I. Wo kommt Weihnachten eigentlich her?
1. Römische Wurzeln
Da die Geschichte des Weihnachtsfestes lediglich den Hintergrund meiner Argumentation bildet, werde ich mich in aller Kürze auf zwei Aspekte beschränken: die Ursprünge des Festes im alten Rom und die Herausbildung unseres heutigen Weihnachtsfestes im 19. Jahrhundert. Einige dazwischen liegende Epochen werden, soweit sie für mein Thema eine Rolle spielen, im Kapitel »Weihnachten als Familienfest« aufgegriffen (siehe unten S. 18 ff.; zur christlichen Ambivalenz gegenüber dem Weihnachtsfest vgl. Rycenga 2008).
Daß ich bei meinen Überlegungen zum modernen Weihnachtsfest den geschichtlichen Rückblick knapp halten kann, wurde mir anhand von Clement A. Miles’ Buch Christmas in Ritual and Tradition (1912) klar. Miles nämlich zitiert (nach einer anderen Quelle) den nichtchristlichen Rhetoriker Libanios, einen Zeitgenossen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, in der das Weihnachtsfest entstand, und überliefert dessen Darstellung des römischen Neujahrsfestes, das als einer seiner Vorläufer gilt:
»Das Neujahrsfest wird im ganzen Römischen Reich gefeiert. […] Überall sieht man Gelage und üppige Tafeln; luxuriöser Überfluß herrscht in den Häusern der Reichen, doch auch in den Häusern der Armen tischt man bessere Speisen als gewöhnlich auf. Der Drang zu schenken erfaßt jedermann. Wer sich das ganze Jahr über im Sparen und Aufstapeln seiner Münzen übte, wird plötzlich freigebig. Wer sonst in Armut lebte und sich daran gewöhnt hatte, vergnügt sich zu diesem Fest, so gut es ihm seine Mittel erlauben […]. Die Leute sind nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Mitmenschen gegenüber großzügig. Ein Strom von Geschenken ergießt sich von allen Seiten […]. Prozessionen schwerbeladener Männer und Tiere bedecken befestigte Straßen und Fußwege […]. Wie zahllose Blumen zum Schmuck des Frühlings ersprießen, so bilden die sich allseits ergießenden Geschenke die Zierde des Neujahrsfestes. Man mag wohl sagen, daß es die schönste Zeit des Jahres ist. […] Zum Neujahrsfest wird alles verbannt, was mit Mühe und Arbeit zu tun hat, so daß sich die Menschen ungestört ihren Freuden hingeben können. Die Gemüter der Kinder werden von zweierlei Ängsten befreit: der vor dem Schulmeister und der vor der Strenge des Vaters. Selbst der Sklave darf nun, soweit es möglich ist, die Luft der Freiheit atmen. […] Das Fest zeichnet sich auch dadurch aus, daß es die Menschen lehrt, ihr Geld nicht allzu fest zu halten, sondern sich von ihm zu trennen und es in andere Hände übergehen zu lassen.« (Zitiert nach Miles 1912, S. 168 f.)
Auf den folgenden drei Seiten erhärtet Miles den Zusammenhang zwischen dem römischen Neujahrsfest und Weihnachten durch weitere Belege. So merkt er an, daß »die Brandreden der Kirche gegen die heidnischen Feste des Winters zumeist auf das römische Neujahrsfest zielten, was beweist, daß es sich großer Verbreitung erfreut haben muß« (S. 169). Anschließend verweist er auf eine Quelle, die vierzig solcher Brandreden aus der Zeit vom 4. bis zum 11. Jahrhundert versammelt und mithin eine nahezu tausend Jahre überspannende Verbindung von Weihnachten und Neujahrsfest belegt. In einem dieser Texte, den Miles in voller Länge zitiert, werden nicht nur bis in die Gegenwart zu beobachtende Aktivitäten wie Schlemmen, Saufen und Schenken mit letzterem verbunden, sondern überraschenderweise auch Praktiken, die wir eher mit dem Karneval verbinden, etwa Maskeraden.
Allerdings geht das Weihnachtsfest nicht allein auf das römische Neujahrsfest zurück. Noch wichtiger als dieses waren, zumindest in frührömischer Zeit, die Saturnalien, die am 17. Dezember begannen, fünf Tage dauerten und Howard H. Scullard (1981, S. 205 ff.) zufolge das populärste Fest der republikanischen Zeit darstellten. Sie enthalten viele Elemente, die uns aus dem christlichen Karneval seit dem Mittelalter vertraut sind, darunter nicht nur die allgemein überbordende Fröhlichkeit, sondern auch Details wie die Wahl eines den Vorsitz über die Feierlichkeiten und die Verteilung der Geschenke führenden Narrenkönigs. Scullard zufolge trug man damals sogar schon speziell geformte Kopfbedeckungen (allerdings aus Filz, nicht aus Pappe). Auch die rituelle Umkehrung der im Alltag geltenden sozialen Normen war Teil der Saturnalien; so mußten etwa Bürger ihre Sklaven bewirten, was, wie uns Libanios lehrt, zwar ein extremes, aber keineswegs das einzige Beispiel für eine solche Umkehrung ist.
Diese beiden römischen Feste bildeten einen Zwillingsgipfel, wie es heute Weihnachten und der Karneval bzw. Silvester tun. Gemeinsam ist ihnen die erhebliche Bedeutung, die Aktivitäten wie Schlemmen, Spielen, Schenken und Geldausgeben zukommt. Dabei überrascht, daß Libanios, Miles zufolge ein konservativer Moralist, der sonst gerne die angeblich traditionelle römische Sparsamkeit lobt, nichts gegen diese Feste sagt, obwohl sie ein Verhalten bestärken, das er bei jeder anderen Gelegenheit als Untugend verdammte. Schon vor ihm hatten manche Philosophen den Lärm und die Exzesse der Saturnalien kritisiert. Der verschwenderische Umgang mit Geschenken, den Libanios lobt, hätte sich ohne weiteres als Zeichen des wachsenden Materialismus insbesondere der römischen Elite und insofern als Bedrohung traditioneller Werte deuten lassen.
Die Parallelen zwischen unserem heutigen und dem antiken Weihnachtsfest werden noch deutlicher, wenn wir einen dritten Vorläufer mit ins Kalkül ziehen, den am 25. Dezember begangenen Dies Natalis Solis Invicti (Geburtstag der Sonne bzw. »des unbesiegten Sonnengottes«). Miles zufolge war es dieses Fest, das weichen mußte, um einen Platz im Kalender für Weihnachten freizumachen – darüber hinaus habe es aber, wie er behauptet, keinerlei Bedeutung. Doch in diesem Punkt irrt der formidable Kenner der Geschichte des Weihnachtsfestes, wie eine neuere Monographie zum Thema zeigt.
Zu Dies Natalis Solis Invicti wurden zur Feier des »unbesiegten Sonnengottes« Wagenrennen abgehalten und junge Bäume geschmückt. Gaston Halsberghe (1972) zeichnet die Entwicklung des Sonnenkults von seiner Entstehung in Syrien (wo man möglicherweise noch ältere, präjüdische Praktiken der Kanaaniter aufgriff) an nach. Der Kult gelangt um 219 nach Rom, wobei der Sonnengott zunächst noch den syrischen Namen Elagabal beibehielt. Er war kurzzeitig Staatsreligion, bis der Kaiser, der ihn eingeführt hatte, im Jahr 222 ermordet wurde. Dennoch blieb der Kult populär und wurde 274 von Kaiser Aurelian in »romanisierter« Form zur Staatsreligion erklärt. Wie Halsberghe schreibt, »war die Verehrung des Deus Sol Invictus unter Kaiser Konstantin (306-337) derart populär, daß man den Kaiser sogar als Sonnenkönig bezeichnete« (S. 167). Derselbe Konstantin förderte allerdings auch das Christentum, das derartige Kulte schließlich verdrängte.
Dennoch bildet der Kult um die winterliche »Geburt« der Sonne den Hintergrund der irgendwann zwischen 354 und 360 vorgenommenen Umdatierung des Weihnachtsfestes auf den 25. Dezember, die sich später auch im Westen gegen eine ältere östliche Tradition durchsetzte, die es auf Epiphanias am 6. Januar datiert hatte. Dabei ging es nicht nur um die Wintersonnenwende, die laut Julianischem Kalender am 25. Dezember erfolgte, sondern auch darum, das zentrale Fest eines Kultes zu verdrängen, der vermutlich der größte Rivale des frühen Christentums war – neben dem Mithraskult, den das Christentum später im ganzen römischen Imperium rücksichtslos bekämpfte und dessen zentrale Gestalt Mithras angeblich auch am 25. Dezember geboren worden war.
Alle diese im Nahen und Mittleren Osten entstandenen Kulte waren wohl nicht nur Rivalen des Christentums, sondern auch miteinander verwandt (Barnes 1981, Clauss 2000). Die Verehrung des Sonnengottes hatte sich von ihren polytheistischen Ursprüngen in Syrien gelöst und zu einer monotheistischen Religion entwickelt, die ähnlich wie der Mithraskult und das Christentum auf der Figur eines Erlösers und dem Fortleben im Jenseits beruhte. Im Gegensatz zu diesen Rivalen stand der Kult des Deus Sol Invictus jedoch vom Tage seiner Einführung ins Römische Reich an in enger Beziehung zum Staat und zum Kaiser, was ihn politisch attraktiv machte.
All diese Anmerkungen mögen wie obskure Funde einer esoterischen Grabung in den Fundamenten des Christentums anmuten, die nur von archäologischem Interesse sind. Allerdings sind wir dabei auf einige bemerkenswerte Analogien mit unseren heutigen Weihnachts- und auch Karnevalsbräuchen gestoßen. Damit die Suche spannend bleibt, werde ich jedenfalls nicht schon jetzt ausplaudern, auf welche meines Erachtens entscheidenden Bausteine einer allgemeinen Theorie des zeitgenössischen Weihnachtsfestes wir bereits gestoßen sind. Wie in einem Kriminalroman wollte ich lediglich ein paar Indizien vorführen – inwiefern diese meine Theorie stützen, werden Sie erst am Ende dieses Buchs erfahren.
2. Das moderne Weihnachtsfest anglo-amerikanischer Prägung
Anders als in der Frage der Ursprünge in römischer Zeit herrscht hinsichtlich der Entstehung des modernen Weihnachtsfestes anglo-amerikanischer Prägung Konsens. Diesem zufolge handelt es sich um eines der Phänomene, die man oxymoronisch als »erfundene Traditionen« bezeichnet, deren Herkunft aus »alter Zeit« mithin lediglich vorgespiegelt ist, während sie tatsächlich jüngeren Datums sind. Diese Überzeugung findet sich in prominenten Darstellungen zu amerikanischen (Barnett 1954) und britischen Weihnachtsbräuchen (Golby/Purdue 1986; Pimlott 1978), die daneben nützliche Einblicke in die Ursprünge des modernen Weihnachtsfestes bieten.
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