KATHARINA BRAUN, CARINA HELMEKE UND JÖRG BOCK
Bindung und der Einfluss der Eltern-Kind-Interaktion auf die neuronale Entwicklung präfrontaler und limbischer Regionen: Tierexperimentelle Befunde
Bindung als frühkindlicher Lernprozess
Bei vielen Tierarten, einschließlich dem Menschen, modulieren und kontrollieren die Eltern die Umgebung ihrer Nachkommen. Über ihr – für jede Spezies im Verlauf der Evolution optimiertes – Brutpflegeverhalten beeinflussen sie die physiologischen Prozesse ihrer Nachkommen und bieten ihnen dadurch die Möglichkeit, sich körperlich und geistig optimal zu entwickeln (Fleming et al. 1999). Die Interaktion mit einer (verwandten oder sonstigen) stabilen Bezugsperson führt bei Primaten, bei vielen anderen Säugern und auch bei Vögeln zum ersten nachgeburtlichen emotionalen Lernprozess, der in der Ethologie als Filialprägung bezeichnet wird. Dieser sehr schnelle und überlebensnotwendige frühkindliche Lernvorgang wurde von Ethologen klassischerweise an nestflüchtenden Vogelarten untersucht, berühmt geworden durch die auf Konrad Lorenz »geprägten« Graugansküken. Die Vogelküken lernten innerhalb der sogenannten »kritischen« oder »sensiblen« Phase ihrer Entwicklung, sich auf einen Menschen zu fixieren, da der natürliche Bezugspartner, die Mutter, nicht zur Verfügung stand (Lorenz 1935). Auf der Grundlage einer genetischen Prädisposition für spezifische Reiz-Reaktionsverkettungen kann Prägung als eine spezielle Form von assoziativem Lernen betrachtet werden. Neben der Filialprägung gibt es auch andere Formen prägungsähnlichen Lernens, wie z. B. die Sexualprägung, die Gesangsprägung bei Singvögeln oder den Erwerb von Phonempräferenzen beim Menschen beim Erlernen der Muttersprache.
Evolutionsbiologisch zeigt das Beispiel der Filialprägung, wie alt (und im darwinistischen Sinne offenbar auch sehr erfolgreich) das Prinzip der Eltern-Kind-Bindung ist. Die entsprechende biologisch-darwinistische Betrachtungsweise wurde von Bowlby in die psychologische Literatur eingeführt, dessen Interesse nicht nur der pathologischen, sondern auch der normalen Entwicklung der Kind-Mutter-Bindung galt. Im Gedankenaustausch mit Ethologen entwickelte er seine ethologisch inspirierte Version der Bindungstheorie.
Auch die heutige Entwicklungsneurobiologie/Neuroethologie betrachtet die Filialprägung als »Ur-Form« der Bindung, die mit zunehmender Höherentwicklung der Spezies sehr viel komplexere Formen annimmt (Braun et al. 2005). Bei Primaten, einschließlich dem Menschen, ist eine Vielzahl von aufeinander aufbauenden, subtil orchestrierten Erfahrungs- und Lernprozessen für die Entstehung der emotionalen Bindung zwischen dem Neugeborenen und seinen Eltern von Bedeutung; diese Lernprozesse finden innerhalb bestimmter, mehr oder weniger stringent definierter psychologischer und gehirnbiologischer Entwicklungszeitfenster, »kritischer« bzw. »sensibler« Phasen statt (Bowlby 1995; Spitz 1996). Die frühe, postnatal voranschreitende Gehirnentwicklung und die in vielen Gehirnsystemen sehr stark von Erfahrungen gesteuerte Optimierung der neuronalen Schaltkreise bilden das neuronale Substrat für die Entwicklung und Optimierung bestimmter Verhaltensweisen. Sicherlich nicht zufällig stimmen die Zeiträume der psychologisch definierten Entwicklungszeitfenster, die über den Erwerb bestimmter Fähigkeiten (wie Sehen, Feinmotorik, Laufenlernen, Spracherwerb u. v. a. m.) klassifiziert sind, recht gut mit neurobiologisch definierten Entwicklungszeitfenstern der Gehirnentwicklung überein, die über die funktionelle Entwicklung bestimmter Gehirnsysteme (Sehbahn, motorische Bahnen, Hörbahn etc.) definiert werden.
Das Bindungsverhalten entwickelt sich beim Menschen im ersten Lebensjahr. Das individuelle Bindungsverhalten und der Bindungstyp eines Neugeborenen entstehen durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Mit seinen Bindungspersonen (in der Regel die Eltern) entwickelt das Kind eine Bindungsstrategie, welche, nachdem sie sich gefestigt hat, weitgehend beibehalten wird. Die stärkste Prägung findet dabei innerhalb der ersten sechs Lebensmonate statt, wobei jedoch im Verlauf der weiteren Verhaltensentwicklung eine deutliche Plastizität zu beobachten ist. Über eine kontinuierliche Modifikation im Verlauf der Kindheit und Jugend formt sich das Bindungsverhalten im ständigen »Gebrauch« (begleitet von multiplen Lernprozessen!) zu einem individuellen Wesensmerkmal aus.
Aus der Bindungstheorie konnten viele empirisch überprüfbare Hypothesen abgeleitet und der Einfluss der frühen Mutter-Kind-Beziehung auf die spätere Entwicklung des Kindes differenziert nachgewiesen werden. Positive und negative Bindungserfahrungen unterliegen einer Verallgemeinerung, d. h. sie werden im weiteren Lebensverlauf auf andere Menschen »übertragen« (»carry over«-Effekt). Die Stabilität der in früher Kindheit erworbenen emotionalen Bindungskompetenzen lässt darauf schließen, dass sich im Verlauf von positiven und negativen Bindungserfahrungen nicht nur das Verhalten, sondern insbesondere auch die neuronalen Schaltkreise des sich entwickelnden Gehirns, insbesondere das für emotionale Verhaltenssteuerung und Lernprozesse essentielle limbische System und präfrontale kortikale Areale, reorganisieren und optimieren bzw., im negativen Falle, pathologisch entwickeln.
Aus Studien der vergangenen 30 Jahre wurde zunehmend die Erkenntnis gewonnen, dass die Fürsorge, die ein Kind in den ersten Lebensjahren von den Eltern erhält, für seine spätere seelische Gesundheit von grundlegender Bedeutung ist. Insbesondere von Bowlby wurde die Bedeutung von früher Bindung, Trennung und Verlust eindrucksvoll beschrieben (Bowlby 1977, 1988). In solchen Studien konnten auch Parallelen zu tierexperimentellen Untersuchungen aufgezeigt werden. Unter anderem wurde beispielsweise die »smiling response«, also das Lächeln des Säuglings, wenn er eine Bezugsperson erkennt, als physiognomisches Äquivalent der Nachlaufreaktion des Vogelkükens betrachtet. Verhaltensexperimente mit wenige Tage alten Säuglingen zeigten, dass die Kinder bereits die Stimmen bzw. den Geruch ihrer Eltern von denen fremder Frauen oder Männern unterscheiden können und dass sie diese erlernten emotional gekoppelten sensorischen Reize im Verhaltenstest deutlich bevorzugen (DeCasper & Fifer 1980). Ganz analog wurde dies im Tiermodell an der bereits erwähnten Filialprägung bei nestflüchtenden Vogelküken und bei Nagern (Degus) und Kaninchen gezeigt (Hudson & Distel 1998). Sowohl das Vogelküken als auch die neugeborenen Degus und Kaninchen können den spezifischen Geruch bzw. die Stimme ihrer Mutter erkennen und wenden sich, wenn sie alleine sind, diesen Reizen bevorzugt zu. Offenbar bilden die Säuglinge und die Jungtiere im Verlauf der ersten Lebensstunden oder -tage eine Assoziation zwischen dem akustischen bzw. olfaktorischen Reiz und einer positiven emotionalen Situation.
Beobachtungen u. a. von René Spitz bei Heimkindern, die ohne eine Bezugsperson aufwuchsen, zeigten, dass eine fehlende Mutter-Kind-Beziehung zu Fehlentwicklungen und Entwicklungsstörungen bis hin zum Hospitalismus führt (Spitz 1945). Im späteren Entwicklungsverlauf kann es dann zu Sprachstörungen, Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und zu Defiziten der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten (Brodbeck & Irwin 1946) kommen, die sich längerfristig als psychische Erkrankungen, wie z. B. Depression und Schizophrenie (Agid et al. 1999, 2000), manifestieren können. Verblüffend ähnliche deprivationsinduzierte pathologische Veränderungen konnten in Deprivationsexperimenten des Ehepaares Harlow und später in den Arbeiten von Suomi bei Affen bestätigt werden (Harlow & Harlow 1962; Suomi 2005). Beispielsweise zeigen sozial deprivierte, von Drahtattrappen aufgezogene Affen schwere Verhaltensstörungen wie Bewegungsstereotypien, vermindertes Spiel- und Erkundungsverhalten sowie deutlich verringerte Lernleistungen. Ein Entzug der Mutter potenziert bei Ratten Verhaltensstörungen, die sich mit Angsterkrankungen und depressiven Symptomen bei Menschen vergleichen lassen (Newport et al. 2002). Dass der kritische Faktor für eine gesunde Entwicklung intellektueller und sozialer Fähigkeiten nicht so sehr die intellektuelle Anregung, sondern viel mehr eine stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson ist, zeigt eine Studie von Skeels an Heimkindern im Alter zwischen 7 und 30 Monaten (Skeels 1966). Aus einer Gruppe von Heimkindern (alle mehr oder weniger stark geistig zurückgeblieben) wurde ein Teil der Kinder aus dem Waisenhaus als »Pflegekinder« in ein Heim für debile Frauen verlegt, die übrigen Kinder (im Durchschnitt geistig normal entwickelt) verblieben als Kontrollgruppe im Waisenhaus. Die debilen Frauen des Heims bauten stabile Eins-zu-eins-Beziehungen zu ihren jeweiligen Pflegekindern auf, und die Kinder erhielten kontinuierliche und uneingeschränkte emotionale Zuwendung. Ein Vergleich zwischen den beiden Kindergruppen nach zwei Jahren ergab bereits signifikante Verbesserungen der Intelligenzleistungen der »Adoptivkinder« und ein Entwicklungsdefizit der im Heim verbliebenen Kinder. Diese Unterschiede ließen sich bis ins Erwachsenenalter nachweisen. Befunde der Studien von O’Connor und Rutter (2000) mit rumänischen Heimkindern weisen in eine ähnliche Richtung. Hier zeigte sich nach einer Adoption, dass die Schulbildung und der Sozialstatus der Adoptiveltern keinen signifikanten Einfluss auf die bei den Adoptivkindern nachweisbaren Verbesserungen der intellektuellen und emotionalen Leistungen...