1 Grundsätzliche Überlegungen und Fakten zur Psychotherapie
1.1 Was ist Psychotherapie?
In diesem Buch wollen wir Ihnen verständlich machen, was sich hinter Psychotherapie verbirgt und wie die formalen und inhaltlichen Ausgestaltungen der Therapie bei uns in Deutschland aussehen. Wir wollen Ihnen die Scheu nehmen, über Veränderungen in Ihrem Leben nachzudenken und dann auch die entsprechenden Schritte anzugehen.
Wir wollen Ihnen aber auch nahebringen, wie wir selbst, nach jahrzehntelanger Tätigkeit sowohl in Forschung und Lehre, in stationären Einrichtungen als auch in der ambulanten Praxis, Psychotherapie begreifen; wie wir das Zusammenspiel von Körper und Psyche, aber auch das Zusammenspiel von sozialen Lebensbedingungen und Seele sehen.
Psychotherapie ist ein Teil unserer Gesundheitsversorgung, sie ist gleichwertig zu medizinischen und zahnmedizinischen Leistungen im gesetzlich geregelten Gesundheitswesen. Psychotherapie ist ein Teil der Medizin, wenn auch mehrheitlich von speziell weitergebildeten Psychologen durchgeführt. Ambulante Psychotherapie findet in Praxen statt und wird, wenn die Therapieform anerkannt ist, von der gesetzlichen Krankenkasse voll übernommen. Bei den privaten Krankenversicherungen gibt es Unterschiede (s. Kap. ▶ „Ambulante psychotherapeutische Versorgung“).
Neben diesem für Patienten wie Therapeuten gleichermaßen komfortablen Aspekt wird aber auch eines deutlich: Das medizinische Denk- und Versorgungssystem passt für die heutige Psychotherapie nur teilweise. Erwartungen, beispielsweise an eine schnelle Symptombeseitigung, können bei einem akuten Zahnschmerz angebracht sein – bezüglich psychischer Symptome sind sie jedoch meist kontraproduktiv. So gibt die Entwicklung der handlungsleitenden Denkmodelle in der Medizin Anlass, Unterschiede zu psychotherapeutischem Denken herauszustreichen.
Wenn wir im Folgenden zunächst auf diese Unterschiede Bezug nehmen, geschieht das in dem Wissen, dass eine gute Gesundheitsversorgung nur über eine möglichst gleichzeitige Berücksichtigung somatischer wie psychischer Aspekte einer Erkrankung gewährleistet ist. Wir brauchen die gute Kooperation, den Austausch und die gemeinsame Hypothesenbildung mit den somatisch ausgebildeten Kollegen.
Die Benennung von Unterschieden geschieht hier nicht aus Gründen der Abgrenzung. Wir wissen nur, dass fast alle, die sich für Psychotherapie interessieren, ihre Erfahrungen im Gesundheitswesen hauptsächlich im Bereich der somatischen Medizin gesammelt haben. Und in diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, Unterschiede in den Herangehensweisen an Krankheit und Behandlung zu beleuchten.
1.1.1 Verantwortung für Veränderung
In der heutigen Medizin wird vom Patienten erwartet, dass er ein ernstzunehmendes Symptom mitbringt und dieses klar benennen kann. Ein eindeutiges Symptom, das in das Raster diagnostischer Dimensionen der jeweils aufgesuchten Fachrichtung passt. Bei diffusen Symptomen oder gar unklaren Störungen des Wohlbefindens haben Patienten manchmal den Eindruck, dass ihre Beschwerden eher abgewertet und weniger ernst genommen würden. Nach einer klaren Symptomschilderung hingegen kommt der Experte (der sich allein von der Kleidung her schon als solcher zu erkennen gibt) zu einer Expertise und einer Handlungsanweisung, die in der Regel in der Verabreichung eines Medikaments oder der Einleitung weiterer Maßnahmen besteht. Der Patient ist dann ein „guter“ Patient, wenn er diese Anweisung befolgt und bei der nächsten Vorstellung eine Verbesserung berichtet.
Dass Menschen auch bei diffusen und unklaren Symptomen aus einem Sprechzimmer ohne Medikamentenverordnung herauskommen, geschieht sehr selten – viele Patienten sehen in einem Rezept häufig selbst eine Bestätigung für die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit ihrer Erkrankung. Abgesehen davon, dass uns viele Patienten berichten, sie würden die Medikamente allerdings oft gar nicht nehmen sondern wegwerfen, ist diese Entwicklung auch sonst bedenklich: Was die Patienten offensichtlich suchen, bekommen sie durch das Medikament nicht. Die Verantwortung dieses Veränderungsprozesses liegt in der Hauptsache beim Arzt; vom Patienten selbst wird in der Regel erwartet, dass er dessen Anweisungen Folge leistet.
In der modernen Psychotherapie ist der Patient der Hauptakteur und Verantwortliche für Veränderungen. Der Patient ist der Experte für seine Erkrankung, da nur er die Einschränkungen und Belastungen durch sie in den verschiedenen Lebensbereichen kennt und ertragen muss. Deswegen muss die Verantwortung für eine Veränderung vom Patienten selbst übernommen werden: Nur er weiß, was ihm gut tut, nur er kann neue Dinge ausprobieren, kann seine Einstellungen und Denkschemata abändern. Und er muss diese Veränderung wollen – zu diesem Zeitpunkt, mit diesen Mitteln und mit diesem Ziel. Ist der Patient nicht einverstanden oder skeptisch, wird therapeutisches Drängen eher Widerstand hervorrufen. Es wird in der Psychotherapie also nichts „mit dem Patienten gemacht“, sondern der Patient selbst entschließt sich, neue Wege auszuprobieren, um andere und korrigierende Erfahrungen zu sammeln.
1.1.2 Betrachtung des Ganzen
Durch die Spezialisierungen innerhalb der Medizin sind genauere Diagnosestellungen und Therapien möglich geworden. Leider mit dem Nebeneffekt, dass die Spezialisten meist nur noch etwas von dem Körperbereich verstehen, der in ihrem Fachbereich liegt. Einzig Ihr guter Hausarzt wird ab und an noch etwas über seinen fachlichen Tellerrand blicken. Ansonsten erleben Sie als Patient, dass Sie in einer kooperierenden Kette von Fachärzten weitergeleitet werden, die alle nur auf den ihnen vertrauten Ausschnitt der Symptomatik achten.
Das gleiche Phänomen erleben Sie während aneinander anschließender Krankenhausaufenthalte: Es scheint die Ärzte selten zu interessieren, was in einer anderen Abteilung, einem anderen Haus und bei den anderen Kollegen bereits an Erkenntnissen gewonnen wurde. Dies führt zu absurden ökonomischen und psychischen Mehrbelastungen für das Gesundheitswesen und für die Patienten selbst. Statt des Betrachtens einer „Lebens“-Geschichte oder wenigstens einer „Behandlungs“-Geschichte, wird meist isoliert der jeweilige zum Fachgebiet gehörige, momentane Ausschnitt betrachtet.
Die Psychotherapie sollte hingegen den gesamten Menschen mit allen körperlichen und geistigen Funktionen sehen. Sie sollte sich für die Biografie ebenso wie für den aktuellen Lebenskontext interessieren und versuchen, den Menschen in all seinen Dimensionen zu begreifen. Deswegen werden in der Psychotherapie anfangs ausführliche Anamnesegespräche geführt. Es wird mithilfe von Fragebögen und Interviews versucht, ein möglichst umfassendes Bild des Patienten und seiner individuellen Geschichte zu bekommen. Dazu gehören auch Bereiche, die in der herkömmlichen Medizin oft vernachlässigt werden: Einstellungen, Überzeugungen, Sorgen, Ängste oder Unsicherheiten und Zweifel. Erst durch das Erkennen des Ganzen können Ansätze zur Funktion und möglichen Veränderung eines Symptoms überlegt werden.
1.1.3 Wie hängen Körper und Seele zusammen?
Wir wollen uns nicht zur Aufgabe machen, den Jahrtausende alten Diskurs zum Leib-Seele-Problem zu klären. Wir sehen jedoch, dass die Medizin eher dazu tendiert, die beobachtbaren und messbaren Aspekte des Körpers als Grundlage für Handlungen zu nehmen als die schlecht fassbaren psychischen Prozesse. Wenn für Beschwerden kein organisches Korrelat gefunden wird, wird es ab einem gewissen Punkt als „psychisch“ deklariert. Dies hat zwei Auswirkungen:
Manchmal verhindert das schnelle Vermuten einer psychischen Problematik eine genauere Klärung möglicher somatischer Zusammenhänge. Es gibt nämlich eine Reihe organischer Probleme, die Phänomene hervorrufen können, die psychischen Symptomen zum Verwechseln ähnlich sind.
Darüber hinaus fühlen...