3. EMOTIONEN UND SOMATISCHE MARKER
(zurück zu Kapitel 10: ORIENTIERUNG UND ENTSCHEIDUNG)
„Mein Bauchgefühl sagt mir ...“
„Da zieht sich in mir alles zusammen.“
„Das geht mir an die Nieren.“
„Bei dieser Vorstellung wird mir ganz flau.“
„Da stockt mir der Atem.“
„Das sitzt mir im Nacken.“
„Das zieht mich runter.“
„Es juckt mir in den Fingern.“
Wenn wir wissen wollen, wie es uns geht, brauchen wir nur auf unseren Körper zu achten. Das klingt simpel, ist aber oft nicht einfach – und: Es stimmt. Es stimmt, wenn man häufige Redewendungen untersucht, alltägliche Abläufe genauer beobachtet oder die moderne Hirnforschung heranzieht.
Gesunder Menschenverstand braucht Emotionen und Körperempfindungen
Heute weiß man, dass Vernunft und rationales Handeln so gut wie immer auf emotionale Zentren im Gehirn zurückgreifen.
In den letzten Jahren schickte sich die Hirnforschung an, gewohnte Vorstellungen darüber, wie vernünftige Entscheidungen und überlegtes Handeln zustande kommen, einigermaßen über den Haufen zu werfen. Bis vor Kurzem galten Emotionen und Körper bei rationalen Entscheidungen oft als Hindernisse, deren Einfluss man möglichst minimieren sollte. Heute weiß man, dass Vernunft und rationales Handeln so gut wie immer auf emotionale Zentren im Gehirn zurückgreifen. Ist dieser Zugriff gestört, wie es bei bestimmten Krankheitsbildern der Fall ist, handeln Menschen nicht mehr so, wie man es mit einem „gesunden Menschenverstand“ tun würde, obwohl sie denselben IQ haben wie vor der Erkrankung. Vor allem die Fähigkeiten, mit anderen angemessen umzugehen, Prioritäten zu setzen oder Risiken einzuschätzen, sind extrem beeinträchtigt.
Die Bedeutung von Emotionen und Körperreaktionen für eine gute Selbstführung ist so groß, dass man sie kaum überschätzen kann.
Besonders der amerikanische Arzt und Hirnforscher Antonio Damasio (2002) hat mit seinen umfangreichen Untersuchungen nachgewiesen, dass die Bedeutung von Emotionen und Körperreaktionen für eine gute Selbstführung so groß ist, dass man sie kaum überschätzen kann. Wie ist das zu verstehen? Die Frage nach besserer Selbstführung taucht vor allem dann auf, wenn jemand mit sich und seinem Handeln unzufrieden ist. Das kann von gelegentlich störenden automatischen Reaktionen über gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster wie Ungeduld oder Konfliktvermeidung bis hin zu grundlegenden Lebenshaltungen wie Pessimismus oder Misstrauen gehen. Auf der rationalen, bewussten Ebene ist es schwer ergründbar, wie solche Muster entstehen, und die Erklärungen darüber sind oft unbefriedigend. Wenn eine Person zum Beispiel ihre pessimistische Einstellung mit schlechten Kindheitserfahrungen oder eine andere ihr ständig ungeduldiges Druckmachen mit ihrer Zielstrebigkeit begründet, so ist da sicherlich etwas Wahres dran – aber es beschreibt nur oberflächliche Zusammenhänge. Vor allem aber gibt es kaum Anhaltspunkte, ob und wie mit solchen Erklärungen eine Veränderung dieser Muster möglich wäre.
Nur wer seine Limitierung wahrnimmt, kann sich bewusst weiterentwickeln
Ein erfolgreicher junger Manager bemerkt seine ausgeprägte Ungeduld möglicherweise lange gar nicht. Im Job wird seine Leistungsorientierung von Vorgesetzten positiv bewertet. Erst wenn zwischenmenschliche Beziehungen schwierig werden, wenn er hört, dass sein Druck und seine Hast andere in seinem Umfeld stören und kaum mehr echte Intimität ermöglichen, fängt er an, darüber nachzudenken. Wenn er keine gute Selbstwahrnehmung hat, bekommt er jedoch auch dann die Momente nicht mit, wenn er andere unterbricht, überfährt, Druck macht. Erst durch ihre Reaktionen – wenn seine Frau ihn bremst, die Kinder anfangen zu quengeln oder Freunde sagen: „Mach doch mal langsamer!“ – wird ihm bewusst, dass er schon wieder so ungeduldig ist.
Eine entscheidende Frage für jede persönliche Veränderung ist: Wie bemerkt und beeinflusst man problematische Muster? Und wie nimmt man die entstehenden Impulse wahr, bevor sie zur Ausführung kommen? Automatismen geschehen so schnell, Gewohnheiten sind so eingeschliffen, dass man sich währenddessen wenig Gedanken über das eigene Verhalten macht. Und auch wenn unser Manager anfinge, über sein Gefühl von Ungeduld nachzudenken, ist sein Reden längst schon schnell und drängend geworden. Er kann dann bestenfalls versuchen, sich abzubremsen, wieder langsamer und geduldiger zu werden. Aber auf den Gesprächspartner hat er bereits gereizt und unwirsch gewirkt. Der Ansatz, das eigene Denken zu beobachten, ist zwar hilfreich, setzt aber recht spät ein und reicht meistens nicht aus.
Entscheidend für jedes Verhalten sind Körpersignale
Körperliche Veränderungen sind so eng mit Emotionen und Stimmungen verknüpft, dass sich der innere Zustand bereits im Körper zeigt, noch ehe man darüber nachdenken kann.
Damasio hat schlüssig nachgewiesen, wie eng spezifische körperliche Veränderungen mit Emotionen und Stimmungen verknüpft sind und wie sie gleichzeitig mit ihnen auftreten. Die vielen Redewendungen, die diesen Zusammenhang widerspiegeln, können wir als naturwissenschaftlich bestätigt betrachten. Vor lauter Freude schlägt das Herz höher, der Druck macht Kopfzerbrechen, vor Schreck stockt der Atem, die emotionale Verletzung ist wie ein Schlag, die Angst zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass der innere Zustand sich bereits im Körper zeigt, bevor man darüber nachdenken kann. Deshalb machen Menschen oft einen Quantensprung in der Wahrnehmung eigener Muster, wenn sie beginnen, körperliche Signale genauer zu beobachten. So wie Gabi Taler sich durch die Wahrnehmung ihrer zusammengefallenen Körperhaltung selbst auf die Spur kommen konnte, so können viele ihr Befinden nur bemerken, wenn sie für einen Moment achtsamer werden. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung lässt sich weiterentwickeln, und mit entsprechender Übung können Handlungsimpulse schon vor ihrer Umsetzung bemerkt werden.
Um zu verstehen, weshalb körperliche Veränderungen und Emotionen so eng zusammenhängen, muss man sich über die zentrale Bedeutung von Emotionen im Klaren sein. Jedem Handeln gehen emotionale Einschätzungs- und Entscheidungsprozesse voraus. Diese emotionale Steuerung ist im Laufe der Evolution entstanden, um höher entwickelten Lebewesen wie Säugetieren oder Vögeln ein besseres Überleben bei sich wandelnden Umweltbedingungen zu ermöglichen. Ergänzend zu angeborenem und unveränderlichem Instinktverhalten steuern Emotionen grundlegende Regulierungs- und Lernprozesse flexibler, als genetisch verankerte Verhaltensautomatismen das je könnten.
Emotionen wirken – bei jedem Verhalten und allem Lernen
Biologisch dienen Emotionen dazu, auf unterschiedlichste Auslöser eine jeweils passende spezifische Reaktion hervorzurufen und den Körper darauf einzustellen, dass er für das entsprechende Handeln sofort vorbereitet ist (Damasio 2002, S. 71). Fühlt man sich beispielsweise bedroht, dann entscheiden die emotionalen Bereiche des Gehirns in Sekundenbruchteilen über die Reaktion des Organismus – bei Gefahr etwa darüber, ob man flüchtet, kämpft oder sich tot stellt. Dies ist so fest verankert, dass es sich nicht verhindern lässt. Egal, ob dies in einem Gespräch, im Straßenverkehr oder nachts im Wald geschieht – Emotion und Körper reagieren. Der Hauptunterschied zwischen Menschen und Tieren liegt darin, dass die meisten von uns gelernt haben, den Ausdruck ihrer Emotionen zu minimieren und die zugehörigen Handlungsimpulse zu unterdrücken.
Wir erinnern uns leichter an emotional intensive Erlebnisse, an Momente, die uns tief berührt, bewegt oder erschüttert haben.
Nun ist es jedoch so, dass wir Menschen uns in der gleichen Situation unterschiedlich bedroht fühlen – und entsprechend anders reagieren. Hier spielt eine weitere große evolutionäre Errungenschaft der emotionalen Steuerung eine Rolle: Emotionen sind die Grundlage des Lernens. Jede Erfahrung wird emotional ausgewertet und, wenn die Gefühle dabei stark genug waren, in der Erinnerung festgehalten. Je intensiver die Gefühle, desto größer ist die Bedeutung. Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth stellt fest, dass „Dinge umso besser erinnert werden, je deutlicher sie von emotionalen Zuständen begleitet waren“ (2003, S. 303). Wir erinnern uns leichter an emotional intensive Erlebnisse, an Momente, die uns tief berührt, bewegt oder erschüttert haben. Die meisten Leser erinnern sich ziemlich sicher an den 11. September 2001 und wissen auch heute noch genau, wo sie die Nachricht über die Anschläge das erste Mal hörten und was sie danach taten. Solche Erlebnisse prägen sich stark ein und können jahrzehntelang in Erinnerung bleiben.
Das emotionale Erfahrungsgedächtnis ist immer dabei
Da Erfahrungen, Emotionen und Lernen so eng verbunden sind, lag es für Gerhard Roth (2003) nahe, die Bereiche des Gehirns, die mit diesen Verknüpfungen zu tun haben, emotionales „Erfahrungsgedächtnis“ zu nennen. Das ist zwar keine anatomisch sauber abgrenzbare Struktur, aber eine sinnvolle Bezeichnung für eine Funktion, die praktisch ununterbrochen unser Leben regelt. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis bewertet ständig alle Geschehnisse. Dies geschieht durch den blitzschnellen emotionalen Vergleich der gegenwärtigen Situation mit früheren Erfahrungen unter ähnlichen Umständen. Und genau...