2.3 Oralität
Der traditionelle psychoanalytische Blick richtet sich bevorzugt auf die Triebproblematik der Sexualität und Aggressivität, das Thema der Oralität war stets in Gefahr, übersehen zu werden. Dabei ist das Thema biologisch fundamental. Die Stoffwechselsituation der meisten Tiere und des Menschen ist so, dass sie mehrmals täglich trinken und essen müssen. Bei fehlender Nahrung können vorübergehend Körpersubstanzen, z. B. Muskulatur und Fettdepots abgebaut werden, ehe das Stoffwechselsystem zusammenbricht. Bei fehlender Flüssigkeitszufuhr tritt bereits nach wenigen Tagen der Tod ein. Regelmäßig Nahrung zu finden für sich selbst, für die eigene Gruppe und speziell für die eigenen Nachkommen, war bis zum Beginn der industriellen Nahrungsproduktion ein zentrales Motiv aller Menschen, geleitet von dem Hungergefühl, das rasch quälend werden kann. Regelmäßig satt zu werden war seit jeher ein Privileg für wenige. Die Übrigen mussten das essen, was sie gejagt, angebaut, an Vorräten angelegt oder im Tauschhandel erworben hatten oder sie mussten hungern. Klimawechsel verursachten immer wieder Missernten und aus diesen resultierten Hungersnöte. So war der Mensch die meiste Zeit hindurch das hungrige Tier, das einen großen Teil seiner Zeit damit verbrachte, Essbares zu gewinnen und es zuzubereiten. Das bedeutete mitunter auch, dass um die vorhandenen Nahrungsmittel und Futterplätze gekämpft werden musste, und dass andere um das, was sie haben, beneidet werden konnten. Die orale Triebdynamik ist also geprägt vom hungrigen Habenwollen, vom Neid auf das, was andere haben und von der Gier der Einverleibung im wörtlichen und übertragenen Sinne.
Suchttendenzen
Es kann im Sinne einer neurotischen Entwicklung geschehen, dass das Sichaneignen und Sicheinverleiben keine satte Zufriedenheit, kein Genughaben erzeugt, sondern die Gier verstärkt, sodass immer mehr erstrebt und verschlungen werden muss. Orale Bedürfnisse können Ersatz werden für fehlende Zufriedenheit, Selbstbewusstsein und Gefühl des Geliebtwerdens. Das gierige Essen steht für das Auffüllen der Leere, für die Beruhigung der Affektspannung, wie es z. B. bei der Bulimie der Fall ist. Dadurch gewinnt das Geschehen suchtartige, selbststimulierende und selbstschädigende Züge. Oralität hat auch eine explizit aggressive Komponente. Im menschlichen Zusammenleben wurde dieser Aspekt von Gefräßigkeit mehr und mehr durch kulturelle Regeln überformt, die das Essverhalten bestimmen. N. Elias (1976) beschreibt, wie dieser Zivilisationsprozess hierzulande im späten Mittelalter einsetzt, also erst vor vergleichsweise kurzer Zeit in Kraft gesetzt wurde.
Hier und heute geht es in den westlichen Ländern nicht mehr primär um die Nahrungssuche im wörtlichen Sinne, aber nach wie vor ist Oralität ein zentrales Motiv. Im gesellschaftlichen Zusammenhang ist die Rede von der „Gier der Märkte“. Hier hat der Hunger nach immer größeren Gewinnen zu krisenhaften Entwicklungen und massiven Einbrüchen des wirtschaftlichen und sozialen Systems geführt. Da das Konsumieren, speziell das sich steigernde Konsumverhalten der Bevölkerung einen Motor unserer wirtschaftlichen Entwicklung darstellt, muss die Werbung das ständige Gefühl des Habenwollens stimulieren. Sie suggeriert dem potenziellen Kunden: „Das will ich haben, das hole ich mir.“ Die Möglichkeit, jederzeit Kredit zu haben, um orale Wünsche zu befriedigen, wurde durch die Einführung der Scheckkarte eröffnet. Das führte bekanntlich dazu, dass viele Menschen ständig Dinge für Geld erwerben, das sie gar nicht haben, und dass sie nach ihrer Insolvenz wieder dort ankommen, wo die orale Dynamik ihren Ausgang nahm. Maaz (2013) sieht in dieser Tendenz, über die eigenen Verhältnisse zu leben und Schulden zu machen, den Ausdruck einer die Gesellschaft beherrschenden narziss- tischen Gier. Hier wird die Oralität, wie bei allen Arten der Sucht, missbraucht, um andere Bedürfnisse zu stillen.
Mittlerweile ist das gesellschaftliche Leben untergründig stark durch orale Kategorien determiniert, Gewinn und Verlust werden ständig gegengerechnet: Was kostet Genuss, was kostet Gesundheit, was kostet Mobilität, was kostet Altersbetreuung? Alles soll möglichst wenig kosten und denen, die dort investieren, möglichst viel Gewinn einbringen.
Die orale Dynamik wird oft als solche nicht gesehen, sie ist weniger spektakulär als die offene Aggressivität, aber ihre langfristige Destruktivität ist erheblich. Letztlich führt die gierige Haltung des „Je mehr desto besser“, das heißt die Maßlosigkeit bei einzelnen Menschen und Gesellschaften, zu selbstdestruktiven Prozessen. Eigentlich würde der Umgang mit oralen Bedürfnissen die Fähigkeit des Maßhaltens, der vorausschauenden Planung und des Einteilens erfordern, nicht selten auch die Notwendigkeit des Verzichtens, aber diese Vorstellungen sind in der aktuellen Wertewelt kaum repräsentiert.
Aus Anlass einer der vielen Lebensmittelskandale, der letztlich auch wieder auf betrügerische Gewinnmaximierung in der industrialisierten Lebensmittelwirtschaft zurückgeht, verweist eine Glosse in der FAZ auf den Wunschtraum nach oraler Unmittelbarkeit (R. Bingener, FAZ 23.02.13): „In einer Zeit, da weder die Erlösung noch künftige Rentenzahlungen sicher scheinen und sich auch das Denken als fehlbar und manipulierbar erwiesen hat, besinnt sich der Mensch auf das Naheliegendste: auf sein Essen … Scheint es doch mittlerweile für viele Menschen kaum Erfüllenderes zu geben, als hingebungsvoll zu dünsten, zu blanchieren und zu karamellisieren … mit der Evidenz einer Mousse au Chocolat, kann es selbst der Satz des Pythagoras nicht aufnehmen … Die Küche ist ein warmer Kachelofen für die Seele.“ Freilich ist, so zeigt der Autor auf, die regressive Sehnsucht nach einer guten, unverfälschten Oralität des Essens unerfüllbar unter den Bedingungen einer globalisierten Nahrungsmittelindustrie, in deren schwer überschaubaren Ablaufketten sich immer wieder einzelne Produzenten finden, die ihren Hunger nach überhöhten Gewinnen dadurch stillen, dass sie den Verbrauchern billige, schlechte, manchmal auch gefährliche Substanzen in die Nahrung mogeln (z. B. Hormone und Antibiotika ins Fleisch, Chemikalien ins Milchpulver, Glykol in den Wein, Industrieöl in das Speiseöl). Verglichen damit ist die Lasagne vom gedopten Reitpferd noch relativ harmlos.
Das Geschenk
Oralität bezeichnet im passiven Sinne den Wunsch, etwas zu bekommen, vorzugsweise als Geschenk, das überrascht und erfreut. In unserer Kultur gilt Weihnachten als ein Fest, bei dem einer versucht, dem anderen etwas zu schenken, das ihm Freude macht. Das zu realisieren war zu Zeiten des allgemeinen Mangels leichter als in der Gegenwart des Konsumzwangs. Die Winterzeit um Weihnachten herum markierte früher eine Zeit des Mangels; in der dunklen Jahreszeit fehlte es an Licht, ebenso an frischen Nahrungsmitteln und an ausreichender Wärme. Die vorchristlichen Feste und das christliche Weihnachten inszenierten die Hoffnung auf ein neues Leben. Die Weihnachtsgeschichte versinnbildlicht, wie auch unter kärglichen Bedingungen neues Leben zustande kommt, wie die Kräfte der Natur – Ochs und Esel – die einfachen Menschen – die Hirten – sowie die übernatürlichen Kräfte – die Sterne, die Magier – zusammenwirken und das bedrohte Leben des Neu- geborenen schützen. Das ist der Hintergrund, vor dem sich Familien an Weihnachten zu einem Ritual zusammenfinden. Sie zünden Lichter an, versichern sich ihres Zusammengehörigkeitsgefühls, indem sie versuchen, sich wechselseitig zu beschenken. Sie tun das oft in einem zeremoniellen Rahmen, der von früheren Generationen übernommen ist, in einer bestimmten Abfolge von Liedern, Speisen, Getränken, Ansprachen, Gebeten, Erinnerungen an verstorbene Mitglieder. Eigentlich haben die Geschenke symbolischen Charakter, sie sollen ausdrücken, dass dem Beschenkten etwas zuliebe getan wird. So ist Weihnachten für viele ein schönes Familienfest, aber es ist deutlich störanfällig. In der konsumorientierten Gegenwart ist aus der symbolischen Geste des kleinen Geschenks eine Verpflichtung zu umfangreichen teuren Transaktionen geworden, insbesondere werden die wenigen Kinder durch zahlreiche Erwachsene mit Bergen von Geschenken versehen. Das eigentliche Ritual der Bewältigung einer kargen Zeit hat seinen Sinn verloren. Licht ist reichlich da, Essen und Trinken steht immer zur Verfügung, Kleidung ebenfalls. Es ist kaum möglich, eine Inszenierung zu schaffen, die deutlich über das Übliche hinausgeht. Mit dem Wegfall der christlichen Tradition ist auch der Bezug zum Sinn des Festes verloren gegangen, sodass das Ritual leerläuft. Es ist eines von vielen Festessen im Laufe des Jahres, schlimmstenfalls sogar eine von zahlreichen Weihnachtsfeiern, die zwischen Oktober und Dezember verpflichtend abgehalten werden. Die ursprüngliche symbolische Bedeutung des neugeborenen Kindes und der Wunscherfüllung der Kinder in der Geborgenheit der Familie gibt dem Fest freilich einen regressiven Sog, der die Kindlichkeit in jedem Menschen, oft auch in den Erwachsenen anspricht, seine Bedürftigkeit, seine unerfüllten Sehnsüchte, bezogen auf familiäre Geborgenheit weckt. Das Unerledigte, das hier bereitliegt, wird gerade durch die Massen der Konsumartikel nicht besänftigt, sondern verstärkt wachgerufen. Kaum ein Fest ist so anfällig für Familienstreitigkeiten wie Weihnachten mit seinem Anspruch auf familiäre Harmonie. Keine andere Jahreszeit ist für Psychotherapeuten so anstrengend wie die Vorweihnachtszeit mit ihrer Häufung von depressiven Enttäuschungsreaktionen. Zufriedenheit erlangt am ehesten der Einzelhandel, der einen wichtigen Teil seines Jahresumsatzes bei dieser...