Prolog
An einem Brandenburger Nachmittag, das Havelglitzern hinter sauber geschnittenen Hecken, geraten Joachim Król und ich noch einmal richtig hinein in die DDR.
Hunderte Kilometer und ein gutes Dutzend Geschichten liegen da bereits hinter uns, Begegnungen und Biographien, aufgelesen am Straßenrand, hinter den Leitplanken der Landstraßen, an Autobahnausfahrten, auf Raststätten, im märkischen Sand. In Wohnzimmern und Wachtürmen, im Verborgenen und im vielleicht auch schon Bekannten. Geschichten vom Weggehen und vom Ankommen, vom Nochmalanfangen. Deutsche Geschichten auf einer sehr deutschen Reise, auf der wir der Grenze nachspüren wollten, 30 Jahre nachdem die Grenzen geöffnet wurden.
Und nun stehen wir hier, am Tresen einer gerade noch gemütlichen Kneipe, im Rücken eine Wand aus Erinnerungen, getäfelt mit jenem Holz, das die Russen zurückgelassen haben, und lauschen einem Monolog aus dem Gedächtnis der Teilung, der noch einmal alles nach oben spült, das Gewesene und das Gehörte, mit Sätzen, in denen sich die Jahrzehnte überlagern, aus gestern wieder heute wird. Sie fliegen uns entgegen, darin die Namen, die uns zuvor schon begleitet hatten, als seltsame Beifahrer. Krenz und Kohl, Honecker und Genscher.
Es sind innerdeutsche Sätze, geteilte Erinnerungen, in denen es um die Enttäuschung geht und um die Mauer. Sätze, in denen der Westen immer noch drüben und der Osten immer noch hintendran ist. Das ganze Ost-West-Ding, wo man feindwärts schießt und freundwärts lauscht. Hier, in diesem Sturm, sind wir wieder die Wessis, zwei Gäste von der anderen Seite. Schöner, weil ehrlicher, kann es also kaum mehr werden.
Ich schaue Joachim an, er lächelt. Zufrieden. Es ist nun doch alles so, wie wir es uns vielleicht sogar erhofft hatten. Damals in Hamburg.
Dort, im Schauspielhaus, hat diese Reise begonnen. Und natürlich war die Idee dazu, das gehört sich so, eine, die im Schnaps geboren wurde.
Im Mai 2009, es war die Show nach dem eigentlichen Abend, standen wir uns plötzlich gegenüber, in einem langen Flur, der angefüllt war vom Raunen der Prominenz, den Gesprächen der Wichtigen, der Kommentatoren und Kolumnisten.
Der rote Teppich hatte erste Brandlöcher, in der Luft lag der schale Geruch von Champagner und Hierarchie.
Joachim hatte zuvor auf der Bühne gelesen, ich hatte zugehört. Wir kannten uns nicht. Im Taumel dieses Abends aber, vereint in der großen Liebe zum Fußball, begannen wir eine unmittelbar übermütige Unterhaltung, in der es erst um die Bundesliga ging und irgendwann auch, die Scheinwerfer längst erloschen, aber alle Lampen an, um das Kino. Und ich erzählte ihm von meiner großen Begeisterung für einen seiner frühen Filme. Wir können auch anders von Detlev Buck, den ich mir gerade erst wieder angeschaut hatte, ein Zufall, die Eindrücke waren noch frisch.
Dieser Film, das sagte ich ihm, entfaltet noch immer einen besonderen Zauber. Weil er, ganz beiläufig, eine irre Zeit eingefangen hat. Wir können auch anders, Bucks Komödie, ist ein Roadmovie durch den Osten, die Bilder staubig und gegen die Sonne, ein Nachwende-Western in den Kulissen der gerade erst ehemaligen DDR. Und fast kann man dabei zusehen, wie sich in diesen 90 Filmminuten das Land verändert, wenn aus den Trabis der Volkspolizei die Volkswagen des BGS werden.
Am Ende ein deutsch-deutscher Abspann.
Der Film ist die Geschichte zweier Brüder, Kipp und Most, die ein Gutshaus geerbt haben hinter Schwerin und sich deshalb aufmachen, in einem himmelblauen Hanomag in den Osten fahren. In der Hand eine Karte, doch sie können nicht lesen. Und kommen deshalb, im Schilderwald Deutschland, bald ab vom Weg.
Zwei Arglose, die sich der Zeit, durch die sie reisen, nicht bewusst sind. So werden sie zu den ersten Touristen der neuen Bundesländer. Randfiguren am Rande. Einfaltspinsel vor einer noch leeren Leinwand.
Und mit den Schauspielern allein saßen die Gegensätze im Wagen. Auf dem Beifahrersitz Joachim, der Wessi aus Herne, der Vater ein Kumpel, die Kindheit mit Kohlestaub überzogen. Am Steuer Horst Krause, der Bauernsohn aus Brandenburg. Kipp und Most, Król und Krause, das waren Dick und Doof, Ost und West. Das gerade richtige Duo.
Der Film, er ist deshalb auch die Geschichte zweier Länder, eine wilde Fahrt durch die Nachwendejahre. Davon erzählen schon die zuerst erdachten, dann aber verworfenen Filmtitel.
Odyssee im Schweineland.
Fröhlich durchs Jammertal.
Plötzlich waren sie da.
Ein Eastern, sagte Joachim damals, längst entflammt, ein Leuchten in den Augen, darin der junge Mann, der er selbst war, während der Dreharbeiten 1992. Und als hätte er nur darauf gewartet, all die Jahre seitdem, begann er zu erzählen. Von den Erlebnissen in einem gerade vereinten Land, die DDR noch als Kratzputz an jedem Haus.
Wir waren damals, sagte Joachim, das erste Filmteam im Osten, das große Kino des Westens. Mit wilden Blicken empfangen. Ein Sommer, den er bis heute in sich trägt. Die Eindrücke, die Hitze. 37 Grad im Schatten, titelte die Super-Illu damals, selbst die Trabis werden weich. Plaste, die über Kopfsteinpflaster rann. Das weiß Joachim noch genau. Auch die Drehorte kann er problemlos aufzählen. Tornow, Marienthal, Zehdenick, Eberswalde, Boltenhagen. Das ist hängengeblieben, ein innerer Kompass, der nach Osten zeigt. Joachim ist diesen Film, den Kipp, nie wirklich losgeworden.
Nach den Dreharbeiten damals hatte er sich geschworen, zurückzukommen, um das Land hinter der Kamera zu erkunden, hinter den Kulissen, dem künstlich aufgespannten Horizont der Beleuchter. Einmal dieses andere Deutschland kennenlernen, vielleicht sogar verstehen. Da ist ja noch so viel, da lauern die Geschichten. An jeder Ecke. Hinter jeder Tür, man muss einfach nur anklopfen.
Joachim hat diese Reise jedoch nie gemacht. Ganz so, als hätte ihn etwas abgehalten.
Er ist, mal als Schauspieler, mal als Tourist, bis nach Dresden gekommen und nach Ost-Berlin, aber das zählt irgendwie nicht. Die neuen Bundesländer, das erzählte er mir gleich, sind ihm seltsam fremd geblieben, schwarze Flecken in seinem persönlichen Atlas.
Ich überlegte, bereits Szenen im Kopf, eine Route wohl auch.
Eigentlich, sagte ich schließlich, müssten wir einfach noch einmal hineinfahren, in diesen Film, in den Osten, in die Erinnerungen. Das wäre doch was. Im Gepäck all die Fragen, die naiven und die unbedingten. Was war das eigentlich. Und wie lange hielt das wirklich an, die DDR, ein Zustand mehr als ein Land.
Hineinfahren also, um mal zu schauen, was die Wende mit jenen Leuten gemacht hat, die sie hautnah miterlebt haben, an der Mauer, am Zonenrand, in einem Auto auf der Flucht. In Tränen aufgelöst oder im Jubel, im Stadion oder am Schreibtisch. Das wäre doch der Film, den er nie gedreht hat. Was meinste?
Joachim lachte, er nickte, er war den Umständen entsprechend begeistert. Klar machen wir das, sagte er, am besten gleich morgen. Und wir tranken auf Brüderschaft, bis wir uns in der Nacht, in der Menge aus Erzählern und Erzähltem, aus den Augen verloren. Eine Schnapsidee eben.
Neun Jahre sind seitdem vergangen.
Neun Jahre später, der Film ist nun ein Vierteljahrhundert alt und die Mauer so lang weg wie sie stand, beugen wir uns in Joachims Küche in Köln über die ADAC-Länderkarte Deutschland Nord-Ost, die wir vor uns auf dem Esstisch ausgebreitet haben wie einen Schlachtplan. Zwei Reisende am Vorabend ihres Aufbruchs, zwei Feldherren, nur bewaffnet mit Kugelschreiber und Textmarker.
Alte Schule, hatte Joachim gesagt, Neongelb auf Papier, damit wir am Ende sehen können, wie weit wir gekommen sind. Joachim mag keine Navis, diese Stimmen aus den Lautsprechern.
Und so zeichnen wir die Route ein, Punkt für Punkt. All die Abzweigungen, weit über den Film hinaus. Vom Ruhrgebiet nach West-Berlin. Über die A2, durch den Zonenrand hindurch, folgen wir dem einstigen Transit. Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg. Helmstedt, Marienborn, Michendorf.
Es ist die Strecke aus Joachims Jugend. Der Weg, den er als Tramper genommen hat, 70er Jahre, die Haare lang, den Daumen raus, immer wieder. Durch das Ostmeer hindurch zur Insel mit dem Funkturm, wo die Freunde wohnten, die zu schlau waren für das Militär. Die ganzen Che-Guevara-Typen, sagt Joachim. Nach Berlin musste man gehen, weil es nur dort wirklich ging. Später waren auch Bowie und Iggy Pop da. Was wollte er mehr.
Danach fahren wir von Berlin zur Ostsee, hinein in den Film, zu den Drehorten auch, dem Wiedererkennen hinterher. Joachim als Suchender, die Anekdoten im Schoß. Die große Klappe, bis sie fällt. Und ich neben ihm, als Beifahrer, als Beobachter. Klar verteilte Rollen. Und ich kann seine Vorfreude spüren, während er mit dem Finger über die Karte fährt, hinauf bis zum Meer.
Boltenhagen, wo die Sehnsucht vor Anker liegt.
Deutschland, sagt er schließlich, was bist du groß geworden. In den 30 Jahren seit der Wende, grenzenlos bis an den Horizont, als hätte jemand den Maßstab verändert.
Das alles liegt nun vor uns. Das Land und die Menschen, die wir in den kommenden Wochen besuchen werden, damit sie ihre Geschichten mit uns teilen, ihre Grenzerfahrungen, subjektiv und persönlich, die im Kleinen für das Große stehen, und losgelöst voneinander doch Zusammenhänge schaffen. Ein Dutzend Biographien, Kippfiguren auch. Jene Menschen also, die vom Osten in den Westen gegangen sind und andere, die den umgekehrten Weg gewählt haben. Ihre Gründe als Erklärung.
Deshalb geht es am...