2.6
KOMPLEXES
GEHIRN
„Das menschliche Gehirn ist ein Wunderwerk, ein biologisches Meisterstück, die bisherige Krönung aller Informationssysteme, das Beste, was sich in der Evolution entwickeln durfte.“ Diese begeisterten Worte stammen von dem Neurobiologen und Gehirnspezialisten Henning Beck (aus „Hirnrissig“, 2014). Ähnlich begeisterte Beschreibungen und Kommentare finden Sie in der Fachliteratur reihenweise. Ich bin also nicht alleine, wenn ich jeden Tag aufs Neue fasziniert bin von dem, was unser menschliches Gehirn zu leisten vermag. Vorausgesetzt, Sie „bedienen“ es professionell.
Rückblick: Unser Gehirn
Unser Gehirn hat sich für seine Entwicklung viel Zeit gelassen. Rund 300 Millionen Jahre bis heute (Rita Carter, „Das Gehirn“). Das ist eine gigantisch lange Zeit. Lassen Sie diese Zahl einfach mal auf sich wirken. Sind Sie überrascht? Steigt Ihr Respekt? Sind Sie verwundert? Oder empfinden Sie vielleicht sogar Ehrfurcht? Gründe für solche emotionalen Reaktionen gäbe es zuhauf.
Für Aristoteles war unser Gehirn kalt, blutleer und gefühllos. Für ihn war das Herz der Sitz des Denkens, der Quellpunkt des Lebens. Das Gehirn sah er lediglich als eine Art Aggregat, um das vom Herzen kommende warme Blut abzukühlen.
Überreste dieses Denkens finden sich heute noch in den Volksweisheiten: „Einen kühlen Kopf bewahren“ oder auch „Das ist ein warmherziger Mensch.“
Übrigens war Aristoteles auch der Meinung, dass der aufrechte Gang dem Menschen ein ballastfreies Denken ermögliche. Und hier liegt er mit seiner Beobachtung gar nicht so falsch, wenn Sie sich den netten Comic-Strip von Charlie Brown ansehen, in dem es heißt: „Das Verkehrteste, was du tun kannst, ist aufrecht und mit erhobenem Kopf dazustehen, weil du dich dann sofort besser fühlst.“ Das ist Charlie Browns Tipp für Menschen, die denken, sie müssten traurig sein. Dann nämlich wäre das Aufrechtgehen grottenfalsch.
Vorausschau: Unser Gehirn
Heute wissen wir mehr über unser Gehirn, aber immer noch nicht alles. Den wissenschaftlichen Fortschritt verdanken wir in erster Linie der Neurobiologie, die ein Paradebeispiel für Ganzheitlichkeit ist. Folgende Wissensdisziplinen haben sich vor allem in den letzten Jahren zur Mutterwissenschaft „Neurobiologie“ vereint: Quantenphysik (Biophysik), Molekularbiologie, Neurologie, Philosophie, Psychologie. Später gesellten sich auch noch die Psychiatrie und die Computerwissenschaften (Computersimulation) hinzu. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung steht unser Gehirn als wichtigstes Organ.
Jetzt ist es an der Zeit, Ihnen die Teile und Funktionen unseres Gehirns grob vorzustellen. Dies ist besonders wichtig, weil auch unsere Störungen und Krankheiten unmittelbar mit der Arbeitsweise unseres Gehirns zusammenhängen.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die folgenden Informationen lediglich das Ziel eines Überblickes verfolgen. Es liegt auf der Hand, dass dabei die wissenschaftliche Exaktheit nicht ausreichend beachtet werden kann. Die Wissenschaft der Neurobiologie und der sich daraus ableitenden Psychoendokrinologie und Psychoimmunologie ist so hochspezifisch und komplex, dass dafür ein intensives Studium notwendig ist. Ganz abgesehen davon, dass diese doch recht junge Wissenschaft täglich weitere neue Erkenntnisse hervorbringt.
Das Gehirn im Gehirn im Gehirn
Gerade habe ich noch von einem einzigen Gehirn gesprochen. Und jetzt tauchen gleich drei Gehirne auf. Verwirrung komplett? Ich glaube, wer sich mit unserem Gehirn beschäftigt, muss sich immer wieder mit Verwirrungen auseinandersetzen, denn trotz weltweiter, auf Hochtouren laufender Forschung bewahrt unser Gehirn immer noch einige Geheimnisse. Immerhin gilt das Gehirn heute als das komplizierteste Organ unseres Körpers.
Bei meinen Recherchen für dieses Buch habe ich mich intensiv mit der sehr umfangreichen Literatur über das Gehirn beschäftigt. Umso schwerer fiel mir meine Entscheidung: „Was weglassen, was nehmen?“ Ich habe mich entschieden, den Schwerpunkt auf die Stressprophylaxe zu legen, und darauf, wie Sie als Leser Ihr Super-Gehirn verstehen und mit ihm arbeiten können, um ihre Gesundheit zu erhalten.
Für alle, die mehr über unser Gehirn wissen möchten, verweise ich auf das Literaturverzeichnis.
Zurück zu unseren drei Gehirnen, die sich im Verlauf von Millionen Evolutionsjahren ausgebildet haben. Es liegt auf der Hand, dass Entwicklungsstufen fließende Übergänge haben, deshalb schwanken zum einen die Zahlenangaben und zum anderen irritieren sie teilweise, weil nicht mit einer einzigen Kalenderzahl eine evolutionäre kontinuierliche Weiterentwicklung erfasst werden kann.
Gehirn 1: Das Stammhirn
Wann?
Rund 300 Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung
Sie kommen ins Nachdenken? Richtig, da gab es uns Menschen noch gar nicht. Im Zeitalter des Perms krochen die ersten Reptilien an Land. Im Volksmund wird unser Stammhirn deshalb heute noch „Reptiliengehirn“ genannt. Entwicklungsgeschichtlich ist der Hirnstamm der älteste Teil des Gehirns, und so fallen die Unterschiede zwischen dem Stammhirn des Menschen und dem der ersten Wirbeltiere vergleichsweise gering aus.
Wozu?
Die Aufgabe des Stammhirns war – und ist auch heute noch – die basale Selbsterhaltung. Der Frankfurter Anatom Helmut Wicht bezeichnet es als „Technikzentrale“, weil ohne das Stammhirn kein Tier- oder Menschenleben überhaupt möglich wäre. Das Stammhirn reguliert Herzschlag, Kreislauf, Atmung, Schlaf, Blutdruck, Verdauung und Fortpflanzung. Also die lebensbedingenden und -erhaltenden Funktionen.
Und unser Stammhirn arbeitet völlig autonom. Es kennt keinen Zweifel und keine Hintergedanken. Es arbeitet einfach Tag und Nacht unermüdlich und zuverlässig, sogar im Koma.
Gehirn 2: Das Limbische System
Die Welt der Emotionen ist geboren!
Zwischen Paläozän und Eozän – also zwischen einem Zeitraum von rund 80 bis 40 Millionen Jahren vor unserer Zeitrechnung – entwickelten sich die Säugetiere und mit ihnen das Limbische System.
Zuvor mein Tipp:
Bitte beachten Sie, dass alles, was Sie jetzt über das Limbische System lesen, auch bei uns Menschen heute noch so abläuft!
Wann?
Rund 80 Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung
Was?
Die ersten Säugetiere sind auf unserer Erde.
Das Limbische System vollbringt schon ausgeklügelte Emotions- und Gedächtnisleistungen. Und wieder: Es gab uns Menschen immer noch nicht!
Warum aber ein weiteres, neues Gehirn?
In meinen Sitzungen stelle ich diese Frage immer wieder. Die meisten Menschen wissen bei etwas Nachdenken die Antwort: Säugetiere legen keine Eier. Was soll das heißen? Was hat sich geändert? Worin liegt der Unterschied zu den Reptilien? Die Antwort: Reptilien legen Eier (Oviparie), aus denen ihre Jungen schlüpfen – fix und fertig und damit gut gerüstet fürs Leben. Sie tragen bereits alle wichtigen Informationen zum Überleben in sich. Die anderen – nämlich die Säugetiere – sind lebendgebärend (Mammalia). Ihre Jungen kommen noch ziemlich unfertig auf die Welt, total abhängig vom Schutz und der Betreuung ihrer Eltern. Für ihr „Erwachsenenleben“ müssen sie noch viel lernen. Wie finden sie ihre Nahrung? Wie bauen sie ihre Wohnung? Wer sind ihre Feinde? Und wie entkommen sie ihnen am besten? Die neuen Herausforderungen und die stetig wachsende Anzahl von Fressfeinden machten das Limbische System geradezu notwendig. An dieser Stelle wird vielleicht verständlich, weshalb so häufig von der „Klugheit“ unseres Systems gesprochen wird.
Viel Unsicherheit, viel Gefahr, viel Angst, viel Feind:
Viele Stresshormone – viel Arbeit für das Limbische System
Das Limbische System regelt die für die soziale Natur der Säugetiere typischen Empfindungen – wie Sorge um den Nachwuchs, Angst, Liebe, Lust, Spieltrieb – sowie das Lernen durch Nachahmen und verbessert damit die Wahrscheinlichkeit des Überlebens erheblich. Das „Säugergehirn“ – eine weitere Bezeichnung für das Limbische System – ermöglicht jetzt Reaktionen, die weit über das instinktive Zuschnappen oder Verkriechen hinausgehen. Die nun wesentlich differenzierteren Reizreaktionen basieren auf einer chemischen Grundlage: der Neurotransmitter Adrenalin, Noradrenalin und vieler anderer chemischer Botenstoffe, häufig pauschal auch „Stresshormone“ genannt. Dies ist der Grund dafür, dass das Limbische System auch „Chemisches Gehirn“ genannt wird. Das komplizierte Zusammenspiel von Reizwahrnehmung, Reizbewertung und Reizbeantwortung ermöglicht es auch, auf die erlebten Erfahrungen blitzschnell zurückzugreifen und diese für wiederkehrende Gefahrenreize als schnelle Verteidigungsstrategie zu nutzen. Dies alles vollzieht sich unbewusst und blitzschnell. Die Reaktion ist eine Kombination aus Instinkt und Erfahrung.
Ohne das Limbische System wäre das Überleben für Säuger nicht möglich gewesen und in der Konsequenz gäbe es auch uns Menschen nicht.
In der biologischen Klassifikation wird auch der Mensch den Säugetieren zugeordnet.
Biologie des Selbstschutzes
Eigentlich sei das Limbische System kein „richtiges“ Gehirn – so die Wissenschaft –, sondern eine eng...