Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine normative Fallstudie, ihr Gegenstand ist die aktive Laufbahn des SS-Richters Konrad Morgen in den Jahren 1940 bis 1945. Grundlage unserer Darstellung von Morgens Tätigkeit, die tiefen Einblick in die moralisch pervertierten Strukturen des NS-Systems gibt, sind die in Archiven verfügbaren Dokumente zu Konrad Morgen und zur SS- und Polizeigerichtsbarkeit sowie Morgens Aussagen in Verhören und Prozessen nach dem Krieg.[1]
Georg Konrad Morgen (1909-1982) war ausgebildeter Jurist und seit 1933 Mitglied der SS und der NSDAP. Nach einer kurzen Einarbeitung wurde er im Herbst 1940 SS-Richter in der SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Von Januar 1941 bis Mai 1942 war Morgen dem SS-Gericht in Krakau zugeteilt, wo er als Untersuchungsrichter auch Fälle von finanzieller Korruption unter hochrangigen SS-Offizieren im besetzten Polen verfolgte. Im Mai 1942 enthob ihn Himmler seines Amtes und versetzte ihn im Dezember 1942 als einfachen Soldaten an die Ostfront. Im Juli 1943 wurde Morgen auf Befehl Himmlers zurückbeordert und mit der Untersuchung von finanziellen Unregelmäßigkeiten in den Konzentrationslagern beauftragt. Sein erster Fall betraf Buchenwald, wo sich Hinweise auf die systematische Ermordung von Häftlingen durch den vormaligen Lagerkommandanten ergaben. Die Untersuchung dieser Verbrechen führte Morgen nach Lublin und schlussendlich nach Auschwitz, wo er sich mit der industriellen Massenvernichtung der Juden konfrontiert sah.
In Überschreitung seines Auftrags klagte Morgen den ehemaligen Kommandanten von Buchenwald, den Lagerarzt von Buchenwald und den Leiter der Gestapo in Auschwitz wegen Mordes an. Er versuchte sogar, einen Haftbefehl gegen Adolf Eichmann zu erwirken. Seine Tätigkeiten gründeten auf SS-internen Ermittlungen gegen fünf KZ-Kommandanten. In einem SS-internen Gerichtsprozess, der im Herbst 1944 in Weimar stattfand, wurde der frühere Kommandant von Buchenwald, Karl Otto Koch, zum Tode verurteilt.[2]
Nach dem Krieg wurde Morgen vom amerikanischen Counter Intelligence Corps (CIC)[3] in Gewahrsam genommen und intensiv verhört. Er sagte als Zeuge in einer Reihe von Kriegsverbrecherprozessen aus: zunächst im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, dann in den Nachfolgeprozessen, ebenfalls in Nürnberg, und schließlich, als er sich nach seiner Entnazifizierung als Anwalt und Notar in Frankfurt am Main niedergelassen hatte, in einer Reihe von Gerichtsverfahren, die in den sechziger Jahren begannen. So war er auch Zeuge im ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963-65). Seine letzte Aussage in einem Verfahren erfolgte 1980, zwei Jahre vor seinem Tod.
Morgen erklärte nach dem Krieg, es sei ihm nicht möglich gewesen, Anklage wegen der Ermordung von Millionen Menschen in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau zu erheben, denn die für die Massenvernichtung verantwortliche Instanz sei Hitler gewesen, dessen Wille und Anordnungen im Führerstaat Gesetzen gleichgekommen seien. Die Ahndung »gewöhnlicher« Morde, also nicht im Rahmen der Befehlskette der NS-Administration angeordneter Tötungen, war, wie Morgen argumentierte, sein einziges Mittel, um etwas gegen das Vernichtungsprogramm zu tun.
Unsere Nachforschungen und die intensive Beschäftigung mit dem Archivmaterial ergaben, dass Morgen seine Tätigkeiten als SS-Richter nach dem Krieg zum größten Teil wahrheitsgemäß schilderte. Mit einigen wenigen Ausnahmen, die wir genau darlegen und diskutieren,[4] decken sich seine Aussagen mit den verfügbaren Archivdokumenten, die nicht nur ihn direkt betreffende Materialien umfassen, sondern auch Dokumente über Personen, mit denen er während des Krieges zu tun hatte.[5] Selbst seine gänzlich unwahrscheinlich klingende Behauptung, er habe versucht, einen Haftbefehl gegen Eichmann zu erwirken, wurde von Eichmann im Prozess in Jerusalem bestätigt.
Wir verstehen unser Buch als »moralische Biografie« – als Studie darüber, wie das moralische Bewusstsein eines Mannes mit einer zutiefst unmoralischen Welt zurechtzukommen versuchte, teils aber daran scheiterte. Nicht immer vermochte Morgen den Herausforderungen angemessen zu begegnen. In unserer Darlegung von Konrad Morgens Tätigkeit als SS-Richter vermeiden wir jede literarische Ausgestaltung der Geschehnisse. Morgens Aussagen und Berichten über diese Ereignisse geben wir jedoch breiten Raum, so dass die Leserinnen und Leser ihn gleichsam sprechend erleben. Ungeachtet der erschreckenden Dimension unserer Fallgeschichte bemühen wir uns um Sachlichkeit. Wir zeichnen nach, wie Morgen über die dramatischen Ereignisse, die er miterlebte, fühlte, dachte und urteilte.
Morgens Geschichte ist auch für die historische Forschung zum Nationalsozialismus interessant.[6] Seine Tätigkeiten sind in Berichten an seine Vorgesetzten, in den Vernehmungen durch die amerikanischen Besatzungsorgane und in seinen Zeugenaussagen in den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit dokumentiert. Als erfahrener Jurist und Richter sah und beurteilte er den Holocaust aus einer – wenn auch verzerrten – moralischen Perspektive. Er war ein hartnäckiger, ja verbissener Untersuchungsrichter, der selbst gegenüber monströsen Verbrechen nicht zurückwich. Da er selbst nie wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde, war Morgen als Zeitzeuge wesentlich offener und gesprächsbereiter als jene Täter, über die er nach dem Krieg aussagte.
Morgen erweist sich vielfach als höchst unsensibler und in seinem Urteilsvermögen eingeschränkter Beobachter seiner Umgebung. Nach 1945 unterließ er es allerdings, seine Berichte über Erlebtes dem anzupassen, was die Zuhörerschaft in der Nachkriegsära wusste oder hören wollte. Ob nun aus Ehrlichkeit, aus bloßer Naivität und einem gewissen Geltungsdrang oder infolge nach wie vor unhinterfragter ideologischer Prägung war Morgen doch ein bemerkenswert freimütiger und authentischer Zeuge.
Morgen entzieht sich der Kategorie des aktiven NS-Täters und NS-Verbrechers. Dennoch war er als SS-Offizier und SS-Richter nicht nur Teil des Systems, sondern aktives Mitglied, ja Vollzugsorgan einer Institution des Regimes. Gleichzeitig zwang ihn sein berufliches Rollenverständnis, das gegenüber gewissen Standards der Rechtsstaatlichkeit nicht gänzlich blind war, ein über der SS-Ideologie stehendes Ideal der Gerechtigkeit im Blick zu haben. Morgen war ein ambivalenter und schillernder Charakter – und die Beschäftigung mit ihm ist eine Studie in moralischer Komplexität.
Morgen beschrieb sich selbst einmal als »Gerechtigkeitsfanatiker«. Diese Selbstbeschreibung ist weit weniger positiv, als Morgen sie verstand oder verstehen wollte. Morgen fühlte sich einer spezifischen Form der Gerechtigkeit bedingungslos, ja »fanatisch« verpflichtet, die er sich zurechtgelegt hatte, um seinen komplexen, teils widersprüchlichen normativen Bindungen zu entsprechen. Manchmal leitete ihn sein Gerechtigkeitsempfinden, das Richtige zu tun, doch häufig verfehlte Morgen dieses Ziel. Sein moralisches Bewusstsein war zu selbstbezogen und ideologisch zu verformt, um kritischer Distanz und unparteilicher Reflexion zugänglich zu sein. Letztlich zeigte sich sein Gerechtigkeitsverständnis der systematischen Inhumanität, die ihn umgab, nicht gewachsen.
Der Versuch, ein nuanciertes Bild eines SS-Offiziers zu zeichnen, der so nahe an den Verbrechen des NS-Regimes war wie Morgen, wirft eine höchst sensible Frage auf: Verpflichtet es die Autoren nicht auf eine Perspektive, die inakzeptabel ist? Bedeutet es nicht, so kann man provokant fragen, eine Art Grenzüberschreitung? Doch Charaktere wie Konrad Morgen sind konkrete Individuen, deren eingehende Betrachtung moralisch wichtig ist.
Die Philosophie hat sich in den letzten Jahren zunehmend für moralpsychologische Fragestellungen interessiert. Methodisch beruht der philosophische Zugang allerdings weitgehend auf reinen Vernunftüberlegungen, die auf allgemeine, von den Komplexitäten des sozialen Lebens abstrahierende Grundsätze zielen. Die historische Aufarbeitung bedeutsamer realer Ereignisse und Charaktere leistet hingegen einen konkreten Beitrag zur philosophischen Analyse moralischer Prinzipien unter konkreten und politisch nichtidealen Verhältnissen – im Falle Morgens sind dies die Rahmenbedingungen eines totalitären Staates. Der Blick auf das Deliberieren eines Individuums, das mit einer Katastrophe wie dem Holocaust unmittelbar konfrontiert ist, ermöglicht Einsichten, die über simple Generalisierungen hinausgehen.
Der Fall Konrad Morgen ist schließlich auch für die Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie relevant. Nach wie vor beschäftigt uns die Frage, welche normativen Entwicklungen der Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus Vorschub leisteten. Dieser theoretische Hintergrund, in den Morgens berufliches Wirken eingebettet ist, wird in der Einleitung dargelegt, die der Rekonstruktion von Morgens Laufbahn als SS-Richter vorangestellt ist.
Im Nachwort folgen zusammenfassende Urteile über Morgens Tätigkeit und seinen Charakter und die sich daraus ergebenden Folgerungen für die Moral- und die Rechtsphilosophie. Diese abschließenden Reflexionen umfassen sicherlich nicht alle Einsichten, die Leserinnen und Leser dieses Buches bis dahin gewonnen haben werden.
In den Originalzitaten aus den Vernehmungen Morgens und anderer SS-Offiziere...