1 «Alles geht so schnell»
Wie sich unsere mentalen Fähigkeiten verändern
Fast jeder, der die 50 hinter sich gelassen hat, fürchtet hin und wieder, dass ihn sein Gedächtnis allmählich im Stich lässt. Man vergisst Namen und weiß nicht mehr, wo man seine Schlüssel gelassen hat. Bald wird es noch schlimmer, und man vergisst womöglich noch, den Herd abzuschalten … Oder man merkt, wie schwer es fällt, mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Dies ist in der schnellen Informationsgesellschaft nicht mehr so einfach. Begriffe wie Twitter, Facebook, Google+, iPhone, iPad, Blackberry, die heute in aller Munde sind, existierten vor zehn Jahren noch nicht. Jeder will alt werden, aber niemand will alt sein. Wenn man 40-Jährige fragt, ob sie 65 sein möchten, wird sich trotz des Freizeitvorteils, den die Aussicht auf eine baldige Pensionierung oder Verrentung verspricht, kaum jemand dafür entscheiden.
Das Schreckensbild wird nicht nur von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sondern vor allem von einem möglichen Nachlassen von Gedächtnis und Konzentrationsvermögen gezeichnet, oder auch von einer Verlangsamung der Denkvorgänge und einem Nachlassen der Flexibilität: Man befürchtet, allem nicht mehr so richtig folgen zu können. Schon der griechische Philosoph Platon vertrat (im vierten Jahrhundert vor Christus) die Ansicht, dass beim Altern der Abbau der körperlichen Kräfte mit dem Nachlassen der Geisteskräfte einhergehe. Ebenso wenig wie ein Mensch in hohem Alter noch schnell laufen könne, sei er dazu fähig, viel zu lernen. Hat Platon recht? Welche unserer mentalen Fähigkeiten lassen eigentlich nach, wenn wir älter werden? Wann beginnt der Abbau? Wie schnell geht es? Und was bleibt uns erhalten?
Vorurteile
Viele Menschen, auch ältere, haben ein falsches und zu düsteres Bild der «dritten Lebensphase» oder dem Leben jenseits der 65. Im Jahr 2008 stand die niederländische Bücherwoche unter dem Thema «Von alten Menschen. Die dritte Lebensphase und die Literatur». Aus diesem Anlass hatte die Tageszeitung de Volkskrant in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Amsterdam recherchiert, was man in den Niederlanden über ältere Menschen dachte. Die Befragten sollten angeben, ob ihrer Meinung nach bestimmte Aussagen zutrafen oder nicht. Zum Beispiel: «Die Hälfte der älteren Menschen ist einsam.» Diese Aussage hielten 47 Prozent der 751 Befragten für richtig, obwohl sie falsch ist. Die korrekten Antworten basieren auf den Ergebnissen der LASA-Studie (Longitudinal Aging Study Amsterdam), einer groß angelegten Langzeitstudie über das Altern. Aus der LASA-Studie geht hervor, dass nur ein geringer Prozentsatz der älteren Menschen einsam ist. Auch bei anderen Aussagen über ältere Menschen kamen die Teilnehmer oft zu falschen Einschätzungen, die durchweg ungünstiger ausfielen als die Fakten. Viele lagen bei den Aussagen über das Schrumpfen der familiären und freundschaftlichen Netzwerke falsch (lediglich 13 Prozent urteilten richtig); die meisten Teilnehmer dachten, dass sich diese Netzwerke mit zunehmendem Alter drastisch verkleinern würden. Tatsächlich gibt es hier sehr unterschiedliche Entwicklungen. Im Allgemeinen nimmt der Umfang des Netzwerks erst in sehr hohem Alter ab. Die meisten Befragten (75 Prozent) glaubten auch, dass die Besuche der Kinder in den vergangenen fünfzehn Jahren seltener geworden seien und der Lebensstil älterer Menschen in den vergangenen zehn Jahren gesünder geworden sei (58 Prozent). Beides trifft nicht zu: Kinder und Eltern besuchen sich heute eher öfter als früher, während der Lebensstil der heutigen Senioren eher ungesünder ist als in der vorherigen Seniorengeneration. Depressivität und Konservatismus wurden bei älteren Menschen zu hoch, ihre sexuelle Aktivität zu gering eingeschätzt. Die Aussagen zur Gesundheit wurden gewöhnlich richtiger beurteilt als jene zum Sozialverhalten.
Diese düstere Sichtweise auf ältere Menschen ist nicht ungefährlich. Denn sie kann zu einer self-fulfilling prophecy werden. Studien zeigen, dass sich eine positive Einstellung zum eigenen Altern günstig in Richtung höhere Lebenserwartung auswirkt. Dieser Effekt ist sogar stärker als der von Lebensstilfaktoren wie z.B. körperliche Bewegung, Rauchen oder Übergewicht. In einer der Studien wurden die Sterblichkeitsraten der Teilnehmer zu den Antworten in Beziehung gesetzt, die sie Dutzende Jahre zuvor in einer Umfrage gegeben hatten. Menschen mit einer positiveren Erwartung lebten durchschnittlich 7,5 Jahre länger als Menschen mit einer negativen Vorstellung vom Altern. Die Wissenschaftler denken, dass eine positive Einstellung den Stress verringert und zu Aktivitäten animiert, die das persönliche Wohlergehen fördern. 1993 untersuchte eine andere Studie bei 6856 Menschen, die bereits 1965 befragt worden waren, ob sich eine positive Einstellung auf das Sterberisiko ausgewirkt hatte. Auch hier war das Sterberisiko bei Menschen mit einer positiven Haltung geringer. Eine wichtige Rolle kam den «sozialen Netzwerken» zu: Menschen mit einer positiven Einstellung unterhielten mehr soziale Kontakte und lebten länger. Eine amerikanische Studie konnte schließlich belegen, dass Menschen, die dem Älterwerden mit etwa 60 Jahren positiv entgegengesehen hatten, als 70- und 80-Jährige glücklicher waren. Das traf auch dann zu, wenn die mehr oder weniger positive Gestimmtheit der Teilnehmer vor Vollendung ihres sechzigsten Lebensjahres sowie die Unterschiede in Einkommen und Gesundheit berücksichtigt worden waren. (Mancher ist nun einmal von Natur aus «fröhlicher» als ein anderer, und Einkommen und Gesundheit haben beide ebenfalls einen Einfluss auf das Lebensglück als 70-Jähriger.) Wie Optimismus die Leistungsfähigkeit des Gehirns (und vor allem den positiven Umgang mit Stress und Misserfolgen) fördert, wird hier später noch zur Sprache kommen. Da dieses Buch die Aufmerksamkeit der Leser ausdrücklich auf die positiven Seiten des Alterns lenkt, könnte sich seine Lektüre sogar lebensverlängernd auf sie auswirken.
Umgekehrt bewirken negative Stereotypisierungen eine Verminderung der Leistung und des Wohlbefindens. Wenn man älteren Menschen zunächst eine Reihe negativ konnotierter Begriffe zum Thema Alter, wie etwa den Begriff «senil», vorlegt, ist ihre Leistung in einem anschließenden Gedächtnistest schlechter als nach der Lektüre positiver Begriffe wie etwa «weise».
Altersattribute beeinflussen uns womöglich auch unbewusst, weil wir Abbau und Verfall damit assoziieren. Um dies zu testen, untersuchte die Harvard-Professorin Ellen Langer eine Reihe sehr unterschiedlicher Altersattribute auf ihre Auswirkungen hin. Sie vermutete beispielsweise, dass Männer, die früh kahl werden, auch früher unter Altersbeschwerden litten. Denn eine Glatze wird mit Altern assoziiert, und womöglich fühlen sich Menschen, die täglich mit ihrer Kahlheit konfrontiert werden, eher alt. Aus ihrer Studie ergab sich tatsächlich ein Zusammenhang zwischen früher Kahlheit und dem zeitigeren Einsetzen von Altersbeschwerden. Ein anderer von ihr vermuteter Zusammenhang war der zwischen der eigenen Kleidung und dem Gefühl, älter zu sein: 6o-Jährige tragen nun einmal nicht die gleiche Kleidung wie 25-Jährige. In Berufen, in denen man Uniform trägt, etwa als Zugschaffner oder Polizist, dürfte das keine Rolle spielen: Alle sind gleich gekleidet, sodass sich das Alter nicht an der Kleidung ablesen lässt. Ein 20-Jähriger fühlt sich in Uniform eventuell älter, als er ist, ein 65-Jähriger möglicherweise gerade jünger. Langers Annahmen bestätigten sich: Ältere Arbeitnehmer litten in Unternehmen, in denen Uniform getragen wurde, weniger schnell an Altersbeschwerden als andere, die keine Uniform trugen. Sie untersuchte auch, ob Menschen, die mit einem (mindestens zehn Jahre) jüngeren Partner verheiratet waren, einen jugendlicheren Lebensstil annahmen und daher langsamer alterten. Auch das konnten ihre Forschungsergebnisse belegen. Im Gegenzug traten bei den jüngeren Partnern sogar früher Alterserscheinungen auf als bei gleichaltrigen Ehepartnerschaften. In einer früheren Studie hatte Langer kulturelle Einflüsse auf das Nachlassen des Gedächtnisses untersucht: Dabei ging sie von der Annahme aus, dass sich das Gedächtnis älterer Menschen, die in China auf dem Lande lebten, weniger verschlechtern würde, als es in unserer Kultur zu beobachten ist, da sie den negativen Stereotypisierungen, die in westlichen Gesellschaften vorherrschen, weniger ausgesetzt sind. Ihre Annahme erwies sich als richtig. Aus ihrer Studie ging außerdem hervor, dass das Gedächtnis von Amerikanern, die unter Taubheit litten (und die mithin den negativen Klischees über das Altern weniger ausgesetzt waren), ebenfalls weniger beeinträchtigt war. Kurz gesagt: Es kann einen erheblichen Unterschied ausmachen, wie wir selbst zum Altern stehen und welchen Einfluss vorherrschende Vorstellungen auf uns ausüben. Eine positive Einstellung hält jung und ist in vielerlei Hinsicht durchaus berechtigt, denn viele ältere Menschen sind noch bei guter Gesundheit.
Ein virtuoser Pianist
Aldo Ciccolini...