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Mister Vierschanzentournee
Lasse Ottesen, das rote Tuch 1993/94 • Erste Erinnerungen an die Tournee • Platz 90 beim ersten Antreten • „Jetzt bist du der Größte!” • Oberstdorfer Flair und eine gekaufte Schallplatte • Herausforderung Bischofshofen • Weißflog tritt zurück!
Jetzt mach schon endlich. Siehst du nicht, dass du guten Wind hast? Auf was willst du warten – darauf, dass er schlechter wird? Der Norweger Lasse Ottesen lässt sich Zeit, sehr viel Zeit. Lediglich er als Vierter, ich als Dritter, Noriaki Kasai aus Japan und der Führende Espen Bredesen aus Norwegen haben an jenem 6. Januar 1994 in Bischofshofen noch zu springen. Ich bin wieder einmal als Führender ins Salzburger Land gekommen, doch mein Vorsprung in der Gesamtwertung ist nach dem ersten Durchgang von rund zwölf auf sieben Punkte geschmolzen. Und nun stehe ich da, hoch oben über Bischofshofen, und muss mitansehen, wie sich der Windpfeil langsam dreht, sich der leichte Aufwind in leichten Rückenwind verwandelt und meine Siegeschancen immer mehr verflüchtigen. Äußerlich gebe ich mich gelassen, innerlich bebe ich vor Wut. Was bildet sich Ottesen überhaupt ein? Was ist das für ein abgekartetes Spiel? Er sorgt dafür, dass ich schlechtere Bedingungen habe und da wir alle wissen, dass an diesem Tag wechselnde Bedingungen an der Paul-Ausserleitner-Schanze herrschen, wird Bredesen ein paar Springer später wohl wieder Aufwindverhältnisse nutzen können. Was für eine Gemeinheit! Norweger, das ist wahrlich echtes Fair Play!
Ottesen sitzt am Rand des Balkens und hantiert an seiner Bindung. Sagt dem Starter, dass er da Probleme hat und was nachjustieren muss. Und blickt immer wieder hinunter Richtung Trainerturm, von wo aus ihm Trainer Trond Jøran Pedersen nicht die Erlaubnis erteilt, sich in Anfahrtsposition auf den Balken zu begeben. Die Regeln sind andere als heute, es gibt eine Rot- und Grün-Phase und letztere dauert 15 Sekunden, dann muss man gestartet sein. „Ich habe nur getan, was mein Coach mir aufgetragen hat“, verteidigt sich Ottesen später. Die Diskussion zwischen ihm und dem Starter bekomme ich nicht mit, zu sehr bin ich mit mir, meinen eigenen Startvorbereitungen und Emotionen beschäftigt. Jedenfalls lässt sich Ottesen so lange Zeit, dass er noch vor seiner Abfahrt disqualifiziert wird. Als die Ampel auf Grün springt, fährt er dennoch ab. Wird er eben im Auslauf nochmals aus der Wertung genommen. „Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Ich habe doch nichts falsch gemacht“, sagt er danach. „Espen sprang fünf Minuten später, es wäre widersinnig, zu denken, dass ich seine Windverhältnisse hätte beeinflussen können oder wollen. Es war wirklich nicht meine Absicht, Weißflogs Siegeschancen absichtlich zu ruinieren. Ich war immer ein fairer Sportler, was immer ich auch tat.“
Über vier Minuten hat mein Konkurrent bei seinen Startvorbereitungen vergeudet. Vier Minuten. In dieser Zeit werden heutzutage drei, vier Springer über den Absprungtisch geschickt! Gleich nach ihm bin ich an der Reihe, der Wind ist schlecht, ich habe es eilig. Mein Sprung bringt mich auf 113,5 m, nach 120 m im ersten Durchgang, und ich weiß, dass ich in diesem Jahr den vierten Tourneesieg nicht feiern werde. Es wäre ein historischer Triumph gewesen, in der bis dahin 42-jährigen Geschichte dieses Wettbewerbs ist es niemandem gelungen, öfter als drei Mal die Gesamtwertung zu gewinnen. Ich werde mir wieder all die Fragen antun müssen, ob ich es in der kommenden Saison wieder probieren soll, was es braucht, um Tournee-Gesamtsieger zu werden, warum es denn in dieser Saison nicht geklappt hat.
Warum es diesmal nicht geklappt hat, ist augenscheinlich. Ich stehe noch auf den Skiern, als ich aus dem Auslauf heraus die ersten unfreundlichen Wortfetzen Richtung Ottesen schleudere. Zorn, Rage, Frust, Enttäuschung – all diese Gemütszustände vermischen sich in mir, und mein Schwall an Worten dem Norweger gegenüber ist alles andere als jugendfrei. Er spricht zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich gut deutsch, er versteht nicht den Inhalt, doch er wird verstehen, dass ich keinen freundlichen Small-Talk führe. „Das haben wir Lasse Ottesen zu verdanken, diesem Arschloch“, plärre ich in das Funkgerät, aus dem Trainer Reinhard Heß meinen Sprung analysieren will. Die Mikrophone der TV Kameras übertragen meine Worte gut hörbar und live.
Die Tournee 1993/94 ist verloren. In der Tat verändern sich die Windverhältnisse wieder, Bredesen hat bessere Bedingungen, springt nach 123,5 m auf 121,5 m und holt sich den Gesamtsieg. Für mich bleibt der zweite Platz, wie schon drei andere Male zuvor. Und der vierte Triumph muss noch warten.
Zu diesem Zeitpunkt bin ich 29 Jahre alt, ein ausgereifter Springer, und ich komme über diese Enttäuschung – es ist ja nicht die erste in meiner Karriere – hinweg. Wäre ja noch schöner, wenn nicht. Lasse Ottesen hängt die Geschichte lange nach, um genau zu sein bis heute. Bei der darauffolgenden Tournee wird er in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen von 25.000 Zuschauern dermaßen ausgepfiffen und angefeindet, dass ihm die Organisatoren zwei uniformierte und bewaffnete Sicherheitsbeamte als Personenschutz zur Seite stellen. „Das war mir eher peinlich und ich glaube auch nicht, dass sie notwendig gewesen wären“, sagt Ottesen heute. Immer wieder wird er mit jener Geschichte, die mich damals möglicherweise den historischen Tourneesieg gekostet hat, konfrontiert. Als er als Trainer der Nordischen Kombinierer Norwegens in Klingenthal beim Sommer Grand Prix 2004 unterwegs war, verletzte sich Sverre Rotevatn, heute Sportdirektor der Kombinierer seines Landes, und wurde nach Rodewisch ins Krankenhaus gebracht. Als Ottesen wenig später ebenfalls dort eintraf, um nach seinem Athleten zu sehen, wurde ihm zuerst seine Frage beantwortet: Ja, Rotevatn ist hier, er liegt in diesem Raum, gehen Sie diesen und dann diesen Weg. Und dann fragte der Mann an der Rezeption des Krankenhauses: „Sind Sie nicht Lasse Ottesen?“ „Ja, der bin ich“ – „Dann tut es mir leid, dann darf ich Sie hier nicht hineinlassen. Bitte verlassen Sie die Einrichtung. Wir erinnern uns noch an 1994.“ Ottesen war perplex und verwirrt, doch dann lachte der Angestellte. „War nur ein Witz. Ich hoffe, Ihrem Athleten geht es gut.“
Wenn in der DDR Skispringen übertragen wurde, dann waren es die Saisonhöhepunkte und die Vierschanzentournee. Zu einer Zeit, in der ich als Kind schon meine ersten Hüpfer machte, wurde mir von meinen Eltern auch die Tournee näher gebracht. Zudem gab es mit Manfred Queck einen Lokalmatador aus Johanngeorgenstadt, der 1968 in Oberstdorf Fünfter wurde. Und es gab dessen Namensvetter Horst Queck aus Zella-Mehlis. Er belegte 1969 in Oberstdorf Platz zwei und entschied die Gesamtwertung 1969/70 ohne Tagessieg für sich.
Meine Eltern erklärten mir Umstände und Zusammenhänge, doch ich erinnere mich nicht mehr, ob alle Springen übertragen wurden oder ob wir lediglich ausgewählte Konkurrenzen zu sehen bekamen. Das Leben stand zwischen 28.12. und 6.1. nicht still in der DDR, es gab normalen Alltag mit üblichen Verpflichtungen. An was ich mich in den 1970er Jahren erinnere, ist die sonore Stimme von Reporter Heinz Florian Oertel, der verkündet: „… und mit der Nummer 23 kommt Aschenbach, mit der Nummer 43 Danneberg …“ Visuelle Einblendungen der Startreihenfolge hat es dazumal noch nicht gegeben, doch man musste informiert werden. In dieser Zeit waren DDR-Athleten bei der Tournee immer wieder im Vorderfeld zu finden. Rainer Schmidt gewann 1972/73, Hans-Georg Aschenbach im Jahr darauf, Jochen Danneberg düpierte die Österreicher 1975/76 und wiederholte den Gesamtsieg in der darauffolgenden Saison. 1981/82 war Manfred Deckert nicht zu schlagen. 1977/78 ging zwar Platz eins an Kari Yliantila aus Finnland, doch mit Matthias Buse (2.), Martin Weber (3.), Henry Glaß (4.), Falko Weißpflog (5.), Bernd Eckstein (6.) und Harald Duschek (10.) kamen sechs DDR-Springer in die Top Ten der Gesamtwertung. Was für ein Triumph über den westlichen „Klassenfeind“!
Selbstverständlich lautete für mich als junger Sportler das Ziel, einmal an der Tournee teilzunehmen. „Dabei sein“ war gleichzeitig ein Synonym für „erfolgreich sein“. An einen Triumph dachte ich nicht einmal im Entferntesten. Allerdings hatte ich mir als 14-Jähriger bereits bewusst vorgenommen, Olympiasieger zu werden. Als wir nämlich im Geschichtsunterricht das Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gemahlin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, bei ihrem Besuch in Sarajevo und den darauf folgenden Ersten Weltkrieg behandelten, waren Sarajevo bereits die Olympischen Winterspiele 1984 zugesprochen worden. Es waren die übernächsten Spiele und ich rechnete nach: Wie alt bin ich dann? 19 – gut, das passt, da kann ich durchaus Olympiasieger werden.
Während also die Olympischen...