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Wenn der Pfau weint

Wie ich mich als Jesidin aus der Gewalt einer Parallelgesellschaft in Deutschland befreien konnte

AutorAngela Kandt, Irina Badavi
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641198480
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Eine Jesidin in Deutschland - mehr als ein Erfahrungsbericht
»Wenn ich nicht weggehe, sind wir bald tot!« Die Lebensgeschichte der Jesidin Irina handelt von Zwangsheirat, Demütigung, Gewalt und Verfolgung. Mitten in Deutschland war sie den Mechanismen einer kruden Parallelgesellschaft ausgeliefert. Doch die junge Frau wehrt sich und befreit sich aus der ihr aufgezwungenen Ehe mit einem unfassbaren Überlebenswillen, viel Mut und einer Kraft, die aus Wut, Entschlossenheit und der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung erwächst. Auf diesem Weg hatte sie das Glück, in entscheidenden Momenten die richtigen Menschen zu treffen, die ihr geholfen haben. Eine zentrale Frage dieses Buches ist auch, warum sich gerade in unserer liberalen und offenen Gesellschaft immer wieder frauenverachtende Parallelgesellschaften bilden können.

Info:
Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit im nördlichen Irak mit mehreren hunderttausend Angehörigen. Im Zentrum dieses monotheistischen Glaubens steht u.a. Melek Taus, der »Engel Pfau«.

  • - Ein Einblick in die verschlossene Welt der Jesiden
  • - Zwangsheirat, Gewalt, Verfolgung und Befreiung: die erschütternde Geschichte einer starken Frau


Irina Badavi, geb. 1980 in Tiflis, Georgien, als das zweite von vier Kindern. Ihre Eltern sind zu jenem Zeitpunkt 18 und 17 Jahre alt. Die Familie kommt Mitte der 90er-Jahre nach Deutschland, nachdem Irina gerade ihren georgischen Realschulabschluss gemacht hat. Im Alter von 16 Jahren wird sie mit einem Jesiden verheiratet, der bereits Ende 20 ist und als psychisch instabil gilt. Irina bekommt erst einen Sohn, dann eine Tochter. Am 1. Oktober 2004 gelangt sie nach einigen Jahren, die geprägt waren von Demütigungen, Gewalt und Vergewaltigungen, über die Ausländerbehörde mit ihren Kindern in ein Frauenhaus. Es folgen jahrelange Prozesse, Verfolgungen, Bedrohungen, Mordversuche, immer wieder Ängste. Aber mit viel fremder Unterstützung, mit Therapien und noch mehr eigener Entschlossenheit schafft sie es, für sich und ihre beiden Kinder ein neues Leben aufzubauen. Irina lebt heute mit ihren beiden Teenagerkindern in in einer norddeutschen Großstadt. Sie arbeitet als Traumaberaterin und in der Flüchtlingsarbeit als Dolmetscherin.

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Leseprobe

1.

Georgien

Es war einer der ersten warmen Sommertage in Tiflis. Die einfallende Sonne tauchte den Krankenhaussaal in helles freundliches Licht, und die vor dem Fenster im leichten Wind sich sanft wiegenden Sträucher warfen weiche Schatten an die gekalkten Wände. In einem der zwanzig Betten lag eine schöne Frau, fast noch ein Mädchen. Langes schwarzes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht, das so weiß war wie das Kissen unter ihrem Kopf. Ihre müden braunen Augen schienen sich zunächst an dem strahlendblauen Himmel hinter der Fensterscheibe zu freuen und glitten dann zögernd weiter zu dem kleinen Bündel neben sich. Still lag es da, und hätte das dicht gewickelte weiße Tuch nicht ein winziges Gesicht frei gelassen, hätte man nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch in diesem Bündel eingewickelt war. Nach vier Tagen Wehen hatte die junge Frau das kleine Wesen in die Welt gepresst, und niemand war da. Niemand, der sie und ihr Neugeborenes anschauen mochte. Niemand, der diesen Fehler sehen wollte: Es war ein Mädchen.

Das Mädchen war ich.

Als zweite Tochter war ich eine Enttäuschung, eine Pein für meinen Vater. Einer, der auch als zweites Kind eine Tochter bekommen hatte, konnte ja wohl nicht Manns genug sein! Und eine Mutter, die selbst bei der zweiten Geburt keinen Stammhalter hervorbrachte, hatte versagt. So dachte man 1980 in meiner Familie in Georgien. Und so begann mein Leben neben einer enttäuschten Mutter als Bündel, das niemand haben wollte.

Mein Vater war damals 18, meine Mutter 17 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden geheiratet. Es war eine arrangierte Ehe und Liebe nicht einmal ein Wort. Schließlich geht es bei den traditionellen Kurden jesidischen Glaubens immer nur um eines: den Fortbestand der Familien und der Kasten. Dies hat zur Folge, dass Jesiden ausschließlich untereinander heiraten dürfen und nur innerhalb ihrer drei Kasten.

Bei der Wahl der Ehepartner wird geklärt, ob die Kaste passt, ob das Alter passt und wo die beiden wohnen sollen. Offiziell heißt es zwar, dass beide Partner zustimmen müssen, aber in Wahrheit treffen oft allein die Väter die Entscheidung. So war es in unserem Clan üblich. Vielleicht, weil wir zur Kaste der Pire gehören. Die Pire bilden neben der Kaste der Scheichs die religiöse Führung innerhalb des jesidischen Kastensystems. Während die meisten Jesiden zur dritten, der untersten Kaste der Murid, gehören, gibt es nur relativ wenige Familien von Scheichs und Pire. Deshalb war die Auswahl in der Regel umso kleiner und der Druck, jemanden zu finden, umso höher. Vor diesem Hintergrund hatte es meine Mutter völlig normal gefunden, ohne ihre Zustimmung verheiratet zu werden. »Das war eben so – und ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Willen meines Vaters infrage zu stellen«, hat sie mir später immer erzählt.

Ein Jahr nach der Hochzeit kam meine Schwester Lena zur Welt und jetzt eben ich, Irina. Das war zumindest der Name, den mein Vater damals in der Geburtsurkunde hat eintragen lassen. Georgien erlaubte nur russische oder nordisch klingende Namen – orientalische waren verboten. Diesem Gesetz beugten sich auch die Jesiden – zumindest nach außen. Zu Hause und in der ganzen Sippe hieß ich Djamila.

Wir wohnten damals in einem Plattenbau am Rande von Tiflis. Wir, das war die gesamte Großfamilie: meine Großeltern, mein Vater und seine drei Brüder mit ihren Ehefrauen und Kindern. Wir waren eine eingewanderte Flüchtlingsfamilie aus der Türkei.

***

In unserer Familie wurde erzählt, dass wir ursprünglich aus Syrien stammten, aber bereits Jahrzehnte in der osttürkischen Region von Kars gelebt hatten, ehe dort Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts die »Fermana Türkiye«, die Verfolgung, begann. Offiziell lebten Armenier und Jesiden hier zwar frei, fühlten sich aber zunehmend schikaniert. Türken kamen in das Dorf. Die Ernte wurde zerstört, Jesiden wurden zur Armee eingezogen und dort »zufällig« erschossen. Es gab auch im Dorf Schießereien, Männer wurden verschleppt, einige fand man später tot im Dorfbrunnen. Die Türken behaupteten, dass sie dort einfach hineingefallen seien, doch die Jesiden wussten es besser. Sie fühlten sich zunehmend nicht nur als Kurden, sondern darüber hinaus mit ihrem jesidischen Glauben verfolgt. Muslimische Türken beschimpften sie als »Teufelsanbeter«.

Ein Vorwurf, der sich hartnäckig bis heute hält, aber doch nur ein Missverständnis ist. Die Jesiden glauben wie andere monotheistische Religionen an den einen Gott. Um ihn herum sind sieben Engel versammelt. Der erste dieser Engel ist der Tawusi Melek, der Engel Pfau. Er war nach dem jesidischen Mythos mit Gott an der Schöpfung beteiligt, wurde jedoch durch diese Stellung allzu hochmütig. Zur Strafe verdammte ihn Gott in die Hölle, wo er 7.000 Jahre mit seinen Tränen das Höllenfeuer löschen musste. Danach war er rehabilitiert und durfte sich wieder in die Schar der sieben Engel einreihen.

Seiher wird er von den Jesiden verehrt als der Engel, der für die Sünden der Menschen gebüßt hat. Dieser Mythos löst bei den gläubigen Jesiden so große Furcht vor dem Abfall in die Hölle aus, dass selbst das Wort »Shaitan« für Teufel nur auszusprechen, als Tabu gilt. Die meisten von ihnen haben große Angst vor dem Teufel und würden z. B. niemals Kopfsalat essen. Sie glauben, dass dort tief drinnen der Teufel wohnt.

Als die Übergriffe und Feindseligkeiten in dem kleinen Bauerndorf nicht aufhörten und sich zu der Todesangst die Furcht vor einer erzwungenen Islamisierung gesellte, entschieden mein Großvater und seine Brüder wegzugehen. Sie gaben damals dem Drängen meines Urgroßvaters nach.

»Ihr müsst gehen und dafür sorgen, dass unsere Familien und unser Volk weiterleben«, hatte er sie gemahnt. »Es ist egal, wie lange ihr unterwegs seid. Aber es ist nicht egal, ob ihr von muslimischer Hand getötet werdet! Das Leben von uns Alten ist nicht mehr so wichtig.« Er würde sich in Zukunft allein um die Felder, die kleine Ziegenherde, die Schafe und die Rinder kümmern.

Es war Spätherbst und nachts bereits sehr kalt. Die Flüchtenden mussten sich daher beeilen, um noch vor dem ersten Schnee das nahe Gebirge Richtung Osten zu überqueren. Mein Großvater war wie seine Brüder Analphabet, hatte nie eine Schule besucht und keine Ahnung von Geografie, aber mein Urgroßvater hatte ihnen erzählt, dass dort hinter dem Gebirge das Land Armenien sei. »Dort seid ihr sicher.«

Das wusste der Urgroßvater, weil bis zum Genozid an den Armeniern während des ersten Weltkrieges auch in diesem osttürkischen Dorf Armenier gelebt hatten. Anfänglich hatten jesidische Nachbarn ihnen noch geholfen, sich zu verstecken, doch dann wurde es für alle immer lebensbedrohlicher, und die Armenier flohen über die Berge. Seither gab es zwar keine Armenier mehr im Dorf, aber eine alte Verbundenheit, und einige der alten Dorfbewohner sprachen sogar noch ein bisschen Armenisch. Einer von ihnen konnte sogar schreiben und malte meinem Vater mit großen Lettern auf einen weißen Zettel den armenischen Satz »Ich bin Flüchtling«. Er gab ihnen den Rat: »Sobald ihr nach dem Überqueren der Berge in das erste Dorf kommt, geht ihr zum Bürgermeister und legt ihm diesen Zettel vor. Dann wird man euch weiterhelfen.«

Sorgfältig packte mein Großvater das zusammengefaltete Papier in die Innentasche seiner weiten Jacke. Dort lag bereits Gold- und Silberschmuck, den ihm mein Urgroßvater aus dem kleinen Familienvermögen mitgegeben hatte. Gold und Silber waren in unserer Kultur immer die eiserne Reserve, die man nur antastete, wenn es um absolute Notfälle ging. Und diese Flucht war ein solcher Notfall.

Im Schutz der Dunkelheit machten sie sich schließlich auf den Weg. Mein Großvater mit seinen drei Brüdern, den Ehefrauen und den Kindern. Ein kleiner Treck von zwanzig Menschen schlich leise davon aus diesem Dorf, das sie noch nie zuvor verlassen hatten. Mein Vater war damals zweieinhalb Jahre alt und wurde von seiner Mutter im Tuch auf dem Rücken getragen. Die älteren Kinder mussten selber laufen.

Sie hatten Brot eingepackt, mit Reis gefüllte Weinblätter, weißen Käse, ein paar Kanister Wasser. Mehr nicht. Ein kalter Wind kam von den Bergen herüber, doch es gab keinen Regen und auch noch keinen Schnee. Gottseidank. Sie hörten das Plätschern des nahen Flusses. Das war eine gute Orientierung in der Dunkelheit. Über eine kleine Holzbrücke stapften sie im Gänsemarsch auf die andere Seite. Dort hob sich das Gebirge schroff in einen sternenklaren Himmel wie eine dunkle Wand. Der Aufstieg war schwierig. Sie trugen nur einfache Sandalen, und die Wege waren nicht nur schmal, sondern sehr steinig, uneben und steil.

Am dritten Tag passierte das erste Unglück. Sie machten eine kleine Pause, um etwas zu essen und zu trinken. Einige legten sich kurz hin, um zu verschnaufen. Nach einer Stunde rafften sie alles wieder zusammen und gingen weiter. Plötzlich schrie die Schwägerin meines Großvaters:

»Aziz – wo ist mein Mann? Wo ist Aziz?«

Aziz war einer der Brüder meines Großvaters und damals 25 Jahre alt. Alle standen wie erstarrt. Dann suchten die Männer die Umgebung ab. Es gab ziemlich viel unwegsames Gestrüpp, tiefe Abgründe jenseits des Ziegenpfades, über den sie zum Berg hinaufstiegen. Irgendwann gaben sie die Suche auf. Er wurde nicht gefunden, aber man vermutete, dass er irgendwo abgerutscht war, vielleicht schon während der Rast, als er hinter einem Felsen sein Geschäft erledigte. Sie entschieden weiterzuziehen. Fatme, seine Frau, war untröstlich, und aus dem Flüchtlingstreck wurde ein Trauerzug.

Am nächsten Tag geschah das zweite...

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