1. Einführung
1.1 Wie ist die Schematherapie entstanden?
Die Grundlagen der in diesem Buch dargestellten Schematherapie wurden von Jeffrey Young in den USA gelegt. Er wurde zunächst von Joseph Wolpe, einem Pionier der Verhaltenstherapie, ausgebildet. Danach wechselte er an das Institut von Aaron Beck, dem Begründer der kognitiven Therapie, und gestaltete dort die Trainings- und Forschungsprogramme maßgeblich mit. Dabei bemerkte er, dass eine bestimmte Gruppe von Patienten nicht gut von der grundsätzlich erfolgreichen kognitiven Verhaltenstherapie profitierte. Es stellte sich heraus, dass das gerade jene Patienten waren, bei denen neben einer Depression Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur bzw. eine Persönlichkeitsstörung vorlagen. Diese Veränderungen bewirkten, dass die Patienten schlechter bei den kognitiven Therapiemaßnahmen mitarbeiten und die für die Therapie notwendigen Hausaufgaben weniger zuverlässig erledigen konnten. Jeffrey Young erkannte, dass dies nicht an einer mangelnden Motivation lag, sondern daran, dass in der therapeutischen Beziehung Emotionen aktiviert wurden, die die therapeutische Beziehung störten und die Mitarbeit erschwerten. Er sah, dass die zielorientierte Arbeitsbeziehung der Verhaltenstherapie bei diesen Patienten nicht ausreicht, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, da bereits die Beziehungsaufnahme selbst durch Misstrauen oder andere störende Emotionen beeinträchtigt wurde. Eine wesentliche Erweiterung der Schematherapie gegenüber der kognitiven Verhaltenstherapie stellt daher die besondere Art der Beziehungsgestaltung dar, wie sie im Kapitel 5 beschrieben wird.
Die Interaktion zwischen Patient und Therapeut wird dadurch belastet, dass innerhalb der therapeutischen Beziehung frühere Beziehungserfahrungen der Patienten aktualisiert werden. Dies bedeutet, dass die Patienten unbewusst auch in der Therapie Entwertung, Im-Stich-gelassen-Werden, Beschämung oder Überforderung erwarten, „weil es früher immer so war“, und sich in Vorwegnahme dieser Enttäuschung entsprechend skeptisch und misstrauisch verhalten. Eine Therapie kann diese unbewussten Befürchtungen nicht umgehen, sondern muss sie in der Therapie gezielt bearbeiten, damit sie verändert werden können. In ihrer „Control-mastery-Theorie“ bezeichnen Sampson und Weiss dies als „Beziehungstests“, die der Therapeut bestehen müsse(1). Solche Verhaltensweisen der Patienten sind also nicht als Störungen der Arbeitsbeziehung zu verstehen, die möglichst vermieden werden sollen, sondern sie sollten zum Gegenstand der Therapie gemacht werden. Durch Kontakte mit der Gestalttherapie lernte Jeffrey Young Techniken kennen, die die emotionalen Aspekte dieser negativen Beziehungserfahrungen in der Therapie aktualisieren, klären und verändern können, und integrierte diese in die Verhaltenstherapie. Erst wenn die Patienten in einer sog. korrigierenden emotionalen Erfahrung erleben, dass sich in der therapeutischen Beziehung nicht die negativen früheren Erfahrungen wiederholen, sinkt ihre innere Anspannung und sie sind imstande, die kognitiven und verhaltensbezogenen Therapiemaßnahmen optimal zu verstehen und umzusetzen.
Die neurobiologische Forschung zeigt, dass das Beziehungsverhalten von Menschen wesentlich durch frühe Erfahrungen und weitgehend unbewusst gesteuert wird. Auf diese unbewussten Prozesse wird durch die erlebnisaktivierenden Verfahren (z.B. Imaginationsübungen) Einfluss genommen, indem die unbewusste Verhaltenssteuerung ins Bewusstsein gehoben wird. Dadurch werden sie dem bewussten Denken (den sogenannten Kognitionen) zugänglich gemacht. Im zweiten Schritt wird dann durch bewusste Denkprozesse auf die emotionalen Aktivierungen korrigierend Einfluss genommen. Bildlich gesprochen: Die emotionale Verhaltenssteuerung wird kognitiv „übersteuert“. Da die Prozesse der bewussten Verhaltenssteuerung ihren Sitz in den frontalen kortikalen Regionen des Gehirns haben, spricht man im Englischen von einem sogenannten cortical override. Durch die emotionsaktivierenden Techniken, insbesondere die Imaginationsverfahren (siehe Abschnitt 6.2.1), können die Patienten intensiv erleben, wie sich in der Vergangenheit angelegte Erlebensmuster regelrecht in die Gegenwart „hineinschieben“. Unbemerkt beeinflusst damit dauernd die Vergangenheit das Verhalten in der Gegenwart und verstellt dadurch die Zukunft (siehe Abschnitt 2.1). Wenn Patienten diese Zusammenhänge durchschauen, sind sie eher bereit, sich von ihren spontanen, automatisierten Verhaltensimpulsen zu lösen und neue Verhaltensmuster unter kognitiver Steuerung aufzubauen. Die Schematherapie bietet dazu ein klar strukturiertes Konzept mit einer Folge von aufeinanderfolgenden Therapieschritten an.
Bisher gab es in der Verhaltenstherapie als spezifische Methode zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen nur die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) von Marsha Linehan(2), die allerdings vor allem auf das selbstschädigende und therapiegefährdende Verhalten von Patienten mit Borderline-Störungen abzielt. Die Schematherapie stellt nun eine zweite Therapiemethode dar, die individuell auf die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Patienten zugeschnitten werden kann und ebenfalls weitgehend manualisiert (d.h. im Ablauf vorstrukturiert) ist. Damit ist die Schematherapie nicht nur für Menschen mit Borderline-, sondern mit allen Persönlichkeitsstörungen bzw. -zügen geeignet und damit breiter anwendbar. Die guten Ergebnisse der ersten kontrollierten Therapiestudien (siehe Kap. 8) geben Anlass zu der Hoffnung, dass die Schematherapie in Zukunft zu einem Standardverfahren in der Verhaltenstherapie zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen oder Persönlichkeitsakzentuierungen werden kann. Dies führt zur folgenden Frage:
1.2 Für wen ist die Schematherapie geeignet?
Bei der Behandlung psychischer Störungen wird unterschieden zwischen Methoden, die sich primär an die vordergründige Symptomatik richten, und solchen, die versuchen, die dahinterliegende Persönlichkeitsstruktur zu beeinflussen. In dem Klassifikationssystem der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, dem DSM-IV, werden auf der Achse-I die Störungen nach ihren Symptomen beschrieben (z.B. Depression, Ängste, abhängiges Verhalten, Somatisierungsstörungen etc.) und auf der Achse-II die sogenannten Persönlichkeitsstörungen (z.B. narzisstische, Borderline, histrionische, abhängige, unsicher-vermeidende, antisoziale etc.). Erfüllt eine belastete Persönlichkeitsstruktur (noch) nicht die Diagnosekriterien des DSM, kann man von einer Persönlichkeitsakzentuierung sprechen. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bei der Behandlung von Achse-I-Störungen als erfolgreich erwiesen. Die Schematherapie versucht nun, kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken mit Techniken aus anderen Therapiemethoden zu kombinieren, um auch Achse-II-Störungen erfolgreich behandeln zu können. Auch wenn keine ausgesprochene Persönlichkeitsstörung vorliegt, werden viele Achse-I-Störungen durch unvorteilhafte (dysfunktionale) Verhaltensweisen, die im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung erworben wurden, aufrechterhalten oder sogar hervorgebracht. Im Sinne der Konsistenztheorie vom Klaus Grawe (siehe Abschnitt 2.2) entwickelt sich die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen als Anpassungsleistung an seine Lebensbedingungen in der Kindheit. Wenn diese Anpassungsleistungen die innere Konsistenz (d.h. „Stimmigkeit“) nicht mehr herstellen können, entwickeln die Menschen Achse-I-Störungen und deren Symptome als weitergehenden Anpassungsversuch (siehe Abb. 3). Bei vielen Achse-I-Störungen bestehen daher im Hintergrund auch Persönlichkeitsveränderungen, die dazu führen können, dass nach einer erfolgreichen symptomatischen Behandlung rasch wieder Symptome auftreten, wenn nicht auch die Persönlichkeitsstruktur mitbehandelt wird. Vor diesem Hintergrund ist es bei vielen Patienten sinnvoll, nach einem ersten Behandlungsabschnitt mit symptombezogenen Maßnahmen in einem zweiten Schritt auch Veränderungen im Bereich der Persönlichkeitsstruktur anzustreben. Im Sinne der Minimalintervention sollte jedoch zunächst geprüft werden, ob durch eine symptombezogene Behandlung eine ausreichende Verbesserung und Stabilität erreicht werden können. Erst wenn sich im Therapieverlauf zeigt, dass deutliche Veränderungen des zwischenmenschlichen Verhaltens (sogenannte Beziehungs- oder Interaktionsstörungen) bestehen, sollten diese mit den spezifischen schematherapeutischen Techniken angegangen werden. In diesem Sinne erweitert die Schematherapie die Verhaltenstherapie mit zusätzlichen Techniken. Damit ist sie innerhalb eines verhaltenstherapeutischen Gesamtbehandlungsplanes in der sog. Richtlinien-Psychotherapie anerkannt und wird von den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen erstattet.
Man kann die Indikation zu einer Schematherapie auch noch aus einem anderen Blickwinkel, nämlich der Bindungsforschung, betrachten. Die Bindungsforschung wurde maßgeblich von Jean Piaget und seiner Schülerin Mary Ainsworth aufgrund ihrer Beobachtungen an Kleinkindern begründet.(3) Sie untersucht und beschreibt, wie sich bereits in den ersten Lebensmonaten durch die Interaktion zwischen den Bezugspersonen und dem Kind Verhaltensmuster herausbilden, die dann über das weitere Leben stabil bleiben. Dabei werden sichere von unsicheren Bindungsformen unterschieden (siehe Abschnitt 2.3). In der Allgemeinbevölkerung haben etwa zwei Drittel der Menschen sichere Bindungen, bei Psychotherapiepatienten überwiegen dagegen mit 80 bis 90 Prozent die unsicheren Bindungen. Menschen mit einer unsicheren Bindung reagieren auf Trennungen mit erhöhtem Stress, den sie durch spannungsreduzierende Verhaltensweisen bis hin zu...