KAPITEL 1
Muuuh!
Grundsätzlich gibt es gegen Herdentrieb und Schwarmverhalten nichts einzuwenden. Das ist schlicht und einfach Biologie: Milliarden von Rindviechern, Gänsen, Lemmingen und Sardinen können nicht irren und scheinen aus menschlicher Perspektive gut damit zu fahren. Beim Zweibeiner ist es eine Lebens- und Gesellschaftsform, die v.a. Kindern, sozial bedürftigen, schwächer gestellten oder unselbstständigen Mitgliedern ein Gefühl der Sicherheit gibt und sie im Idealfall schützt und auffängt. Auch Menschen, die einem Po-Fetisch fröhnen, gern fremde, schaukelnde oder wackelnde Hintern betrachten und denen das gelegentlich entweichende Methan-Wölkchen nichts ausmacht, sollen bitte ihrer Herde folgen. Die zu Bequemlichkeit und trägem bzw. Nicht-Denken Neigenden ebenso, die wären sonst permanent gestresst oder gingen verloren. Das gilt auch für alle, die sich, ganz Herdenvieh, bei Quotenhits wie ›Dschungelcamp‹, ›Bauer sucht Frau‹, ›Berlin – Tag und Nacht‹, ›Schwiegertochter gesucht‹, ›Adam und Eva‹, ›DSDS‹, ›GNTM‹ u.v.m. millionenfach kollektiv vor die Glotze lümmeln und dieselbe Chips-, Bier- und Brausemarke konsumieren wie alle anderen, die auch noch die Werbe-Spots über sich ergehen lassen. Das Problem dabei ist nur, dass es weder glücklich macht, noch gesund ist oder einen weiterbringt.
Jahrtausende philosophischer und ein volles Jahrhundert psychologischer Forschung haben ergeben, dass es die Suche nach Glück und Sinn ist, die uns Menschen an- und umtreibt. Wer hätte das gedacht! Aber da verwundert es ein wenig, womit die menschliche Herde ihr Glück sucht, vom Sinn ganz zu schweigen. Jeden Samstag sind Fußgängerzonen und Einkaufspassagen brechend voll. Ich shoppe, also bin ich? Shopping is my therapy? »Nice try«, wie die Amerikaner sagen: Die meisten von uns ackern wie Ochsen, um genug Geld zu verdienen und sich Dinge kaufen zu können, die wir entweder nicht brauchen oder mit denen wir Mitmenschen beeindrucken wollen, die wir insgeheim eigentlich scheiße finden. Wie anstrengend. Wie kostspielig. Wie unlustig.
Es überrascht mich selbst immer wieder, wie gerne wir auch als ausgewachsene, gesunde Exemplare des Homo sapiens unqualifizierten Leithammeln und Kühen folgen. Oder, noch dümmer, einfach blind der Herde folgen, ich selbst mittendrin. Irgendjemand schwärmt von einem Buch, das ich unbedingt lesen muss? Schon stehe ich an der Kasse im Buchladen und kaufe es. Jemand erzählt, er habe sich in irgendeiner Comedy scheckig gelacht? Schon sitze ich in einem abgewetzten Kinosessel und hoffe auf Lach-Salven. Oft stelle ich nach zehn Seiten bzw. Minuten fest: Fehlanzeige, ist ja gar nicht mein Ding – klassische Fälle von Herdentrieb. Es geht noch dümmer: In den 90ern hatte ich eine ganze Kollektion von Cowboy-Boots, obwohl ich nie auf einer Ranch gearbeitet, Rinder zusammengetrieben, Pferde eingeritten oder Marlboro-Werbung gemacht habe. Ich stiefelte in viel zu spitzen Boots auf viel zu hohen Absätzen (!) durch Köln und fand mich rasend cool, weil alle anderen coolen Jungs ebenfalls coole Western-Stiefel trugen.
Die Mode- und Textil-Industrie mit ihren Protagonisten wie H&M, Primark, Zara, Mango, S. Oliver u.v.m. sind das banalste, offensichtlichste Beispiel für unseren Herdentrieb. In schöner Regelmäßigkeit werden uns Hosen angedreht, in die man sich nur liegend und mit langem Schuhlöffel hineinzwängen kann. Vor einigen Jahren sank der Hosenbund dann so tief, dass man sich wunderte, wie das Ding ohne Hosenträger oder Zuhilfenahme beider Hände überhaupt an der Hüfte hängenbleiben konnte. Dafür hatte keiner mehr einen Arsch in der Hose und jeder konnte laut und deutlich die Unterwäsche-Marke lesen. Bei Mädchen waren bauchfrei und enge Jeans angesagt, sodass sie von hinten aussahen wie Muffins. Nur dass das Muffin-Top dank Coca-Cola, Nestlé und McDonalds bei vielen nicht über die papierene Backform quoll, sondern über den Hosenbund. Jetzt ist es gerade wieder schick, manuell mühsam zerschnittene Jeans zu tragen, die viel Haut oberhalb der Kniescheibe zeigen. Aufregend. So aufregend, dass Mario Barth in seiner ›... deckt auf‹-Show konsterniert feststellte, dass sämtliche Frauen und Mädchen in der ersten Reihe des Studios mit fast identischen zerschlissenen Jeans herumsaßen. Ich war Gast in dieser Show, wohnte in einem Hotel am Kudamm und durfte miterleben, wie vor dem Apple-Store nebenan Dutzende von I-Phone-Junkies kampierten, um als Allererste das neue 7er zu ergattern. Ich stolperte auf dem Bürgersteig vor der Mac-Kathedrale über Matratzen, Massage-Stühle, Zelte, Sofas, Sicherheits-Personal, vorbei an Range Rover- und Mini-fahrenden Hipstern und musste an meinen Opa denken. Der hielt es seinerzeit für pädagogisch wertvoll, seinen minderjährigen Enkeln Immanuel Kant zu zitieren: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Dass die eine Minute entfernt liegende Kantstraße nach diesem klugen Mann benannt ist, weiß vermutlich niemand in dieser Whatsapp-, Snapchat- und Instagram-süchtigen Horde. Die verpulvert begeistert 700 Flocken fürs neue Smartphone und ignoriert ebenso begeistert, dass sie soeben dem größten Steuertrickser der Welt noch mehr Geld in die Kasse spült. (Apple wurde 2016 von der EU-Kommission verdonnert, 13 Milliarden an Steuern nachzuzahlen. Solche Strafzahlungen schaffen sonst nur halb-kriminelle Vereinigungen wie VW und die Deutsche Bank.)
Aber man trifft auch immer wieder Leute, die nicht in diesem Hamsterrad mitrennen, und das sind interessanterweise die spannenden, unterhaltsamen, originellen. Und viele von ihnen, man glaubt es nur ungern, sind sogar erfolgreich. Aber sie werden dann wahlweise Außenseiter, Aussteiger, Hippies, Alternative, Träumer, Querdenker, Spinner, Verweigerer, Loser, Spaßverderber, Sonderlinge genannt. So geschehen bei Richard Branson (Virgin), Steve Jobs (Apple), Yvon Chouinard (Patagonia), Götz Werner (dm), um ein paar prominente Namen zu nennen. Selbst das schöne Wort ›Lebenskünstler‹ wird hierzulande quasi als Schimpfwort benutzt, obwohl es genau darum gehen sollte: kunstvoll zu leben. Aber wie schafft man das, ohne sich aus der Herde zu verabschieden und als Eremit zu leben?
Jeden Tag Nikolaus
Im Ausland begegnet einem der Lifestyle-Herdentrieb auffällig seltener als in Deutschland. In England, Italien oder Holland gibt es jede Menge Leute, die schon von ihrem Äußeren her als Individualisten zu erkennen sind. Mitte der 80er Jahre wohnte ich einige Zeit in der Nähe von London in dem Pendlerstädtchen St. Albans. Im Traditions-Pub ›The Six Bells‹ trafen sich abends die Leute aus der Umgebung. Auch eine Nachbarin kam regelmäßig auf ein paar Half-Pints vorbei. Sie war immer gut gelaunt, selbst für britische Verhältnisse auffallend höflich und schlagfertig. Dass sie das ganze Jahr hindurch im selben Blümchenkleid und in Hausschlappen unterwegs war, störte niemanden. Es wurde nie erwähnt. Auch sonst war sie unangepasst: Aus den Fenstern ihres Reihenhäuschens blinkte und leuchtete es rund ums Jahr, hauptsächlich in rot-weiß. Neugierig, wie ich war, sprach ich sie eines Abends darauf an, und am nächsten Tag zeigte sie mir ihre Sammlung von zweitausend Nikoläusen in allen Größen und Formen. Aus Holz, Plastik, Glas, Keramik, Stoff, historisch, modern blinkend, batteriebetrieben von innen beleuchtet oder Weihnachtslieder singend, von 2 cm Höhe bis zum aufblasbaren 2 x 1 m Monstrum, das sie wohl irgendwie bei Coca-Cola abgestaubt hatte. Ihre Bude war so voll mit Nikoläusen, dass man sich in schmalen Gängen durch sämtliche Zimmer zwängen musste. In Deutschland hätte man ihr vermutlich einen Vormund verpasst. In England war ihr Hobby völlig akzeptiert. Meine Nachbarin war eben Katie, ›the lady with the Santa Clauses‹. Mehr gab es über sie nicht zu sagen.
Mentale Skoliose
Ich frage mich immer, warum es in Deutschland spießiger und weniger gelassen zugeht als anderswo. Wer aus der Reihe tanzt, fällt schnell und unangenehm auf. Menschen, die darauf pfeifen, was ›man‹ trägt, wie ›man‹ sich verhält oder sein Leben gestaltet, welches Auto ›man‹ fährt, trifft man wesentlich seltener. Wir Deutschen holen unseren Individualismus am liebsten von der Stange. Warum?
Yvonne, die berühmteste Kuh Deutschlands, war überaus individualistisch und beschloss eines Tages im Sommer 2016, sich von ihrer Herde zu entfernen – zumindest hat sie es versucht. Sie hielt die gesamte Republik tagelang in Atem, wurde beinahe erschossen und landete schließlich auf einem Gnadenhof. Das muss auch anders gehen, davon bin ich überzeugt. Dass eine freiheitsliebende Kuh von den verantwortlichen Männern (!) zum Abschuss freigegeben wird, genau wie zehn Jahre zuvor ein zweijähriges Bärenbaby namens Bruno, sagt schon viel über unser Land, dem Weltmeister der Ängstlichkeit und Sicherheitsfanatiker. Eine dickköpfige Kuh und ein Problem-Bärchen ... echt?
Warum wurde Yvonne so berühmt? Weil sie aus der Reihe getanzt ist, weil sie ihrem Freiheitsdrang folgte, weil sie auch beim Anblick von bewaffneten Polizisten und aufdringlichen TV-Leuten unbeirrt ihre Haltung bewahrte. Besäße sie einen dritten Mittelhuf, sie hätte ihn wie Peer Steinbrück in die Kameras gestreckt und »Fuck you!« gemuht. Peer Steinbrück wurde zwar nicht zum Abschuss freigegeben, aber medial geschlachtet. So was macht ›man‹ doch nicht! Steinbrück war ein Politiker, der auch mal politisch nicht 100 prozentig korrekte oder unbequeme Wahrheiten sagte und Humor, Haltung und Kante zeigte.
Womit wir beim Thema wären: Es gibt einen simplen Test, mit dem man die...