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E-Book

Wie Krankheiten Geschichte machen

Von der Antike bis heute

AutorRonald D. Gerste
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783608115840
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Pest, Syphilis und Aids haben die Menschen in ihren Epochen bedroht, geprägt und in ihrem Bewusstsein Spuren hinterlassen. Eindrucksvoll zeigt Roland Gerste, wie Seuchen und die Krankheiten der Mächtigen zu Entscheidungsfaktoren in der Geschichte wurden - bis heute. Eine englische Königin, die das Land zusammen mit ihrem Mann, dem spanischen König, wieder katholisch machen will, scheint schwanger zu sein. Doch es ist ein Tumor - wäre sonst Spanien die Supermacht in unserer Welt? Ein deutscher Kaiser gilt als Hoffnungsträger der Liberalen, könnte Deutschland auf den Weg zu einer konstitutionellen, fortschrittlichen Monarchie führen. Doch er hat Kelhlkopfkrebs, ihm sind nur 99 Tage an der Macht vergönnt - wäre durch ihn der Erste Weltkrieg vermeidbar gewesen? Die Krankheiten von Staatenlenkern haben wiederholt in den Ablauf der Geschichte eingegriffen und die Weichen des Weltgeschehens oft auf dramatische Weise in eine andere Richtung gestellt. Doch Krankheiten bestimmen auch das Leben, die Kultur und das Bewusstsein der Völker. Die Pest und Aids, die Cholera und die Syphilis haben ganze Zeitalter geprägt. Der Arzt und Historiker Ronald D. Gerste nimmt den Leser mit auf eine spannende Reise zu den medizinischen Wegmarken unserer Geschichte.

Ronald D. Gerste, geboren 1957, ist Arzt, Historiker und Amerikakenner und lebt als Buchautor und Wissenschaftskorrespondent in Washington, D.C. Er schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit. Bei Klett-Cotta erschienen u. a. »Wie Krankheiten Geschichte machen«, »Trinker, Cowboys, Sonderlinge - Die 13 seltsamsten Präsidenten der USA« und »Die Heilung der Welt«.

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Leseprobe

Das Deutschland, das nie war

Friedrich III.


Ein Kaiser im Wartestand – und im Wettlauf mit dem Tod: Friedrich Wilhelm wartet in San Remo auf die Nachricht vom Ableben seines Vaters und den Beginn seiner Regierungszeit, die nur 99 Tage dauern wird.

»Heiserkeit, meine Herren, verhindert mich, Ihnen etwas vorzusingen!« Die zum Empfang im Berliner Schloss angetretenen Herren des Reichstagspräsidiums reagierten pflichtschuldigst mit verhaltenem Schmunzeln auf diese scherzhaft gemeinte Erklärung, vielleicht ergänzt durch Bemerkungen wie »Köstlich, Kaiserliche Hoheit, köstlich …«. Keiner der Anwesenden, am allerwenigsten wohl der Mann, der diese Worte zur Begrüßung mit einem müden Lächeln sprach, konnte ahnen, dass sie den Anfang einer Tragödie markierten – eines menschlichen, aber auch eines politischen Dramas. Man schrieb den 8. März 1887, und der Sprecher war der Thronfolger, Kronprinz Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl von Preußen, Sohn des Königs von Preußen und ersten deutschen Kaisers, Wilhelms I.

Das Deutsche Kaiserreich war erst 16 Jahre zuvor gegründet worden, im Spiegelsaal von Versailles, auf dem Höhepunkt des siegreichen Krieges von Preußen und anderen deutschen Staaten gegen Frankreich. Auf der machtpolitischen Bühne Europas war es ein Neuling, von den übrigen Großmächten mit Misstrauen (und im Falle Frankreichs mit Revanchegelüsten) betrachtet. Quasi von einem Moment zum anderen war im Zentrum des Kontinents ein Gigant entstanden: Das Deutsche Reich wies ein enormes demografisches wie ökonomisches Wachstum auf und schickte sich an, die führende Industrienation Europas zu werden. Seine Armee, im Kern die preußische, galt nach drei kurzen und mit höchster Effizienz siegreich geführten Waffengängen – 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich – als ein Machtinstrument sondergleichen. Die politischen Strukturen des Newcomers waren nicht dazu angetan, bei den beiden demokratisch konstituierten Großmächten (wobei »demokratisch« im 19. Jahrhundert nicht die Bedeutung hat wie in unserer Zeit; so gab es beispielsweise selbst im weithin als fortschrittlich gepriesenen Großbritannien kein Wahlrecht für Frauen), der französischen Republik und der konstitutionellen Monarchie England Vertrauen zu stiften. An der Staatsspitze Deutschlands stand die preußische Hohenzollernmonarchie; der Lenker und Gestalter der deutschen Politik war der konservative Junker Otto von Bismarck, der als Reichskanzler gerade in den 1880er Jahren einen energischen Kampf gegen »Reichsfeinde« führte, nach seiner Einschätzung in erster Linie die Sozialdemokraten und die Katholiken.

Für viele politisch engagierte Bürger des Reiches und für seine fortschrittlichen, an einer Erweiterung demokratischer Grundrechte interessierten Kräfte war der Mann, dessen Heiserkeit an jenem Frühjahrstag schnell wieder vergessen war, ein Hoffnungsträger. Friedrich Wilhelm galt ihnen und seither vielen, wenngleich nicht allen Historikern und Biografen als »Deutschlands liberale Hoffnung«.1 In diesen Kreisen galt es als ausgemacht, dass Friedrich Wilhelm nach Ablauf der Bismarck-Ära das Steuer ergreifen und einen neuen Kurs fahren, eine Abkehr von Restriktion und Autoritarismus vornehmen würde. Kaum ein Dokument drückt die Erwartung oppositioneller Kreise so deutlich aus wie das Jahre später mit verklärter Erinnerung von Anton von Werner geschaffene Gemälde »Kaiser Friedrich III. als Kronprinz auf dem Hofball 1878«, auf dem dieser mit führenden liberalen Politikern eine abseits des Treibens stehende Gruppe bildet – Männer, denen die Zukunft zu gehören schien.

Der Kronprinz war als Anhänger des britischen Systems bekannt, eines soliden Parlamentarismus mit checks and balances und einem über den Parteien thronenden Monarchen. Die Neigung des preußisch-deutschen Kronprinzen, der im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute (und seinen Familienmitgliedern) fließend Englisch sprach, zum weltumspannenden British Empire war nicht nur von seiner bei zahlreichen Besuchen erworbenen Vertrautheit mit den britischen Verhältnissen geprägt, sondern hatte auch einen ganz persönlichen Grund: Seine Frau Victoria kam aus England und war die Tochter der gleichnamigen englischen Königin, die der ganzen Epoche den Namen geben sollte: das Viktorianische Zeitalter. Im Gegensatz zu anderen Töchtern des europäischen Hochadels war Prinzessin Victoria, die Friedrich Wilhelm als Achtjährige bei einem Englandbesuch kennengelernt hatte und die bei ihrer Hochzeit mit dem preußischen Prinzen 17 Jahre alt war, kein unpolitisches Wesen. Ihr Vater, Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, hatte für eine exzellente Erziehung seiner Erstgeborenen gesorgt und ihr in vielen Gesprächen die Vorzüge seiner Wahlheimat Großbritannien deutlich gemacht. Als die Vermählung mit dem neun Jahre älteren Friedrich Wilhelm anstand, beschwor Albert seine Tochter und seinen künftigen Schwiegersohn, die politische Zukunft Deutschlands (das noch nicht unter preußischer Führung geeint war) läge allein in einer dem britischen Vorbild ähnlichen konstitutionellen Monarchie und in der Schaffung und Wahrung demokratischer Grundrechte. Victoria vermisste ihr geliebtes Heimatland nach dem Umzug nach Berlin wohl mehr als je zuvor: Die Aufnahme durch die Hofkreise und durch reaktionäre Politiker wie Bismarck – ihr lebenslanger Intimfeind – war kalt bis feindselig. Für die einflussreichen Kreise sollte sie stets »die Ausländerin«, »die Engländerin« bleiben – selbst für ihren ältesten Sohn, den späteren Kaiser Wilhelm II., der das deutsche Kaiserreich in den Untergang führen sollte. Eine unverbrüchliche Stütze hatte Victoria, im Familienkreis Vicky genannt, allerdings in Berlin: ihren Mann. Friedrich Wilhelm war seiner Frau in einem so hohen Maße ergeben, dass seine vermeintlich submissive Haltung gegenüber »Frauchen«, wie er Vicky nannte, Anlass für hinter vorgehaltener Hand geäußerten Spott bei Hofe war. Für zahlreiche Parlamentarier hingegen, wie für den Wortführer der Liberalen, den Arzt Rudolf Virchow, war diese Anhänglichkeit an die englische Patriotin Grund zur Hoffnung. Es ist eine bemerkenswerte Facette der sich anbahnenden Tragödie, dass gerade Virchow, eine der großen Persönlichkeiten in einer goldenen Epoche medizinischen Fortschritts, in dem Drama um Friedrich Wilhelm eine besonders armselige Figur abgeben sollte.

Der heisere Mann, auf dem so viele Erwartungen ruhten, war indes nicht mehr jene geradezu heroische Gestalt aus den drei Kriegen. Groß gewachsen, mit einem vollen, beinahe blonden Bart und blauen Augen, verkörperte er für viele seiner Landsleute das männliche Herrscherideal der Epoche, wurde mit Siegfried und anderen deutschen Mythengestalten verglichen. Doch der immer noch volle Bart war von Grau durchzogen, und die Herren des Reichstagspräsidiums mochten aus den Zügen des Kronprinzen eine gewisse Müdigkeit, sogar Frustration herauslesen. Denn seine Existenz schien für Friedrich Wilhelm allein darin zu bestehen: zu warten. In diesem Frühjahr stand der Kronprinz im 56. Lebensjahr und wurde an die Langlebigkeit erinnert, die in Monarchien zum Hemmschuh des Wandels werden kann: Seine Schwiegermutter Victoria stand vor dem goldenen Thronjubiläum, und – für Friedrich Wilhelm weit schlimmer – sein Vater, Kaiser Wilhelm I., würde in wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag begehen. Der alte Kaiser, der fünf Attentatsversuche überlebt hatte, schien jede biologische Gesetzmäßigkeit Lügen strafen zu wollen.

Die scheinbar rüstige Gesundheit des Vaters erschien Friedrich Wilhelm schon bald wie bittere Ironie. Denn seit einigen Monaten ließ ihn die eigene Gesundheit im Stich. Im Jahr zuvor, 1886, hatte er eine Maserninfektion überstanden. Danach erschien der Kronprinz manchen Hofbeobachtern nicht mehr von alter Tatkraft zu sein. Im Januar 1887 begannen die Probleme mit immer wiederkehrender Heiserkeit. Der Kronprinz und seine Umgebung zogen Professor Karl Gerhardt von der Charité zu Rate. Der Leiter der medizinischen Klinik – eher Internist als Spezialist für Halserkrankungen – mag etwas Ernstes vermutet haben: »Das Uebel soll unter Erkältungserscheinungen begonnen haben und galt auch im Anfange als katarrhalische Heiserkeit. Jedoch waren in den nächsten Monaten Husten und andere katarrhalische Erscheinungen nicht vorhanden; nur trockene Heiserkeit, und die verschiedenen gegen Katarrhe sonst wirksamen Arzneimittel und Einathmungen waren gänzlich erfolglos geblieben.«2 Der Kronprinz rauchte leidenschaftlich gern Pfeife und Zigarre – die karzinogene Wirkung der in Tabakprodukten...

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