Sicherheit gegen Freiheit? Worum es geht
Am 4. Mai 2011 ließ das Bundesverfassungsgericht eine Bombe platzen, deren Knall auch von denen gehört wurde, die die Aktivitäten in Karlsruhe normalerweise nur wenig beachten. Die Diskussionsforen quollen über von Beiträgen, die das Versagen der Politiker aller Parteien geißelten, vom Schlag ins Gesicht der Verbrechensopfer sprachen und den Richtern die gewalttätige Begegnung mit den Profiteuren ihrer Entscheidung an den Hals wünschten. Worum ging es? In der Tat um eine Entscheidung, die die Früchte gesetzgeberischer Arbeit von anderthalb Jahrzehnten über den Haufen warf. Das Bundesverfassungsgericht hob das gesamte gesetzliche Regelwerk die Sicherungsverwahrung betreffend auf. Auch das nur drei Monate zuvor in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung, die aufgrund der massiven Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt worden war, reichte den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts nicht. Das Verdikt war klar: Die Sicherungsverwahrung, so wie sie bis dahin geregelt war, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Dass das Thema engagiert diskutiert wird, ist verständlich. Hier geht es tatsächlich nicht um irgendein juristisches Randgebiet, das nur in seltenen Fällen berührt wird. Hier kommt es für eine ganze Gesellschaft zum Schwur: Gelten die Menschenrechte, die wir in Anspruch nehmen, für alle – auch für die, die selbst massiv dagegen verstoßen haben? Müssen Straftäter, die ihre Opfer auf sadistische Weise gequält und getötet haben, die immer wieder fundamentale Rechtsbrüche begingen, darauf hoffen dürfen, dass sie eines Tages in die Gesellschaft zurückkehren können? Oder setzen wir uns über alle Grundsätze hinweg, und es gilt für sie, um den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zu zitieren: »Wegschließen – für immer«?
Sicherungsverwahrung ist ein schwieriges Thema: Es ist emotional aufgeladen, was verständlich ist. Grässliche Verbrechen erschüttern uns ebenso wie die Vorstellung, dass jemand ein Leben lang hinter Gittern bleiben und vielleicht sogar im Gefängnis sterben muss. Das eine wie das andere spricht direkt das Gefühl an.
Das Thema ist aber auch jenseits einer persönlichen Betrachtungsweise schwierig, weil es rechtspolitisch enorme Ansprüche stellt. Die Geschichte der Sicherungsverwahrung dauert jetzt bereits rund 80 Jahre, und gerade die letzten 30 davon sind geprägt geradezu von einer Vielzahl zum Teil hektischer Veränderungen, auch von Flickschustereien, denen das Karlsruher Urteil – hoffentlich! – ein Ende gesetzt hat.
Erstaunlich ist, dass die Sicherungsverwahrung jahrzehntelang selbst unter Juristen kaum eine Rolle spielte, dabei markiert sie einen fundamentalen Zielkonflikt in der Rechtswissenschaft: Mit der Sicherungsverwahrung weichen wir von einer Grundfeste unseres Rechtsstaats ab. Es lohnt sich, an dieser Stelle noch einmal die Basis zu verdeutlichen. Erste Pflicht eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, der die Bundesrepublik Deutschland von ihrer Entstehung an im Jahr 1949 sein will, ist es, die Freiheitsgrundrechte seiner Bürger zu schützen. Bei einem Straftäter soll aber das Gegenteil passieren: Ihm soll die Freiheit entzogen werden. Dafür braucht es einen guten Grund, von Juristen »Ermächtigungsgrundlage« genannt. Für die Freiheitsentziehung mit Namen »Strafe« liegt diese Rechtfertigung in der durch unabhängige Gerichte festgestellten Schuld. Der Grundsatz lautet: »Keine Strafe ohne Schuld!« Die Bemessung der Strafe folgt der Regel: »Geringe Schuld – kurze Strafe, schwere Schuld – lange Strafe.«
Was Laien vielleicht gar nicht so klar ist: Der zentrale Begriff »Schuld« bezieht sich nach deutschem Strafrechtsverständnis immer nur auf die durch den Täter konkret vollzogene Tat, nie unmittelbar auf den Täter selbst, auch wenn ein Blick auf die Lebensgeschichte des Täters meist unumgänglich ist. Es ist ein sogenanntes Tat-Strafrecht. Ob ein Täter für die Gesellschaft je irgendeinen Beitrag geleistet hat, ob er ein guter oder schlechter Mensch, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist – das alles spielt keine Rolle. Die Freiheitsrechte des Individuums, die in unserer Verfassung garantiert sind, verhindern die Beurteilung, ob jemand etwas »wert« ist oder nicht, und wenn nicht, dass er dann weniger Rechte hätte.
In politisch anders ausgerichteten Gesellschaften – in Deutschland noch während des Nationalsozialismus oder heute etwa in autoritär regierten Ländern wie Weißrussland oder in sozialistisch verfassten Staaten wie China – zählen die Rechte des Einzelnen deutlich weniger. Wir können also froh sein, dass unsere Freiheitsrechte so hoch angesiedelt sind. Allerdings gibt es einen Nachteil dieser an sich weisen Beschränkung der Strafe auf das »konkret verwirklichte Tat-Unrecht«, wie es der Jurist ausdrückt. Dieser Ansatz lässt nur wenig Spielraum für Gesichtspunkte, wie künftige Straftaten zu verhindern wären. Natürlich kennt auch das deutsche Strafrecht den Aspekt von Spezial- und Generalprävention: So soll der Täter selbst durch das Erlebnis seiner Strafe davon abgeschreckt werden, weitere Taten zu begehen. Und dass die Prozesse öffentlich sind, hat unter anderem auch den Zweck, unbeteiligte Dritte abzuschrecken, sich beispielsweise über verbrecherische Taten bereichern zu wollen.
Diese Art der Prävention funktioniert mehr oder weniger gut; keiner kann sagen, wie viele Taten nicht geschehen sind, weil sich der potentielle Täter von angedrohter Strafe abschrecken ließ. In Deutschland ist jedenfalls keine überdurchschnittlich ausgeprägte Kriminalität zu erkennen. Aber: Die Idee der Prävention durch Abschreckung greift ohnehin dort zu kurz, wo wir es mit sogenannten Hang- oder Triebtätern zu tun haben. Das sind zum Beispiel Menschen, überwiegend Männer, mit bestimmten Sexualstörungen oder sogenannte Dissoziale. Bei ihnen handelt es sich, ganz einfach ausgedrückt, um Personen »ohne Gewissen«, die dazu neigen, ihre Bedürfnisse spontan und ohne Rücksicht auf die Rechte Dritter zu befriedigen. Auch schwer Suchtabhängige weisen dieses Verhalten auf. Bei diesen Menschen verfängt der an die Vernunft appellierende präventive Ansatz der Freiheitsstrafe umso weniger, je stärker Veranlagung oder situative Enthemmung, Trieb oder Sucht sind. »Wenn du Schuld auf dich lädst, dann wirst du deine Freiheit verlieren!« – diese logische Konsequenz lässt sich bei ihnen offenbar nicht in entsprechendes Verhalten umsetzen.
Um Wiederholungstaten dieser Tätergruppe zu verhindern, kommt nach deutscher Strafrechtslehre eine andere Art der Freiheitsentziehung ins Spiel, die Sicherungsverwahrung. Ihr Ansatz ist ein präventiver: Sie soll die Allgemeinheit vor einem Menschen schützen, dessen Hang zu weiteren Straftaten möglicherweise auch in der Haft nicht vergangen ist. Es handelt sich also nicht um Strafe – eine neue Tat ist ja noch gar nicht begangen worden. Als Rechtfertigung, die für einen solchen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen unabdingbar ist, wird dafür die künftige Gefährlichkeit eines Menschen angenommen. Man sollte hier einmal kurz innehalten und sich die Bedeutung dieser veränderten Begründung klarmachen – unabhängig von bekannten Fällen oder konkreten Tätern. Es geht nicht mehr um eine in der Vergangenheit begangene Tat, um Schuld und Strafe, um belastbare Beweise, die zu einem Urteil führen. Es geht vielmehr um eine Vermutung, um die Möglichkeit einer Gefährdung der Allgemeinheit oder Einzelner in der Zukunft. Auch für Laien sollte das Dilemma klar erkennbar sein.
Die Dimensionen sind nicht geringzuschätzen, auch wenn die Zahl der Sicherungsverwahrten eher niedrig ist. 2011 gab es in der Bundesrepublik rund 60000 Strafgefangene und 504 Sicherungsverwahrte, Letztere machen also weniger als 1 Prozent aller Insassen aus. Allerdings schwankte ihre Zahl je nach Epoche deutlich. In der Nazizeit befanden sich Tausende in Sicherungsverwahrung, Anfang der neunziger Jahre waren es 182 Männer, und aktuell sind es rund 500.
Sie fragen sich vielleicht, warum mich das Thema beschäftigt. Die Antwort ist einfach: weil ich selbst jeden Tag ganz konkret damit zu tun habe. Als Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl mit rund 880 Insassen, von denen gut 100 zu lebenslanger Freiheitsstrafe und 90 zu Sicherungsverwahrung Verurteilte sind, weiß ich, wovon und von wem die Rede ist. Wann immer in Berlin ein neues Gesetz beschlossen wird, wann immer Karlsruhe oder Straßburg Forderungen stellen, wann immer an den Schräubchen der Sicherungsverwahrung gedreht wird, habe ich die Menschen vor Augen, die davon betroffen sind: die Sicherungsverwahrten selbst, aber auch diejenigen, die professionell mit ihnen befasst sind, die Psychologen, die Therapeuten, die Gutachter, die Vollzugsbeamten und alle anderen. Als Jurist neige ich – schon aufgrund der persönlichen Begegnung mit Kriminellen über mehr als drei Jahrzehnte beruflicher Erfahrung – nicht zu übertriebener Sentimentalität. Bei uns sitzen mit Sicherheit nicht 880 »Fehlurteile« ein. Dennoch haben sie und aktuell besonders die Sicherungsverwahrten einen Anspruch darauf, dass unser Einfluss auf ihr Schicksal rational begründet wird. Das sind wir ihnen schuldig, aber vor allem auch uns als Gesellschaft insgesamt.
Die Sicherungsverwahrung steht auf dem Prüfstand. Ich möchte aus meiner...