte Lettlands, so wie sich Lettland selbst wahrnimmt.
Lettland gehört heute gemeinsam mit Litauen und Estland zu den baltischen Ländern. Im neunten Jahrhundert vor Christus besiedelten die ersten Menschen das Moränenhügelland an der nordöstlichen Ostseeküste. Erst im zweiten Jahrhundert vor Christus wanderten baltische Stämme ein. Die Balten stellten Tongefäße, Steinäxte, Werkzeuge aus Eisen her, arbeiteten in Landwirtschaft und Ackerbau, sammelten und verkauften Bernstein. Sie feierten die Winter- und Sommersonnenwenden und beteten ihre Götter an (zum Beispiel den Himmelsvater, die Erdemutter, die Schicksalsgöttin). Im zwölften Jahrhundert besuchten deutsche Kaufleute immer häufiger die an der Ostsee liegenden Länder, um neue Handelsplätze zu finden. Im Hochmittelalter führte ein von den deutschen Kreuzrittern geführter Kreuzzug an die Düna, dessen Ziel die Christianisierung des Ostens war. 1201 wurde die heutige lettische Hauptstadt Riga durch Bischof Albert aus Bremen gegründet und 1285 zu einem Mitglied der Hanse. Bis zur Machtübernahme durch die Schweden Ende des 16. Jahrhunderts blieb das Land in deutscher Hand. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die Schweden durch russische Truppen verdrängt, sodass Livland und Kurland bis zur russischen Oktoberrevolution zum Ende des ersten Weltkriegs ein Teil des russischen Reiches waren. Die Oberschicht der Stadtbürger und Gutsbesitzer sprach Deutsch, bis 1885 war Deutsch Unterrichts- und Behördensprache. Dann setzte eine Russifizierungskampagne ein. Während des Zerfalls des Russischen Reiches...