Heimat und Wurzeln
Stefan Zweig schrieb im Exil in seinen Erinnerungen: »Am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.«
Habe ich mit der Abgabe meines türkischen Passes meine Heimat Türkei verloren und damit mehr als einen Fleck umgrenzter Erde?
Was ist überhaupt Heimat? Immer wieder bin ich konfrontiert mit dieser Frage. Schon mein erstes Buch, das ich 1983 zusammen mit einer anderen jungen türkischen Einwanderin veröffentlichte, hieß Wo gehören wir hin?.
Die Gefühle und Haltungen zum Thema Heimat sind vielfältig. Je enger der Begriff gefasst wird und je strikter er dazu dient, alles, was nicht Heimat ist, als fremd auszugrenzen, umso verheerender sind die Folgen. Sobald Heimat mit nationalem Denken und blindem Patriotismus verbunden wird, liefert sie die Legitimation von Hass, Rassismus und Krieg. Die deutsche Geschichte, aber nicht nur sie, zeigt, zu welchen Gewaltexzessen ein enger Heimatbegriff führen kann. Man ist fast geneigt, die Finger von diesem Begriff zu lassen und sich zu entschuldigen und zu rechtfertigen, wenn man ihn dennoch benutzen, aber anders verstanden wissen will. Ich wage es dennoch: Für mich ist Heimat nicht exklusiv, sondern inklusiv.
Heimat klingt nach Einzahl. Im Duden findet man dazu folgende Definition: »Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend).« Der Duden kennt aber auch den Plural von Heimat: die Heimaten. An der Sprache soll es also nicht scheitern, wenn ich es nicht bei einer Heimat belassen will. Sogar das Rechtschreibprogramm meines PCs akzeptiert den Plural. Keine rote Unterstreichung. Was kann also an meinem Gefühl falsch sein, mehrere Heimaten zu haben?
Wir müssen auch in der sogenannten Integrationsdebatte über diesen Begriff mehr und differenzierter reden. Sich dem Begriff »Heimat« gegenüber zu verschließen, ihn in die rechte Ecke zu stellen, wenn es um die deutsche Heimat geht, ihn aber folkloristisch und beschönigend zu verwenden, wenn es um die Heimat der Zuwanderer geht, ist schädlich für unsere Gemeinschaft, für unsere Gesellschaft, weil damit die Spaltung in »Wir« und »Ihr« fortgesetzt wird.
Eine in der Integrationsdebatte schon lange geforderte Willkommenskultur, die jedem Zuwanderer, der sich entschieden hat, in diesem Land zu leben, zu verstehen gibt, dass er willkommen ist und aufgenommen wird, kann nicht ohne den Begriff »Heimat« auskommen.
Gotthold Ephraim Lessing schreibt in Nathan der Weise: »Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?« Hier ist der Konflikt beschrieben, sich in dem Land, in dem man geboren wurde, nicht heimisch zu fühlen, keine Heimatliebe zu empfinden und damit auch nicht für seine Heimat zu leben und ihr zu dienen, wie es erwartet wurde, aber eben auch nicht zu wissen, wohin man gehört. Muss man sich entscheiden? Ist die Heimat nur dort, wo man geboren wurde? Lessing hat sich als Weltbürger verstanden, ein enger Heimatbegriff war ihm fremd. Die in Nathan der Weise enthaltene berühmte Ringparabel plädiert für ein religions- und kulturübergreifendes, vom Ideal der Humanität geleitetes Weltbürgertum. Heimat ist nicht nur der Ort, an dem man geboren wurde. Das von Lessing verwendete Wort »Erdkloß« allein wirkt schon bedrückend und erdrückend. Natürlich ist auch die Vorstellung der Scholle darin enthalten, des fruchtbaren Mutterbodens. Aber ein Erdkloß ist schwer, er ist dunkel und undurchdringlich, nur unter Mühen zu bewegen und zu verrücken.
Ich stelle mir unter Heimat keinen Erdkloß vor. Ja, unsere Welt ist noch getragen von einem sehr engen Heimatbegriff, einem Heimatbegriff, der sich ganz stark am Geburtsort orientiert, an der Herkunft, dem sogenannten Vaterland, der sogenannten Muttersprache. Das sind alte Vorstellungen, die sich gerade wandeln. Ob wir wollen oder nicht. Die Globalisierung verflüssigt die Grenzen, auch die zwischen Heimat und Fremde, und wir tun gut daran, unsere bisherigen Glaubenssätze zu hinterfragen, wenn wir nicht blind und untätig von der Zukunft überrollt werden wollen. Alte Vorstellungen überdenken und dem Neuen Raum geben. So wie es der Schriftsteller Theodor Fontane schon im 19. Jahrhundert forderte: »Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.«
Es passiert viel Neues in unserer Welt. Wir stehen vor einem neuen Zeitalter, für das wir kaum Parallelen in der Vergangenheit finden. Nie hatten wir in Europa so lange Frieden. Nie wurde so viel gereist. Menschen verschiedener Ethnien, Kulturen und Religionen sind noch nie so eng zusammengerückt, haben noch nie so eng miteinander gelebt, geliebt und gearbeitet. Wir sollten uns bemühen, dem Neuen gerecht zu werden, nicht starrsinnig an alten Mustern und Werten festhalten und den Wandel bedacht leben. Was eben nicht bedeutet, alles Alte über Bord zu werfen und sich dem Neuen orientierungs- und besinnungslos auszuliefern.
Goethe sagte »Kinder brauchen Flügel und Wurzeln«. Das Wort »Wurzeln« taucht immer wieder auf, wenn über Heimat nachgedacht wird. Sicher, Wurzeln sind lebenswichtig, sie erfüllen einen zentralen Zweck, sorgen für Nahrung, Standfestigkeit und Wachstum. Aber Wurzeln schlagen, um wachsen und blühen zu können, ist nicht nur einmalig und an einem einzigen Ort möglich, muss nicht bedeuten, dass man an einen einzigen Ort gebunden ist. Man kann an mehreren Orten, in mehreren Ländern verwurzelt sein.
Wenn der österreichische Jude und bekennende Pazifist Stefan Zweig davon spricht, dass er mit der Abgabe seines Passes seine Heimat verloren hat, dann deshalb, weil der von den Nationalsozialisten verfolgte Emigrant glaubte, Österreich sowie seine »geistige Heimat Europa« niemals wiederzusehen. Er nahm sich im Exil in Rio de Janeiro das Leben.
Ich habe viele türkische Asylbewerber und anerkannte Asylanten erlebt, die sehr darunter litten, dass sie nicht in die Türkei reisen konnten. Einige fuhren regelmäßig nach Griechenland, ganz nah an die türkische Grenze, weil sie ihrer Heimat nahe sein wollten.
Es ist traurig und leidvoll, wenn man ein Land, einen Ort, wo man sich wohlfühlt, an dem man hängt, weil man wichtige Erfahrungen und Erinnerungen mit ihm verbindet, weil dort Menschen leben, die man liebt, wenn man eine solche Heimat nicht mehr aufsuchen kann und von diesen Wurzeln abgeschnitten ist.
Doch es ist falsch zu denken, dass der Mensch sich nur an einem Ort verwurzeln kann. Er ist dazu geschaffen, sich zu bewegen, die Welt aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen, physisch wie psychisch. Heutzutage haben wir die Möglichkeit, stehen aber auch vor der Notwendigkeit, uns zu bewegen, über äußere und innere Grenzen hinweg. Dazu ist es freilich gut, starke Wurzeln zu besitzen, die überhaupt in der Lage sind, an verschiedenen Orten auszutreiben. Je tiefer die Wurzeln eines Baumes, desto unbeweglicher ist er. Der Mensch, der sich einer Pflanze gleich an dem Stück Erde (Erdkloß), auf dem er geboren wurde, festkrallt, seine Wurzeln immer tiefer in es hineinschraubt, sieht nur einen ganz bestimmten Horizont am Ende seiner Straße, seiner Stadt, seines Landes. Und will er sich bewegen, muss er sich gewaltsam aus der Erde reißen, und seine Wurzeln gehen kaputt und können nirgendwo mehr ausschlagen.
Der Ort, wo ein Mensch geboren wurde, muss allerdings auch nicht unbedingt der Ort sein, an dem er verwurzelt ist, wo er Wurzeln schlagen kann und will. Der Ort, an dem ein Mensch geboren wurde, wird nicht immer automatisch zu seiner Heimat. Im Jahre 2012 musste das Verwaltungsgericht Freiburg und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg über den Fall eines 28-jährigen türkischen Staatsangehörigen urteilen, der in Deutschland geboren und aufgewachsen war. Der junge Mann hatte im September 2009 ein Video in seinen YouTube-Account eingestellt, in dem er im Namen von al-Qaida Terroranschläge in Deutschland für den Fall androhte, dass bei der bevorstehenden Bundestagswahl eine den Bundeswehreinsatz in Afghanistan befürwortende Regierung gewählt werde. Mit Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 12. November 2009 war er deshalb wegen Beihilfe zur Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Mit Verfügung des Regierungspräsidiums Freiburg vom 29. Mai 2012 wurde er ausgewiesen und ihm wurde die Abschiebung angedroht. Das Verwaltungsgericht Freiburg hat den dagegen gerichteten Eilantrag des Mannes abgelehnt. Somit dürfte der Antragsteller mittlerweile abgeschoben worden sein, wenn er nicht freiwillig gegangen ist (www.kostenlose-urteile.de/VG-Freiburg _1-K-112112_Ausweisung-wegen-Einstellung-von-al-Qaida-Drohvideo-auf-Youtube-Account-zulaessig.news14386.htm).
In der Begründung zur Abschiebung heißt es unter anderem, dass die Verwurzelung des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland mit der ihr zukommenden Bedeutung berücksichtigt wurde. Die Kategorie der Verwurzelung spielt also auch in der Justiz eine Rolle. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass eine Verwurzelung in Deutschland, dem Geburtsland des Mannes, nicht derart erfolgte, dass eine Abschiebung eine unverhältnismäßige Härte darstellen würde, und wies ihn in das Land aus,...