Es lassen
In jeder Kunst (…) obliegt (es) der Praxis, die
Schwierigkeiten zu zeigen und die Erscheinungen
anzugeben, und der Spekulation, die Erscheinungen
zu erklären und die Schwierigkeiten
zu beseitigen. Daraus folgt, daß es kaum einen vernünftig
denkenden Künstler gibt, der über seine Kunst
gut sprechen kann.
Denis Diderot
Daß es sich beim Interpretieren literarischer Texte um eine Tätigkeit handle, die alles andere als selbstverständlich sei, wenn sie auch seit alters her zu beobachten ist, lautet die These Susan Sontags aus ihrem Essay «Against Interpretation».[7] Es handle sich um eine Usurpation der Umstehenden (wenn wir auf die Schilderung des Sokrates sehen), die den Dichter, der nur zu sagen hat, was er geschrieben hat, non est dicendum ultra quod scripsi, gewissermaßen übertönt, mundtot macht oder gar schrifttot, eine philisterhafte Zusammenrottung vitalen Pöbels, die begonnen habe mit dem Übersetzen religiöser Semantiken in profane. Die «Texte des Altertums» seien «in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr tragbar» gewesen. «Damals griff man zur Interpretation und brachte auf diese Weise die alten Texte mit den ‹modernen› Ansprüchen in Einklang. So allegorisierten die Stoiker, ihrer Vorstellung von der moralischen Lauterkeit der Götter entsprechend, die derben Züge hinweg, die Zeus und seinem ungestümen Clan in Homers Epen eigen sind. Was Homer mit dem Ehebruch des Zeus mit der Leto zum Ausdruck bringen wollte, so erklärten sie, war die Vereinigung von Macht und Weisheit. Auf die gleiche Weise interpretierte Philo von Alexandria die wahrheitsgetreuen historischen Geschichten der hebräischen Bibel als religiöse Paradigmen.» Man habe, aus einer Art Pietät, an Texten festhalten wollen, die in ihrer «offensichtlichen Bedeutung» unannehmbar geworden seien. Man habe sie also neu interpretiert, und dies mit der Geste, die «wahre Bedeutung» der Texte «aufzudecken».
«In unserer Zeit», fährt Sontag fort, «ist die Interpretation sogar noch komplexer. Denn die zeitgenössische Begeisterung für die Interpretation hat ihren Grund häufig nicht in der Ehrfurcht vor dem beschwerlichen Text (…), sondern in einer offenen Aggressivität, einer offenkundigen Verachtung des äußeren Erscheinungsbildes.» Es gehe dem Interpretieren darum, den Sinn hinter der Kulisse, unter der Oberfläche (oder wie auch immer) sichtbar zu machen. Verantwortlich für diesen Wahn, etwas aufdecken oder hervorholen zu müssen, macht Sontag die «meistgepriesenen und einflußreichsten modernen Lehren, die von Marx und Freud», die «letztlich auf ein wohldurchdachtes hermeneutisches System (…), auf aggressive und pietätlose Interpretationstheorien» hinausliefen. Marx habe Revolutionen und Kriege, Freud Träume und Versprecher als Ausdrucksformen von etwas anderem verstanden. Beide hätten «interpretiert». «Und interpretieren heißt das Phänomen neu formulieren, letztlich ein Äquivalent für das Phänomen finden.»[8]
Daß es Sontag zunächst um eine Polemik gegen eine intellektuelle Mode in den USA Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und, was die angeführten Beispiele zeigen, um ein paar zugegebenermaßen zu Recht abzukanzelnde Auswüchse geht, sei angemerkt. Ja, gewiß verlöre «A Streetcar Named Desire» an Schmelz, und auch Kazans Verfilmung täte das, sähen wir das Stück so an, wie es der Regisseur nicht verfilmt, sondern wie er seine Verfilmung (nach Sontags Referat) kommentiert hat: als eine Allegorie von Zivilisation und Barbarei (oder so). Selbst wenn Tennessee Williams solcher Interpretation zugestimmt hätte, wäre sie nicht richtiger geworden, sondern zeigte entweder des Dichters eigenes philisterhaftes Gemüt – oder gewisse Schwächen seiner Dichtung: «Vielleicht glaubte Tennessee Williams selbst, daß Kazan recht hat mit seiner Deutung von ‹A Streetcar Named Desire›. Es mag sein, daß Cocteau die auf Freudsche Symbolik und Gesellschaftskritik ausgerichteten, kunstvollen Auslegungen seiner Filme ‹Le sang d’un poète› und ‹Orphée› gewollt hat. Aber das Verdienst dieser Filme liegt sicher nicht in ihrer ‹Bedeutung›. Ja, Williams’ Stücke und Cocteaus Filme sind in genau dem Maße mangelhaft, unaufrichtig, ersonnen, unüberzeugend, in dem sie derlei ominöse Bedeutungen suggerieren.»[9] Dann wären es also – jedenfalls in solchen Fällen – nicht die Umstehenden, die schädlichen oder schändlichen Unsinn über die Werke der Dichter verbreiten, sondern die – manche – Dichter selbst, die schon gleich auf den Beifall der Interpretation schielen. Sontag möchte einen Paradigmenwechsel, könnte man sagen, oder einen Generationenwechsel unter den Tonangebenden, den Meisterdenkern bzw. den Vormündern (wie Hamann süffisant, auf Kant gemünzt, gesagt hat). Diese Attitüde jugendlichen Mutes hat in ihrer von Generation zu Generation weitergereichten Routiniertheit etwas schon in den Kinderschuhen Vergreistes, aber nicht nur die sie stets aufs neue auf neu polieren, sondern auch die sie wie ein neues Wunder anstaunen, gibt es immer wieder. Aber das nur am Rande.
Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Kennzeichnung von «interpretieren» als eine Tätigkeit à la «‹Was X sagen will, ist …›, ‹Was X meinte, ist …› und so weiter und so weiter»:
Die Arbeit der Interpretation ist im Grunde eine Übersetzungsarbeit. Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, daß X in Wirklichkeit A ist – oder bedeutet? Daß Y in Wirklichkeit B ist? Daß Z in Wirklichkeit C ist? (…) Schon seit Jahrzehnten haben es Literaturkritiker als ihre Aufgabe betrachtet, die Elemente des Gedichts, des Dramas, des Romans oder der Erzählung in etwas anderes zu übersetzen.[10]
Die «Aggressivität» und «Pietätlosigkeit», die Sontag den marxschen oder freudschen Hermeneutiken zuschreibt, sind für sie nur radikale Ausprägungen einer grundsätzlichen aggressiven Pietätlosigkeit aller Hermeneutiken, die sich auf solche Formeln bringen lassen. Deren Ursachen, besser: deren Ursünde liegt für sie in einem grundsätzlich falschen Verständnis von Kunstwerken, das darin bestehe – siehe oben –, Kunstwerke überhaupt als Träger von «Bedeutungen» anzusehen und ihnen einen Inhalt zuzuschreiben, den man befragen könne. Man solle aber Kunstwerke auffassen wie Naturgegenstände: gegeben, einfach «da», ohne Bedeutung. Nun sind, wäre einzuwenden, Kunstwerke aber keine Naturdinge. Warum sollte man sie also so ansehen, als wären sie welche? Zumal über die doch auch Entbehrliches geschwatzt wird. Nur, eben, so recht interpretieren lassen sie sich – nach dem Ende aller Theodizee – nicht. Das wäre aber im Grunde der Triumph der Profanisierung: daß die Texte, die heilig waren, auch nicht mehr Träger von «Bedeutung» (und sei es von Philistern zusammengepfuschter und mit der Geste des Kennertums servierter) wären, sondern bloß ebenso da wie Stein und Moos und Eidechs. Anstaunen kann man das – aber: warum sollte man?
Susan Sontag polemisiert gegen eine gewisse Art von auskennerischem Feuilleton. Was sie dagegensetzen möchte, bleibt unklar.[11] Der Satz «Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst»[12] hilft nicht weiter. Was wäre das denn? Und was wäre das für eine Erotik, die solcherart «gebraucht» und dekretiert wird? Das ist Gerede. Aber was ist es mit der Kunst, den «literarischen Texten»? Wenn sie denn nur bestaunt (aber was sagt man dem, der nicht staunt?) oder schweigend begafft (wo wäre der Unterschied?, aber man muß vielleicht keinen machen) werden sollen, was machen wir mit dem Redebedürfnis der «Umstehenden»? Wie wäre es zu verstehen, was macht seine Selbstverständlichkeit aus, was ist es, um die stoische Formel zu verwenden, «an sich selbst»?
Susan Sontag identifiziert das Reden über Kunst/Literatur mit einer bestimmten Form, die es annehmen kann, der des Übersetzens von einer Art des Sprechens in eine andere, verbunden mit der Behauptung «dies bedeutet das». Das eine verberge etwas, das das andere entberge. Vielleicht liegt darin der Ertrag von Sontags...