2.2.3 Merkmale der Reality-TV-Formate
Reality-TV unterliegt einem ständigen Wandel: Definitionen und Modelle lösen sich ab oder existieren nebeneinander, neue Sendungen werden entwickelt, andere nicht mehr ausgestrahlt. Dennoch gibt es - es wurde bereits erwähnt - einige Charakteristika, die auch über die Jahre ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Dazu zählen Strategien wie Emotionalisierung oder Dramatisierung, wie sie CLAUDIA WEGENER definiert hat.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Merkmale von Reality-TV-Formaten kurz vorgestellt werden, um im anschließenden Kapitel am Beispiel von „Mitten im Leben!“ zu zeigen, wie die Strategien konkret umgesetzt werden. Dabei gibt es (a) Merkmale, die auf alle Sendungen des Realitätsfernsehens zutreffen, wie stark sich die Einzelsendungen auch voneinander unterscheiden. Neben diesen Merkmalen gibt es - aufgrund der vielfältigen Ausgestaltung der Einzelsendungen - (b) Aspekte, die nicht auf jede einzelne Sendung im gleichen Maße zutreffen müssen. Denn durch die Verwendung von „Reality-TV“ als Oberbegriff wird gleichzeitig akzeptiert, dass nicht alle Wesensmerkmale diese[r] Subgenr[e] mit dem Oberbegriff übereinstimmen. Doch eine eindeutige, Berührungspunkte ausschließende Einordnung von Sendungen zu verschiedenen Programmformen ist […] im Zuge der Ausdifferenzierung von Genres und der Entwicklung immer neuer Hybridformen nicht mehr
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möglich. 67 Diese konstitutiven und fakultativen Merkmale werden im Folgenden vorgestellt: unterschiedlicher Elemente wird als „Hybridisierung“ bezeichnet.
- Serielle Struktur Alle Sendungen werden über einen längeren Zeitraum ausgestrahlt, entweder durchgehend über mehrere Jahre (wie etwa „Richterin Barabara Salesch“ 2000 - 2012) oder in Staffeln über einen begrenzten Zeitraum. Somit ist es leicht möglich, auf sinkende oder steigende Einschaltquoten zu reagieren: bei Erfolg werden weitere Sendungen und zusätzliche Staffeln produziert, bei Nicht-Erfolg wird die Produktion der Sendungen eingestellt. Die Serien weisen einen hohen Wiedererkennungswert auf: sie werden stets am selben Wochentag zur selben Zeit gesendet, haben also einen festen Programmplatz. Neben dem Titel der Sendungen ist ihre Länge ebenso vorgegeben wie der Inhalt. Auch der Aufbau des Vorspanns und der Titelsong sind immer gleich. Die Gestaltung der Sendung folgt einer strengen Dramaturgie, ebenso sorgen Kameraführung, Schnitttechniken etc. dafür, dass die einzel-
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nen Folgen einen hohen Wiedererkennungswert haben. Sendungen, die in Staffeln ausgestrahlt werden oder mehrteilige Sendungen zeigen darüber hinaus stets dieselben Personen. Durch die Frage „Wie geht es weiter?“ wird die Spannung gesteigert, was ZuschauerInnen an die Sendung bindet.
- Nicht-Fiktionalität Das Merkmal Nicht-Fiktionalität trifft nicht generell auf Formate zu, sondern ist eine Eigenheit der Reality-TV-Formate. Anders als beispielsweise bei Daily Soaps ist das Gezeigte nicht erfunden, sondern bildet reale Begebenheiten ab. Gerade Sendungen des Realitätsfernsehens sind aber ein Beispiel dafür, dass die Einteilung in nicht-fiktional und fiktional nicht ganz unproblematisch ist. Denn im Fernsehen kann erstens niemals 1:1 die außerfilmische Realität abgebildet werden. Stets gibt es eine Vorlage oder Idee, werden Personen positioniert und darauf aufmerksam gemacht, was sie wie sagen oder tun sollten, müssen Szenen nachgedreht werden etc. Darüber hinaus kann Filmmaterial auch in der Postproduktion so verändert werden, dass der Film schließlich der außerfilmischen Realität kaum noch gleicht. Auf diese Problematik wird im Abschnitt „Alltagsbezug und Authentizität“ (S. 76 ff.) noch näher eingegangen. Zweitens ist dies insbesondere bei Reality-TV-Formaten der Fall, die stets nach einem bestimmten, vorgegebenen Schema ablaufen - auf diesen Aspekt wird noch genauer eingegangen.
Dennoch behauptet die Verf., dass Reality-TV-Sendungen nicht-fiktional sind
- denn: auch wenn das Gezeigte arrangiert ist, so wird doch der Eindruck vermittelt, dass alles „real“ sei. Tatsächlich ist es nicht immer einfach, herauszufinden, ob die gezeigten Personen eine erfundene Geschichte nachspielen oder die Geschichte tatsächlich erleben. Gerade dieses Spiel mit der Wirklichkeit löst immer wieder heftige Diskussionen aus. „BILD AM SONNTAG“ stellt, bezugnehmend auf „Ich bin ein Star - Holt mich hier raus“, beispielsweise die Frage „Was können wir dem Fernsehen noch glauben?“ 69 KAISER behauptet in „DIE ZEIT“, dass „neue Fernsehsendungen die Wirklichkeit [fingieren].“ Das Gefälschte sei dabei vom Echten nicht mehr zu unterscheiden. 70 Gerade diese Diskussionen legitimieren die Behauptung, Reality-TV sei grundsätzlich nicht-
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fiktional. Denn anders gesagt: Würden Reality-TV-Formate von einer breiten Öffentlichkeit als fiktional wahrgenommen werden, würden derartige Diskussionen verstummen, weil der Kritik die Grundlage entzogen wäre. salsschläge ihren Schuldenberg mehr und mehr anwachsen ließen, kann dies Anteilnahme, Mitgefühl oder gar Trauer auslösen. Wenn hingegen ein besonders unfreundlicher Kandidat weinend auf der Bühne steht, weil Dieter Bohlen 72 ihn kritisiert hat, können ZuseherInnen Schadenfreude oder Spott empfinden. Das Spektrum an Emotionen, die durch Reality-TV geweckt werden können, ist sehr breit. Die emotionale Beteiligung sorgt dafür, dass die ZuschauerInnen das Geschehen aktiv rezipieren - was gleichzeitig die Distanz zum Geschehen reduziert.
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Um möglichst viele Emotionen zu wecken, kommen besonders traurige oder fröhliche Themen sehr häufig vor. Schweren Schicksalsschlägen wird in den Sendungen viel Platz eingeräumt, ebenso glücklichen Momenten. Und auch die TeilnehmerInnen oder ProtagonistInnen verhalten sich oft sehr emotional. In den Sendungen wird geweint, umarmt, geschrien und geflucht. Auch den gezeigten Gefühlen angepasste Musik (traurig, dynamisch etc.), die in verschiedenen Lautstärken gespielt wird, schnelle Schnitte oder Cliffhanger 73 emotionalisieren das Gezeigte zusätzlich. Auch Großaufnahmen und der Einsatz der Zeitlupentechnik leisten einen wichtigen Beitrag bei der Darstellung besonders emotionaler Momente.
Neben der Emotionalisierung ist auch die Dramatisierung des Gezeigten sehr wichtig. Während Emotionalisierungsstrategien in erster Linie Emotionen bei den ZuseherInnen wecken sollten, sorgt die Dramatisierung für Spannung. Oftmals sind die beiden Strategien aber kaum zu trennen, da Dramatisierung und Emotionalisierung sehr eng verwandt sind. Dementsprechend wurden die Methoden, mit denen Ereignisse dramatisch dargestellt werden, bereits erwähnt: Eine große Rolle spielt auch bei der Dramatisierung die Kameraführung und Schnitttechnik sowie die Situation unterstützende Begleitmusik. Auch die Bauweise eines Studios kann die Dramatik erhöhen: Müssen KandidatInnen auf ihrem Weg in Richtung Bühne besonders lange Wege zurücklegen und wird dabei noch spannende Musik gespielt, erhöht dies Spannung. In Talkshows werden die Gäste in Entscheidungssituationen oft aufgefordert, sich in geringem Abstand gegenüberzustehen und in die Augen zu sehen. In Verbindung mit spannender Musik und der passenden Beleuchtung ist diese Situation für die wartende Person und die ZuseherInnen kaum auszuhalten. Die beiden Strategien Emotionalisierung und Dramatisierung zielen durch den Aufbau von Spannung und emotionaler Beteiligung auf die Beeinflussung der ZuschauerInnen ab.
- Alltagsbezug und Authentizität Reality-TV-Formate zeichnen sich dadurch aus, dass das Alltägliche, gewissermaßen die kleinen Geschichten, die das Leben schreibt, im Zentrum stehen. Dennoch unterscheiden sich die Geschichten bei näherer Betrachtung
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vom Alltag eines „durchschnittlichen“ Menschen, denn der Regelverstoß und der Tabubruch sind allemal interessanter als die Beschäftigung mit braven Menschen, die sich der Regelkonformität hingeben. 74 Dabei lassen sich zwei Ausgestaltungen unterscheiden: Die Kamera begleitet (a) eine oder mehrere Folgen lang Personen - in ihrem Zuhause oder beruflichen Umfeld. Es wird gezeigt, wie die Personen leben und ihren Tagesablauf gestalten. Oft stehen die Sendungen unter einem bestimmten Thema, wie es etwa bei der bereits erwähnten Dokusoap „Teenager werden Mütter“ der Fall ist: Das Thema „Schwangerschaft“ wird durch den Aspekt der Jugendlichkeit der Eltern „exotischer“. Wenngleich eine Schwangerschaft nichts „alltägliches“ ist, so handelt es sich dabei dennoch um ein Thema, mit dem vermutlich viele ZuseherInnen Erfahrungen, welcher Art auch immer, gemacht haben. Die Kombination von Schwangerschaft und (sehr) jungem Alter hingegen ist bereits...