Heia Safari!
Die Mär vom deutschen Kolonialidyll
Das Buch lag ganz oben in der grünen Holzkiste. Auf dem sandgelben Deckel war eine unheimliche Gestalt abgebildet, ein schwarzer Soldat mit grimmiger Miene, der sich in leicht geduckter Haltung auf seinen Karabiner stützt und mit ausgestrecktem Arm in die Ferne deutet. Darunter stand in kräftigen Lettern »Heia Safari!«. Ich las den Namen des Autors, der mir, dem zehnjährigen Jungen, wenig sagte: Paul von Lettow-Vorbeck. Ich wusste nicht, dass ich die afrikanischen Abenteuergeschichten des berühmtesten deutschen Kolonialkriegers in der Hand hielt.
Abenteuer Afrika: Die Erinnerungen des Kolonialkriegers Paul von Lettow-Vorbeck
In der Kiste, die ich zwischen dem Gerümpel auf dem Dachboden unseres Bauernhofes entdeckte, hatte mein 1958 verstorbener Großvater Bartholomäus seine kolonialhistorische Hinterlassenschaft aufbewahrt: Bücher, Broschüren, Festschriften, Erinnerungsstücke. Die meisten Werke waren viel zu komplex, um sie in meinem Alter verstehen zu können, aber die Titel schlugen mich gleich in ihren Bann. »Volk ohne Raum« stand da in Frakturschrift. Oder »Peter Moors Fahrt nach Südwest«. Ein Buch hieß »Wir ritten für Deutsch-Ostafrika«. Darunter lagerten Stapel von teilweise zerfledderten Groschenheftchen aus der Reihe »Kolonial-Bibliothek«; auf den Deckblättern waren furchterregende Szenen zu sehen, weiße Männer in khakibraunen Uniformen, die mit Krokodilen kämpften, brüllende Buschkrieger, Karawanen von Sklavenjägern. Zwischen den Druckerzeugnissen fand ich eine mit winzigen Muscheln und Perlmutt verzierte Schatulle und das feuerrote Gehäuse einer faustgroßen Flügelschnecke. Ich hielt es ans Ohr und konnte das Rauschen des Indischen Ozeans hören. Mehr als alle anderen Fundsachen aber hat mich der Erzählband »Unter Wilden und Seeräubern« des Jugendschriftstellers Ludwig Foehse begeistert; er schilderte das gefahrvolle Leben in der Fremde, und die Orte, die darin auftauchten, wirkten auf mich wie Zauberformeln: Sansibar. Bagamoyo. Serengeti. Kilimandscharo.
An diesen unendlich langen Kindheitsnachmittagen auf dem Dachboden betrat ich eine untergegangene Welt: das deutsche Kolonialreich, dem mein Großvater bis zu seinem Tod nachgetrauert hatte. Der alte Grill, geboren 1895, war ein leidenschaftlicher Anhänger der Kolonialbewegung, die in der Weimarer Republik für die Rückgabe der deutschen Kolonien kämpfte und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte. Eine richtige Weltmacht musste schließlich überseeische Besitzungen haben, so wie Frankreich oder das Vereinigte Königreich. Die Revisionisten sprachen von der »kolonialen Schuldlüge«, sie empfanden es als tiefe Schmach, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs den Deutschen die moralische Eignung als Kolonialherren abgesprochen und ihnen die »Schutzgebiete« in Afrika, China und der Südsee weggenommen hatten – sie hätten aufgrund des Missmanagements und der Misshandlungen der Bevölkerung das Recht darauf verwirkt, stand im Friedensabkommen, das am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles unter Protest der Unterhändler aus Berlin besiegelt wurde. Großvater konnte die entsprechende Mantelnote und den Artikel 119 des Vertrags auswendig hersagen. Die Kolonien waren Deutschland quasi amputiert worden, mein Opa litt wie viele seiner nationalistisch gesinnten Zeitgenossen an einer Art Phantomschmerz. Doch in seinen Vorstellungen lebte das kaiserliche Großreich fort, und er sammelte alles, was die imperialen Sehnsüchte nährte. Auch mein Vater, Jahrgang 1928, sprach bis ins hohe Alter vom »Schandfrieden von Versailles«. Schon als fanatischer Hitlerjunge hatte er inständig gehofft, dass der »Führer« die verlorenen Gebiete zurückerobern würde.
So wuchs auch ich im kindlichen Glauben auf, dass das alte Kolonialreich noch immer existierte. Wie heißt der höchste Berg Deutschlands? Fragte mich der Vater. Die Zugspitze? Falsch! Vielleicht der Großglockner? Auch falsch, dummer Bub! Es die Kaiser-Wilhelm-Spitze, international bekannter unter dem Namen Kilimandscharo. Die kolonialen Besitztümer konnten also in meinen Augen keine Illusion sein. Außerdem gab es in unserem Dorf einen Lebensmittelladen, über dessen Schaufenster »Kolonialwarenhandlung« stand. In der »Buschtrommel«, einer Jugendzeitschrift der katholischen Mission, las ich fesselnde Geschichten aus Afrika. Und in der Adventszeit sammelten wir Spenden für die »armen Negerlein«. Irgendwie waren wir für ihre Länder nach wie vor zuständig, dachte ich. Und dann die sensationelle Entdeckung auf dem Dachboden! Sie weckte eine unstillbare Sehnsucht nach Afrika, nach diesem wundersamen, aber auch unheimlichen Kontinent, von dem ein Teil, wenn auch nur ein kleiner, einmal deutsch gewesen war.
Die Sehnsucht sollte mich nie wieder loslassen und meine berufliche Zukunft vorherbestimmen: Ich wurde Korrespondent in Afrika, reiste dreißig Jahre lang kreuz und quer durch den Erdteil und stieß immer wieder auf Spuren der deutschen Kolonialzeit. Sie waren stumme Zeugen einer angeblich glorreichen Epoche, und von Anfang an fiel mir auf, dass die Afrikaner und Afrikanerinnen in dieser Erzählung keine Stimme hatten. Sie waren sprachlos wie der tragische Held in »Foe«, einem Roman von John Maxwell Coetzee. Der südafrikanische Literaturnobelpreisträger hatte »Robinson Crusoe«, einen Klassiker der Aufklärung, umgeschrieben; in seiner Version war Freitag die Zunge abgeschnitten worden, er konnte seine Geschichte nicht mehr erzählen. Der weiße Mr. Foe (das bedeutet im Englischen »Feind« und ist eine Anspielung auf Daniel Foe, der seinen Namen durch ein Adelsprädikat veredelt hatte) sagte in einem Anfall von Schuld und Reue: »Wir müssen Freitags Stimme zum Sprechen bringen und die Stille, die Freitag umgibt.« Das Abschneiden der Zunge war eine Grausamkeit, die auf den Baumwollplantagen im Süden der USA bis ins 20. Jahrhundert praktiziert wurde. Und bis heute liegt ein gespenstisches Schweigen über den Verbrechen, die wir, der weltbeherrschende Westen, den Afrikanern und anderen Völkern angetan haben. Landraub? Unterdrückung? Mord und Terror? Institutionalisierter Rassismus? War da was? Kolonialismus – was ist das überhaupt? In einem deutschen Lexikon der historischen Grundbegriffe sucht man diesen Terminus vergeblich.
In den Nachkriegsjahren erschien die deutsche Kolonialära als kurze und vergleichsweise harmlose Episode, und dass sie so früh endete, wurde als historischer Glücksfall gesehen: Deutschland hatte einfach zu wenig Zeit, um größeren Schaden anzurichten. In der Bundesrepublik war die Mehrheit ohnehin damit beschäftigt, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdrängen oder zu leugnen, und selbst die wenigen kritischen Geister nahmen die koloniale Epoche nur oberflächlich wahr, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der Nazi-Barbarei verstellte auch ihren Blick auf die dahinterliegende Zeit. Erst ein 1966 ausgestrahlter Dokumentarfilm von Ralph Giordano sollte die Legende entzaubern, dass die Deutschen eigentlich gute und anständige Kolonialisten gewesen waren. Die Empörung der Ewiggestrigen war groß, und sie wurde noch größer, als die 68er-Studentenbewegung mit den restlichen Mythen aufräumte: Sie prangerte das koloniale Unrecht an, verurteilte den Neokolonialismus und unterstützte Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, von Vietnam bis Mosambik.
Auch ich verteilte in den frühen 1970er-Jahren Flugblätter der maoistischen »Liga gegen den Imperialismus«, meine Heroen hießen Ho Chi Minh, Che Guevara, Amilcar Cabral, Julius Nyerere und Nelson Mandela. Die Unterdrückten dieser Erde hatten sich erhoben und waren zu Vorboten der erträumten Weltrevolution geworden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass unsere grenzenlose Solidarität nicht nur den Blick auf die Verbrechen im Namen des Freiheitskampfes verbaute, sondern auch auf die Wiederkehr kolonialer Machtstrukturen: Die schwarzen Herren sprangen nach der Unabhängigkeit ihrer Staaten in die Seidenbetten und Schwimmbäder der weißen Herren und plünderten ihre Völker genauso aus wie diese, schreibt Frantz Fanon, der Vordenker des antikolonialen Widerstands.
Unsere Historiker trugen zunächst wenig zu einem besseren Verständnis des Kolonialismus und seiner politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und mentalen Langzeitwirkungen bei. Das liegt sicherlich auch daran, dass diese Epoche fast ausschließlich von weißen europäischen Männern analysiert wurde. Mittlerweile liegen zwar einige kritische Werke vor, die eine andere Perspektive abbilden – Fallstudien aus einzelnen Ländern, mikrohistorische Untersuchungen, Befragungen von Zeitzeugen im Rahmen der Oral history, Abhandlungen über die Ursprünge des Rassismus oder den kolonialen Blick. Aber die meisten Standardwerke zur Geschichte des deutschen Kolonialismus bewegen sich in den alten eurozentrischen Deutungsmustern. Manchmal wirken diese sogar in Rückschauen nach, die aufklären wollen. Ein Beispiel lieferte die eigentlich recht lehrreiche Kolonialismus-Ausstellung, die 2016/17 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen war: Im Fachbeirat saß kein einziger Afrikaner, nur zwei Curators-in-Residence aus Tansania und Namibia durften ein bisschen mitgestalten.
In unserer geschichtsvergessenen Gegenwart ist die Kolonialära nur einer von vielen blinden Flecken. So konnte sich auch die Mär vom deutschen Kolonialidyll und von den Zivilisationsleistungen unserer Vorfahren halten. Hören wir dazu Aimé Césaire, den großen afrokaribisch-französischen Poeten: »Man erzählt mir vom Fortschritt und geheilten Krankheiten. Ich...