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Wenn Kinder töten

Wahre Verbrechen - Deutschlands bekanntester Serienmordexperte klärt auf

AutorStephan Harbort
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783426451397
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Stephan Harbort ist Deutschlands bekanntester Serienmord-Experte und True-Crime-Autor. In seinem neuen Buch nach 'Killerfrauen' erzählt er wieder von wahren Kriminalfällen, zum ersten Mal aber von Kindern, die getötet haben. Ein sechsjähriger Junge findet bei seinem Onkel eine Pistole und erschießt damit zwei Stunden später seine Klassenkameradin. Das Motiv: Sie hat ihm zugeflüstert, dass sie ihn nicht mag. Die Polizei überführt einen 13-jährigen Jungen, der zwei gleichaltrige Jungen auf dem Gewissen hat. Er wird zum jüngsten Serienmörder Deutschlands. Ein zwölf Jahre altes Mädchen tötet, gemeinsam mit ihrem Freund, Vater, Mutter und Bruder, weil ihre Familie mit der Beziehung nicht einverstanden gewesen ist. Stephan Harbort erzählt acht spektakuläre Fälle von Kindern, die zu Mördern wurden. Er erklärt, was die Kindheit der Täter beschwerte, was sie außer Kontrolle geraten ließ und was sie dazu brachte, Taten zu begehen, die sonst nur Erwachsene verüben. Dabei stellt der Kriminalexperte fest, dass die Motive der kindlichen Täter denen der erwachsenen Mörder sehr ähnlich sind - es geht um Alltags- und Beziehungskonflikte, Macht, Habgier und sexualisierte Gewalt. Und obwohl die Kinder strafunmündig sind und juristisch nicht zur Verantwortung gezogen werden können, bedeutet das nicht, dass sie bei ihren Taten kein Schuldbewusstsein hatten oder nicht wussten, was sie taten. 'Er ist der Kartograph des Serienmords.' Frankfurter Allgemeine Zeitung 'Stephan Harbort weiß, wie Mörder denken.' Badische Neueste Nachrichten 'Stephan Harbort ist einer der führenden Kriminalexperten Deutschlands.' Markus Lanz

Stephan Harbort, Jahrgang 1964, ist Kriminalhauptkommissar und führender Serienmordexperte. Er sprach mit mehr als 50 Serienmördern, entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewalttätern und ist Fachberater bei TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Stephan Harbort lebt in Düsseldorf.

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Leseprobe

Vorwort


»Es gibt nur die Tat, nicht den Täter;

bestimmte Umstände rufen

eine bestimmte Tat unabwendbar hervor.«

 

Erik Wolf

 

 

 

»Ich habe Dad erschossen.

Diese Vater-und-Sohn-Geschichte musste enden.«

 

Joseph Hall (zehn Jahre alt)

Im August 2013, São Paulo, Brasilien.

Eine Überwachungskamera filmt das Auto am Montagmorgen um genau 1.25 Uhr, als es in der Nähe einer Schule abgestellt wird. Wer das Auto benutzt hat, ist nicht zu erkennen, weil der Fahrer merkwürdigerweise nicht aussteigt. Und auch in den folgenden fünf Stunden das Fahrzeug nicht verlässt. Erst um 6.32 Uhr zeichnet dieselbe Überwachungskamera auf, wie jemand aus dem Wagen aussteigt und in Richtung der Schule geht. Es handelt sich augenscheinlich um eine kleinwüchsige Person, die einen Rucksack auf dem Rücken trägt. Oder ist es vielleicht ein Schulranzen? Später wird die Polizei annehmen, es habe sich bei dieser Person um Marcelo Pesseghini gehandelt, den 13-jährigen Sohn der Fahrzeughalterin.

Marcelo nimmt an diesem Vormittag wie gewöhnlich am Unterricht teil, gibt sich wie immer ungezwungen und fröhlich, lässt sich aber entgegen der sonst üblichen Gepflogenheiten nach Schulschluss nicht von seiner Mutter abholen, sondern bittet den Vater eines befreundeten Klassenkameraden, ihn doch freundlicherweise nach Hause zu fahren, seine Mutter, von Beruf Polizeibeamtin, habe infolge der Nachtschicht wohl verschlafen. Einverstanden. Als sie eine Viertelstunde später vor dem Haus seiner Eltern stoppen und Marcelo aussteigt, spricht er seine letzten Worte – »Tschüs, bis morgen« –, verschwindet im Hauseingang – und schießt sich wenige Minuten später mit der Dienstpistole seines Vaters eine Kugel in den Kopf.

Gegen Mittag desselben Tages bietet sich den Ermittlern im Haus der Familie Pesseghini ein Bild des Grauens: Marcelo findet man auf einer Matratze, die Tatwaffe noch in der Hand haltend. Daneben liegen die toten Körper seiner Mutter Andreia (36) und seines Vaters Luis (40). In einem Nachbarhaus stoßen die schockierten Polizisten auf die Leichen der Großmutter und der Großtante des Jungen – alle Opfer sind, dies wird sich später herausstellen, mit derselben Pistole im Schlaf jeweils mit Kopfschüssen förmlich hingerichtet worden. Warum Marcelo diese unfassbare Tat begangen und seine gesamte Familie ausgelöscht hat, bleibt letztlich ungeklärt.

Wenn Kinder wie Marcelo töten, vereinzelt sogar in Serie töten oder ihre Waffen wahllos auf andere Menschen abfeuern und Amok laufen, gerät auch die Experten-Welt regelmäßig in Erklärungsnot. Denn bei solch gravierenden, irritierenden, den Verstand überfordernden Ereignissen werden berechtigterweise immer wieder dieselben bohrenden Fragen gestellt, die nicht nur auf den bedauerlichen Einzelfall abzielen: Wer hat versagt? Wer ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden? Wer hat Schuld? Sind es die Eltern? Familienangehörige? Pädagogen? Die Schulen? Die Gesellschaft? Warum passiert so etwas? Was treibt Mädchen und Jungen zum Äußersten?

Allein bei dem Gedanken an solche Taten sträubt sich alles. Für Kinder, Sinnbilder der Unbedarftheit und der Unschuld, passen weder die gängigen Sanktionen der Justiz noch die üblichen Erklärungs- bzw. Feststellungsmodelle der Juristen. Mord, Totschlag, Vergewaltigung oder Raub, inkriminierte Handlungen, die sich nach entsprechenden Merkmalen als Tatbestände des Strafgesetzbuches subsumieren lassen und somit selbsterklärend sind, dürfen bei Kindern keine Anwendung finden und stehen demzufolge als Ausgangspunkt für Forschungsvorhaben nicht zur Verfügung. Erschwerend kommt hinzu, dass mitunter Lehrmeinungen vertreten und verbreitet werden, die sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend erweisen – wenn Kinder töten, soll es sich beispielsweise ganz überwiegend um Taten zwischen Geschwistern handeln, die angeblich durch eine emotionale Krise ausgelöst werden. Ich werde mit dem vorliegenden Buch nachweisen, dass diese spezielle Erscheinungsform der Tötungsdelinquenz wesentlich facettenreicher und dementsprechend differenzierter zu betrachten ist.

Die einzige unumstößliche wissenschaftliche Erkenntnis zu diesem Gewaltphänomen fußt indes lediglich auf den jährlich durchzuführenden statistischen Erhebungen. Nach den amtlichen Zahlenkolonnen des Bundeskriminalamtes handelt es sich nicht nur hierzulande zweifellos um ein sehr seltenes Ereignis: In den vergangenen Jahrzehnten lag der prozentuale Anteil von kindlichen »Tatverdächtigen« im Bereich von »Mord und Totschlag« lediglich bei durchschnittlich 0,16 Prozent. Im Jahr 2016 waren es genau zehn Jungen und ein Mädchen. Wahrscheinlich sind diese extrem geringen Fallzahlen auch einer der Hauptgründe dafür, dass Tötungen durch Kinder wissenschaftlich bislang kaum Beachtung gefunden haben.

Und eben diese stiefmütterliche Behandlung, dieses Nichtwissen, hat mich neugierig werden lassen und dazu inspiriert, einmal genauer hinzuschauen und solche Fälle zusammenzutragen, die möglichst alle Erscheinungsformen und Facetten dieser extremsten Form von Kinderdelinquenz abbilden. In den vergangenen 25 Jahren hatte ich mit den grausamsten Verbrechen und den schlimmsten Mördern Deutschlands zu tun, aber allein die Taten der Kinder haben mich sprachlos gemacht.

Was unter dem Begriff »Kind« verstanden werden soll, ist keine soziologische, psychologische oder kriminologische, sondern in erster Linie eine juristisch zu beantwortende Frage. Erste Hinweise darauf, ab welchem Alter Kinder für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden können, ergeben sich aus Paragraf 828 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Darin heißt es: »Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.« Demzufolge besteht für Sechsjährige und jüngere Kinder eine absolute Schuldunfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit.

Anders verhält es sich indes, wenn darüber zu entscheiden ist, ab welchem Mindestalter Sanktionen im Sinne des Strafgesetzbuches (StGB) verhängt werden dürfen bzw. verhängt werden sollen. Um eine Person beispielsweise mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe belegen zu können, muss sie schuldfähig im Sinne des Paragrafen 20 StGB sein. Gemeint ist damit die Fähigkeit, »das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln«. Ihr Fehlen wird in Paragraf 19 StGB für Kinder unwiderleglich vermutet. Und weil die Bestrafung ein persönliches Verschulden voraussetzt, können Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, in Deutschland grundsätzlich nicht belangt werden.

Das Einsetzen der Strafmündigkeit wird aufgrund geschichtlicher, politischer oder kultureller Faktoren international höchst unterschiedlich festgelegt. Während in vielen mittel- und westeuropäischen Staaten ein Kind erst dann bestraft werden kann, wenn es bei Begehung der Tat das 14. Lebensjahr vollendet hat (indes Belgien: 18), dürfen in England bereits ab dem Alter von zehn Jahren auch Freiheitsstrafen verhängt werden. Kürzlich ist in Israel die Altersgrenze der Strafbarkeit auf zwölf Jahre herabgesenkt worden. Die amtliche Begründung: »Für diejenigen, die mit einem Messerstich ins Herz ermordet werden, ist es belanglos, ob der kindliche Täter 12 oder 15 Jahre alt ist.« Eine überaus fragwürdige Argumentation, denn gerade Kinder lassen sich entwicklungsbedingt noch viel weniger von verschärften Strafandrohungen beeindrucken oder abschrecken als Erwachsene. Aus diesem Grund ist auch die weltumspannend praktizierte Todesstrafe nicht nur eine menschenunwürdige, sondern auch eine dumme Strafe.

Besonders verwirrend erscheint die Rechtslage in den USA: Einerseits dürfen Kinder erst frühestens mit sieben Jahren strafrechtlich verfolgt werden, andererseits gibt es aufgrund des föderalen Prinzips keine einheitliche Rechtsauslegung, sodass in vielen Bundesstaaten teils höchst unterschiedliche Altersgrenzen der Strafmündigkeit Anwendung finden sollen – nämlich zwischen dem vollendeten sechsten und dem vollendeten zwölften Lebensjahr –, obwohl sich die betroffenen Kinder bezüglich ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, aber auch sonst nicht plausibel begründbar unterscheiden lassen. Juristischer Wildwuchs, der zu Lasten der Kinder geht, die im Einzelfall längere Haftstrafen verbüßen müssen als Erwachsene, die eine ähnliche Tat verübt haben. Auch hiervon wird dieses Buch handeln.

Im Zuge meiner Recherchen, aber auch bei der Analyse und Bewertung der einzelnen Fälle (Studienergebnisse siehe Anhang), ist mir sehr schnell bewusst geworden, dass bei jeder vorsätzlichen Tötung eines Menschen, die einem Kind zugeschrieben werden muss, die inneren und äußeren Abläufe der kollektiven Wahrnehmung, Einordnung und Bewertung stereotyp sind: ungläubiges Erstaunen, maßloses Entsetzen, allgemeines Unverständnis, inquisitorisch anmutende Fragen zu Verantwortlichen, reflexartige Vorverurteilungen, zeitnahe Schuldzuweisungen, gemeinschaftliches Verdrängen – als wäre das alles nicht passiert, als wäre die böse Tat nur ein böser Traum gewesen.

Dieses ubiquitäre und wiederkehrende Verhaltensmuster ist nur allzu verständlich. Denn Tötungen durch Kinder sind weder in unseren Lebensentwürfen noch in unserem Selbstverständnis vorgesehen, wir nehmen vielmehr an, Mädchen und Jungen, die sich noch...

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