ZWEITES KAPITEL
WAS HEISST HIER EIGENTLICH ‹MORAL›?
Unter Sitten verstehe ich hier nicht geziemendes Betragen, z.B. wie man einen anderen grüßen, in Gesellschaft den Mund wischen oder die Zähne stochern soll, oder andere Regeln der Anstandslehre, sondern diejenigen Eigenschaften der Menschheit, die ihr Zusammenleben in Frieden und Eintracht betreffen.
Thomas Hobbes
Es geht in diesem Buch nicht um die Frage, welche moralischen Normen gültig sind und wie sie begründet werden können, sondern um die Frage, weshalb man ihnen (wenn sie gültig sind) folgen soll. Gleichwohl kann diese zweite, die W-Frage, nur beantwortet werden, wenn hinreichend klar ist, worum es bei den moralischen Normen geht, worin ihre Funktion oder ihr Ziel besteht, und was sie inhaltlich vorschreiben. Wir brauchen daher eine genauere Bestimmung von ‹Moral›. Diese werde ich im vorliegenden Kapitel zu geben versuchen. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, daß das Phänomen der Moral historisch und kulturell uneinheitlich, wandelbar und oft auch umstritten ist. Eine Definition von ‹Moral› kann daher niemals neutral sein; sie ist immer schon eine inhaltliche moralische Stellungnahme und kann als eine solche kritisiert werden. Diese Möglichkeit muß in Kauf genommen werden. Ich werde zwei wichtige Verwendungsweisen des Moralbegriffs unterscheiden, um eine von ihnen den weiteren Überlegungen dieses Buches zugrundezulegen. Es ist diejenige Bedeutung von ‹Moral›, die für moderne Gesellschaften eine besondere Rolle spielt, und die gleichzeitig ein schwieriges Problem im Hinblick auf die W-Frage aufwirft.
7. Moral im weiteren Sinne
In einer ersten Verwendungsweise bezeichnet ‹Moral› einen Komplex von Normen, Werten oder Idealen, der jedem Individuum einen allgemeinen Leitfaden für die Gestaltung seines Lebens bereitstellt. Eine solche Moral im weiteren Sinne weist jedem Individuum einen Platz in der Welt an und sagt ihm, worauf es im Leben ankommt. Orientierungssysteme dieser Art gibt es in allen menschlichen Gesellschaften; ihre Existenz ist eine anthropologische Konstante. Je weiter wir historisch zurückgehen, desto homogener verschmelzen sie mit den jeweils geltenden mythischen oder religiösen Überzeugungen; ihre Legitimation beruht wesentlich auf Tradition. Später werden solche Systeme auch von bestimmten Individuen oder Gruppen bewußt entworfen und der Tradition entgegengesetzt; sie sind nun reflektierte Anleitung zum richtigen Verständnis der Welt und zur richtigen Führung des Lebens. Damit ist der Übergang zum philosophischen Denken vollzogen, zur Ethik als dem Bemühen um die systematische Grundlegung und Ausarbeitung eines Leitfadens der Lebensführung. In diesem Sinne hat Ludwig Wittgenstein die Ethik als die Untersuchung dessen bezeichnet, was wirklich wichtig ist. In der Ethik geht es nach Wittgenstein (1930: 10f) darum, den Sinn des Lebens zu erkunden, zu untersuchen, was das Leben lebenswert macht, oder zu erforschen, welches die rechte Art zu leben ist. Die Moral im weiteren Sinne und die Ethik unterscheiden sich demnach nicht durch ihren Inhalt und ihre Funktion; beide formulieren allgemeine und umfassende normative Orientierungen des menschlichen Handelns und Lebens. Ihre Differenz liegt lediglich darin, daß die Ethik sich nicht mit der Autorität der Tradition zufriedengibt, sondern Orientierungen auf einer theoretisch und methodisch reflektierten Ebene zu erarbeiten sucht.
Eine frühe, doch bis heute fortwirkende Ausprägung dieses Programms einer philosophisch reflektierten Lebensorientierung war die antike Ethik. Ihr Ausgangspunkt war die Erfahrung, daß es für menschliche Wesen keine Garantie auf Wohlergehen gibt. Ein gutes und gelingendes Leben ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine eher seltene Ausnahme. In Kontrast zu dem Bild, das von schwärmerischen Humanisten und Studienräten bisweilen gezeichnet worden ist, hatten die Griechen und Römer selbst durchaus nicht den Eindruck, in einer permanenten mediterranen Idylle zu leben. Der Mensch ist nach antiker Auffassung ein schwaches und verletzliches Wesen, das dem Wirken schicksalhafter Faktoren ausgesetzt ist, die er nur in geringem Maße steuern oder beeinflussen kann. Auf sein Leben und sein Wohlergehen wirken sich diese Faktoren manchmal günstig, in der Mehrheit der Fälle aber ungünstig aus. Denn das Gute, sagt Sokrates (Rep. 379), wird bei uns Menschen weit überwogen von dem Übel. Und wenn er vor dem Hintergrund dieser bedrückenden Einsicht fragt, wie man leben soll (Gorg. 550c; Rep. 344e, 352, 618), so formuliert er damit die Schlüsselfrage der gesamten antiken Ethik: ob und wie unter solch widrigen Bedingungen die eudaimonia, d.h. ein gutes und gelingendes Leben möglich ist. Denn dies ist das summum bonum, das alle Menschen anstreben. Obwohl sich die verschiedenen Schulen der antiken Ethik in ihren Auffassungen darüber, was das gute Leben ausmacht, erheblich unterscheiden, kommen sie doch in einigen wichtigen Punkten überein. Dazu gehört vor allem, daß sie ihren Adressaten nicht so sehr Anweisungen für das Handeln in konkreten Einzelsituationen geben; sie sagen ihnen vielmehr, welche höchsten Ziele sie in ihrem Leben anstreben und zu welcher Art von Mensch sie sich machen sollen, um ein glückliches Leben führen zu können. Charakteristisch für die antike Ethik ist somit die ‹Perspektive der ersten Person Singular›: Alle Überlegungen werden vom Standpunkt eines Individuums aus gestellt, das sich fragt, wie es sein Leben planen und gestalten soll, damit es ihm gut geht. Die von Sokrates allgemein formulierte Schlüsselfrage, wie man leben soll, hat also einen essentiellen und uneliminierbaren Bezug auf das, was für den jeweils Fragenden oder Handelnden gut ist.
Auch die christliche Religion stellt einen umfassenden Orientierungsrahmen für das gesamte menschliche Leben und Handeln bereit und kann daher als eine Moral im weiteren Sinne verstanden werden. In dem, was die christliche Religion inhaltlich behauptet und fordert, unterscheidet sie sich aber grundlegend von der antiken Ethik. Zwar nimmt auch sie ihren Ausgangspunkt in der Erfahrung des menschlichen Leidens und fragt von hier aus nach den Möglichkeiten seiner Überwindung. Doch während die antiken Philosophen diese Frage auf das irdische Leben bezogen haben, können wir uns nach christlicher Auffassung keine Hoffnung auf ein gutes Leben in dieser Welt machen. Der Mensch ist ein gefallenes, von der Erbsünde deformiertes Geschöpf und daher notwendigerweise ein Sünder; er lebt in einer Welt, die mit ihm und durch ihn ebenso gefallen und daher notwendigerweise von Krankheit und Tod, Krieg und Gewalt, Unglück und Not gekennzeichnet ist. Die Vorstellung, er könne in diesem Leben glücklich sein, ist daher nicht nur illusionär, sondern hoffärtig; sie läuft auf eine Leugnung der Sündhaftigkeit des Menschen und ihrer Folgen hinaus. Erst im Jenseits kann durch die Gnade Gottes die vollkommene Glückseligkeit erreicht werden.
Wenn die vollkommene Glückseligkeit außerhalb des irdischen Lebens liegt, dann stellt sich natürlich um so dringlicher die Frage, wie das summum bonum allen menschlichen Strebens erreicht werden kann. Die christliche Religion entnimmt die Antwort auf diese Frage der Bibel, insbesondere dem Neuen Testament. Hier berichtet Matthäus von einem jungen Mann, der sich an Jesus mit eben dieser Frage richtete: Und siehe, einer trat zu ihm und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: ‹Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter;› und ‹du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.› Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach. (Mt 19,16–21) Wir sehen hier zunächst, daß auch die christliche Ethik von der Perspektive der ersten Person Singular ausgeht; denn der junge Mann fragt ja, was er tun soll, damit er das ewige Leben haben möge. Die Antwort weist ihn auf zwei verschiedene (vor allem: verschieden anspruchsvolle) Varianten einer christlichen Lebensführung hin. Die erste wird als eine Art Minimalbedingung für die ewige Glückseligkeit ausgewiesen; die zweite Variante wird denen empfohlen, die über diese Minimalbedingung hinausgehen und vollkommen sein wollen. Wer dies anstrebt, muß auf alle irdischen Güter verzichten und sein ganzes Leben Gott widmen. Später werden weitere Forderungen (Keuschheit und Gehorsam) hinzukommen und den Rahmen für das klösterliche Leben der christlichen Glaubenselite bilden. Aufgrund ihrer strikten Ausrichtung des gesamten Lebens auf ein summum bonum und aufgrund ihres kompromißlosen Strebens nach Vollkommenheit hat diese Variante...