1. KAPITEL
Sexueller Kindesmissbrauch und wie die Gesellschaft ihn wahrnimmt
- »Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, dass mein Bruder mich belästigte, aber sie wollte mir nicht glauben. Es wurde immer schlimmer, manchmal konnte ich vor Schmerzen kaum laufen. Als meine Lehrerin mich fragte, was los sei, habe ich es ihr erzählt. Ich bin dann zu Pflegeeltern gekommen, und meine Mutter hat mir nie verziehen, dass ich die Familie zerstört habe.«
- »Am vierten Geburtstag meiner Tochter bekam ich plötzlich Panikattacken. Ich hatte Flashbacks und erinnerte mich an den Missbrauch durch meinen Onkel. Damals war ich vier und mit meinen Eltern bei ihm zu Besuch.«
- »Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass man sich lächerlich macht und es peinlich ist, wenn man die Kontrolle verliert. Als die Wehen anfingen, habe ich deshalb um eine Periduralanästhesie gebeten. Mich nicht mehr unter Kontrolle zu haben wäre für mich die schlimmste Demütigung gewesen.«
Was ist sexueller Kindesmissbrauch?
Unter sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt gegen Kinder versteht man jede sexuelle Handlung, die durch Erwachsene oder Jugendliche an, mit, oder/und vor einem Kind vorgenommen wird. Der Täter bzw. die Täterin nutzt die körperliche, psychische, kognitive und sprachliche Unterlegenheit des Kindes aus, um ihre oder seine Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.
Alle körperlichen Handlungen sowie psychische oder verbale Verhaltensweisen, die den Täter selbst oder Dritte sexuell erregen, sind sexueller Kindesmissbrauch. Zu körperlichem sexuellem Missbrauch zählen Geschlechtsverkehr, vaginale oder anale Penetration mit den Fingern oder mit Gegenständen, Oralsex sowie Berührungen der Genitalien des Kindes oder der Genitalien des Täters durch das Kind. Körperlicher sexueller Missbrauch kann mit physischer Gewalt einhergehen oder mit Freundlichkeit, Bevorzugung des Kindes vor anderen Kindern, Belohnungen oder Schmeichelei.
Zu psychischem sexuellem Missbrauch zählen die Exposition der Genitalien, Voyeurismus und zudringliches Interesse an der sexuellen Entwicklung des Kindes. Ein Kind zu zwingen, pornographisches Material zu betrachten oder sexuellen Handlungen zuzusehen, ist ebenfalls psychischer sexueller Missbrauch.
Als verbaler sexueller Missbrauch werden sexuelle Anspielungen gegenüber Kindern bezeichnet, Fragen und Bemerkungen, die ihre sexuelle Entwicklung oder ihren Intimbereich betreffen, sowie gegen das Kind gerichtete Vorwürfe, dass es »sexy« sei oder sich »freizügig« oder »nuttenhaft« verhalte.
Viele dieser Aktivitäten verletzen das Kind, ängstigen oder verwirren es. Das kleine Mädchen hat das Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sei oder dass es etwas falsch gemacht habe. Es weiß nicht einmal, wie oder ob es sich dem Verhalten des erwachsenen Täters entziehen kann. Diese Gefühle werden noch verstärkt, wenn es sich um jemanden handelt, dem es nicht aus dem Weg gehen kann, den es liebt oder von dem es abhängig ist. Sexuelle Gewalt wird zumeist von Erwachsenen verübt, denen das Kind vertraut (Väter, Stiefväter, Großväter oder andere Verwandte). Auch Babysitter, Freunde der Mutter, Autoritätspersonen, Nachbarn, Mitschüler, Geistliche, Brüder, Cousins, gleichaltrige Jugendliche, die das Mädchen auf einer Party kennenlernt, und völlig Fremde können zu Tätern werden.
Ritueller oder kultischer Missbrauch findet in einer geschlossenen sozialen Gruppe statt. Charakteristisch für die Tätergruppe sind mannigfaltige, extrem zerstörerische Formen sexueller, körperlicher und seelischer Gewalt, Gehirnwäsche, erzwungene Geheimhaltung und die Isolation von der Außenwelt.
Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch und typische Tätereigenschaften
Wie häufig Kinder in den USA sexuell missbraucht werden, ist nicht gesichert belegt. Schätzungen auf der Grundlage mehrerer Studien und Umfragen besagen, dass zwischen 25 % und 40 % der Mädchen und 20 % bis 25 % der Jungen sexuelle Gewalt erleben. Ähnliche Zahlen werden aus Kanada, Schweden und Großbritannien berichtet. Über die Häufigkeit von rituellem Missbrauch ist nichts bekannt.
Die meisten Täter sind männlich; das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, die sich der sexuellen Gewalt gegen Kinder schuldig machen, beträgt 10 : 1. In über 80 % der Fälle ist der Täter dem Kind persönlich bekannt.
Die folgenden Geschichten illustrieren die drei Formen sexueller Gewalt und ihre Folgen für das spätere Leben der Opfer.
Brandy
Brandy erlitt körperlichen sexuellen Missbrauch.
Als Kind wurde Brandy von einem Babysitter betreut, der sie anfasste. Brandy blieb stets vollständig bekleidet, hatte aber das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wusste, dass die Art und Weise, wie er sie streichelte, nicht richtig war. Niemand sonst hatte sie je zuvor auf diese Art berührt. Hinzu kam die Heimlichtuerei – er verbot ihr, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Der merkwürdige Gesichtsausdruck, den er bekam, wenn er sie anfasste und massierte, bereitete ihr größtes Unbehagen.
Mehrmals wöchentlich wachte Brandy des Nachts schreiend aus dem immer gleichen Albtraum auf. Eines Nachts lief sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern und legte sich zu ihnen in das sichere, warme Bett. Nun erzählte sie ihnen, was sie mit dem Babysitter erlebte. Die Eltern sorgten dafür, dass sie ihn nie wiedersah. Niemand hat sie je wieder so angefasst wie er. Sie fühlte sich sicher.
Ihrem Ehemann hatte sie von dem Babysitter erzählt. Er begriff, dass sie es nicht mochte, beim Sex massiert zu werden. Noch als verheiratete Frau wurde sie dadurch an die sexuelle Gewalterfahrung und die damit verbundenen Gefühle erinnert. Als sie später, in der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind, zusammen mit ihrem Mann an einem Geburtsvorbereitungskurs teilnahm, beschlossen sie, die ausgiebige Streichelmassage ausfallen zu lassen. Sie wussten, was für sie beide das Beste war, und entschieden sich für andere Entspannungsmethoden.
Trudy
Trudys Geschichte ist ein Beispiel für seelischen Missbrauch.
Trudys Vater wollte sichergehen, dass seine Tochter ein »unbescholtenes Leben« führte und kein »Flittchen« würde. Keinesfalls sollte sie sich sexuell aufreizend verhalten oder promiskuitiv werden. Als Trudy in die Pubertät kam, begann er, sie streng zu überwachen. Wenn sie einen Jungen interessiert anblickte, sich auf bestimmte Weise setzte oder Kleidung trug, die ihrem Vater missfiel, wurde sie bestraft.
Die Bestrafung bestand darin, dass sie sich vor ihrem Vater ausziehen musste. Auf sein Kommando hin legte sie langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen ab. Sobald sie nackt dastand, spazierte ihr Vater mehrmals um sie herum, setzte sich dann auf einen Stuhl und starrte sie an. Nach dieser Maßregelung befahl er ihr, sich nicht wie eine Hure zu benehmen – andernfalls würde er sie als solche behandeln.
Auf diese Weise angestarrt zu werden war für Trudy demütigend und zutiefst verletzend. Sie glaubte, sich schuldig gemacht zu haben, hatte aber auch das Gefühl, dass es ihren Vater befriedigte, sie zu bestrafen. Noch Jahre nach dieser Erfahrung sexueller Gewalt wurde sie von Scham- und Angstgefühlen heimgesucht, wenn sie sich auszog und zufällig von Familienangehörigen oder Freunden gesehen wurde.
Dass sie sich schließlich in Beratung begab, verdankte sie ihrem Hausarzt, den sie seit Jahren kannte und dem sie vertraute. Sie hatte ihn aufgesucht, weil sie glaubte, einen Knoten in ihrer Brust entdeckt zu haben. Während der Untersuchung bat er sie, sich aufrecht, mit freiem Oberkörper, vor ihn hinzusetzen, damit er die Brüste auf ihre Symmetrie untersuchen konnte. Als er seinen forschenden Blick auf sie richtete, brach sie in Tränen aus. Der Arzt wollte sie mit Informationen über Brustkrebserkrankungen beruhigen. Er ahnte nicht, dass das Angestarrt-Werden und nicht die Angst vor Brustkrebs ihren Zusammenbruch verursacht hatte.
Rebecca
Rebeccas Kindheit und Jugend waren von verbalem sexuellem Missbrauch überschattet.
Rebecca erinnert sich, dass ihre Eltern ihr schon, als sie erst vier Jahre alt war, eintrichterten, dass sie später einmal gut aussehen müsse. Sie steckten sie in provozierend wirkende Kleidchen und Blüschen und schminkten sie. Jahrelang predigten sie ihr, dass sie »sexy aussehen« müsse, dann würden die Männer sie geradezu »fressen«. Wenn sie attraktiv sei, würde sie sich die Männer »nicht vom Leib halten« können.
Als Rebecca vierzehn Jahre alt wurde, hatte sie 40 kg Übergewicht und nicht die geringste Ahnung, weshalb. Im College wandte sie sich schließlich an eine Beraterin, die ihr half, den Zusammenhang zwischen ihrem Übergewicht und dem, was ihre Eltern ihr von Kindheit an eingeredet hatten, zu erkennen. Rebecca wollte nicht »sexy« sein. Sie wollte nicht von Männern »gefressen« werden. Sie wollte sich die Männer vom Leib halten und versteckte sich hinter ihrem Übergewicht. In der Beratung bearbeitete sie zahlreiche Konflikte und Schwierigkeiten und schaffte es, ihre Extrakilos loszuwerden. Doch auch als normalgewichtige junge Frau legte sie keinen Wert darauf, sexy zu wirken. Sie ließ niemanden, den sie kennenlernte, darüber im Zweifel, dass sie kein Sexualobjekt war.
Ein Jahr nach ihrem Collegeabschluss...