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In welcher Welt leben?

Ein Versuch über die Angst vor dem Ende

AutorDeborah Danowski, Eduardo Viveiros de Castro
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783957576583
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Die Vorstellungen vom Ende der Welt sind so vielfältig und zahlreich wie ihre Kulturen. Von der Sintflut über nukleare Katastrophen bis zur Vernichtung der Menschheit durch ein Supervirus reichen die Fantasien, die nicht nur die Science-Fiction durchziehen, sondern auch ganze Philosophien und Religionen begründen. Die Philosophin Deborah Danowski und der Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro beleuchten in diesem Buch die wichtigsten und verbreitetsten Variationen des Themas vom Ende der Welt vor dem Hintergrund der globalen Umweltkrisen im Anthropozän. Die gegenwärtigen Katastrophenszenarien sind zumeist auch Gedankenexperimente über den drohenden Niedergang der westlichen Zivilisation. Es wird klar: Das Ende der Welt muss nicht gleich das Ende aller Zeiten bedeuten. In diesem in viele Sprachen übersetzten Essay ziehen die beiden Autoren eine Bilanz aus den Enden der Welt, um aus ihnen weitreichende philosophische, ökologische und anthropologische Schlussfolgerungen für die politische Praxis zu schöpfen. Ein wichtiges Buch für unsere Zeit, ein Buch, das Hoffnung macht.

Eduardo Viveiros de Castro lebt in Rio de Janeiro. Als Professor für Anthropologie lehrte er an der University of Chicago und an der University of Cambridge. Mit seiner Theorie des amerindischen Perspektivismus zählt er zu den bedeutendsten zeitgenössischen Anthropologen.

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Leseprobe

Und welche gewalttätige Bestie …


And what rough beast, its hour come round at last / Slouches towards Bethlehem to be born?

(W. B. Yeats)

Das Ende der Welt ist ein im Wortsinn grenzenloses Thema – wenigstens solange es nicht eintrifft. Das ethnographische Register verzeichnet eine große Verschiedenheit von Weisen, in denen Kulturen das Auseinanderbrechen des Raum-Zeit-Gefüges der Geschichte zum Gegenstand ihrer Vorstellung gemacht haben. Einige dieser Vorstellungen haben seit Beginn der 1990er Jahre an neuem Leben gewonnen, als sich der wissenschaftliche Konsens über die laufenden thermodynamischen Veränderungen unseres Planeten herausbildete. Die Materialien und die Analysen über die (menschengemachten) Ursachen und die (katastrophalen) Konsequenzen der planetarischen »Krise« akkumulieren sich ständig und mit extremer Geschwindigkeit, und sie mobilisieren sowohl die populäre, von Medien beeinflusste Wahrnehmung als auch die akademische Reflexion.

Während sich das Ausmaß der aktuellen Umwelt- und Zivilisationskrise immer deutlicher abzeichnet,1 proliferieren neue und aktualisieren sich alte Variationen jener uralten Idee, die wir kursorisch das »Ende der Welt« nennen. Zu diesem Thema existieren Blockbuster der Science-Fiction,2 Dokufiktionen verschiedener »History Channel«, populärwissenschaftliche Bücher unterschiedlichster Komplexitätsgrade, Videospiele, Musik- und Kunstwerke, Blogs jedweder politischer Provenienz, wissenschaftliche Kongresse, akademische Zeitschriften, Berichte und Erklärungen verschiedenster Weltorganisationen, stets auf neue frustrierende sogenannte Klima-Gipfel, theologische Konferenzen und päpstliche Verlautbarungen, philosophische Essays, New-Age- und neopagane Zeremonien, eine exponentiell wachsende Anzahl politischer Manifeste – kurzum, jede nur denkbare Art von Texten, Kontexten, Medien, Sprechern und Publikum. Das Thema hat sich in der Gegenwartskultur zunehmend geltend gemacht, und ebenso das, worauf es hinweist: die Multiplikation der Veränderungen unserer Erd-Umwelt.

Das Aufkommen dieses alles andere als euphorischen Diskurses läuft dem »humanistischen« Optimismus zuwider, der die Geschichte des Westens seit den letzten drei oder vier Jahrhunderten dominiert. Er spiegelt etwas, das aus dem Horizont der als Epos des Geistes verstandenen Geschichte ausgeschlossen ist: den Ruin unserer globalen Zivilisation aufgrund ihrer eigenen unwidersprochenen Hegemonie, ein Untergang, der beträchtliche Teile der menschlichen Bevölkerung mit sich reißen könnte. Es fängt bei den elenden Massen an, die in Ghettos und auf den geopolitischen Abfallhalden des »Weltsystems« leben; aber es liegt in der Natur des bevorstehenden Kollapses, dass er in der einen oder anderen Weise alle erreichen wird. Genau deshalb sind es nicht nur die die dominierende Zivilisation verkörpernden Gesellschaften – ihrer Prägung nach westlich, christlich, und industriekapitalistisch – , die in diese Krise gestürzt werden, vielmehr ist es die gesamte menschliche Gattung – auch und besonders jene zahlreichen Völker, Kulturen und Gesellschaften, die nicht am Ursprung der besagten Krise stehen. Ganz abgesehen von den unzähligen Vorfahren der Lebenden, die aufgrund der durch die »menschliche« Aktivität herbeigeführten Umweltmodifikationen bereits von der Erdoberfläche verschwunden sind.

Ein solches demographisches und zivilisatorisches Desaster wird gemeinhin als Folge eines »globalen« Ereignisses imaginiert, etwa ein radikaler Bevölkerungsrückgang oder auch die plötzliche Auslöschung der menschlichen Spezies, wenn nicht gar des gesamten irdischen Lebens, verursacht durch den »Willen Gottes« – ein tödlicher Supervirus, eine gigantische Vulkanexplosion, der Einschlag eines Himmelskörpers, ein gigantischer Sonnensturm – oder aufgrund eines kumulativen Effekts menschengemachter Einwirkungen auf den Planeten, wie im Film The Day After Tomorrow (2004) von Roland Emmerich, oder als Ergebnis des guten alten Nuklearkriegs. Andere Male pflegt das Desaster in realistischerer Manier beschrieben zu werden (besonders wenn man die Entwicklung der von der Wissenschaft vorgeschlagenen Szenarien verfolgt, die sich aus der Interaktion zwischen Geosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre – den Komponenten des sogenannten Erdsystems – ergeben), wie ein bereits begonnener Verfallsprozess der Umweltbedingungen des menschlichen Lebens im Holozän (an das Pleistozän anschließender Zeitabschnitt innerhalb des Quartär-Systems, das vor 11.700 Jahren begonnen hat), der extrem intensiv, zunehmend beschleunigt und in vielerlei Hinsicht unabänderlich verläuft, und zwar mit Trockenperioden, auf die Hurrikanes und Überschwemmungen folgen, die massive Ernteeinbrüche und menschliche wie tierische Pandemien nach sich ziehen, mit völkermordenden Kriegen inmitten von biologischen Auslöschungen, die Arten, Familien und ganze phyla betreffen, in einer Sequenz perverser Rückkopplungseffekte, die den Spezies in einem Prozess »langsamer Gewalt« (Nixon 2011) – der gar nicht so langsam scheint – eine materiell und politisch degradierte Existenz auferlegen. Isabelle Stengers (2009) hat dies die »kommende Barbarei« genannt, die noch barbarischer ausfallen wird, je schonungsloser das dominierende techno-ökonomische System (der integrierte Weltkapitalismus) seine Flucht nach vorne fortsetzt.

Es sind nicht nur die Naturwissenschaften und die von ihr gespeiste Massenkultur, die das Abgleiten der Welt registrieren. Sogar die Metaphysik, angeblich die ätherischste der philosophischen Disziplinen, ist von diffuser Unruhe ergriffen. In den letzten Jahren haben wir einer Ausarbeitung neuer und sophistischer Argumente beigewohnt, die sich alle auf ihre Weise vornehmen, »die Welt zu Ende zu bringen«.3 Die Welt, die unausweichlich als eine »Welt für Menschen« begriffen wird, soll überwunden werden, um einen epistemischen Zugang zu einer »Welt ohne uns« zu rechtfertigen, die sich vollständig vor der Jurisdiktion des Verstandes artikulieren soll; die Welt soll aber auch insofern »zu Ende gebracht werden«, als sie Sinnträger ist, um dadurch das Sein als pure indifferente Exteriorität zu bestimmen – als müsse die »wirkliche« Welt, in ihrer radikalen Kontingenz, gegen Verstand und Sinn »verwirklicht« werden.

Zugegeben stehen viele dieser Ende-der-Welt-Metaphysiken lediglich in indirekter Kausalbeziehung mit dem physischen Ereignis der planetarischen Katastrophe; trotzdem vermögen sie dieses auszudrücken, dem schwindelerregenden Gefühl der Inkompatibilität – wenn nicht Unvereinbarkeit – zwischen Mensch und Welt ein Echo zu verschaffen, denn nur wenige Regionen der gegenwärtigen Vorstellung sind unbetroffen von dem gewaltsamen Wiedereintritt der westlichen Noosphäre in die Erdatmosphäre, in einem wahrhaftigen und beispiellosen Prozess der »Transzendenz«. Wir glaubten uns bestimmt zum weiten siderischen Ozean, und da sind wir nun von neuem zurückgeworfen an den Hafen, von dem wir in See stachen …

Die Dystopien also nehmen zu; und der Zeitgeist scheint in einer gewissen panischen Perplexität (abwertend als »Katastrophismus« etikettiert), ja sogar in einem makabren Enthusiasmus (jüngst unter dem Signum des »Akzelerationismus« populär geworden) zu schweben. Das berühmte »no future« der Punk-Bewegung findet sich plötzlich revitalisiert – sofern das der passende Begriff ist –, ebenso wie erneut tiefe Unruhen auftreten, die gegenwärtig mit Dimensionen vergleichbar sind, wie sie durch das atomare Wettrüsten während des Kalten Krieges vor nicht allzu langer Zeit hervorgerufen wurden. Da erscheint es unmöglich, sich nicht an die nüchterne und düstere Schlussfolgerung von Günther Anders in seinem Schlüsseltext »Die Frist« von 1960 zu erinnern, in dem er über die »metaphysische Metamorphose« (Günther Anders 1993: 177) der Menschheit nach Hiroshima und Nagasaki reflektiert: »Die Zukunftslosigkeit hat schon begonnen« (219) – in dem Maß, wie der Mensch die Zukunft, das heißt: ihr Ende ›bereitet‹.

Diese Zukunft, die angefangen hat aufzuhören, ist erneut gekommen – was bedeutet, dass sie vielleicht niemals aufgehört hat, schon angefangen zu haben: im Neolithikum? Mit der Industrierevolution? Mit dem Zweiten Weltkrieg? Wenn die Gefahren, die von der Klimakrise ausgehen, weniger spektakulär sind als jene aus den Zeiten nuklearer Aufrüstung (die, nebenbei bemerkt, nie aufgehört hat), ist ihre Ontologie doch komplexer, sowohl im Hinblick auf ihre Beziehung zum menschlichen Handeln als auch in Bezug auf ihre paradoxe Chronotopie.4 Die Ankunft dieser Zukunft leitet eine neue geologische Epoche ein, der Paul Crutzen und Eugene Stoermer »unseren« Namen gegeben haben: »Anthropozän«; mit der Industriellen Revolution einsetzend habe sie das Holozän abgelöst und sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter intensiviert. Das...

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