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DANIEL MILLER
Facebook und die Folgen
[…] Die meisten Menschen fühlen sich in Gegenwart von Unbekannten befangen, weil sie nicht wissen, wie diese auf ihre Worte oder Taten reagieren werden. In dieser Hinsicht bietet sich Facebook gewissermaßen als Puffer an. Auf Facebook können wir einiges über potentielle Bekannte in Erfahrung bringen, ohne uns der Unbehaglichkeit eines direkten Kontakts auszusetzen. Bei sich anbahnenden Liebesbeziehungen ist die Gefahr von Peinlichkeiten und Mißverständnissen sogar noch größer. Das liegt unter anderem an unserer Erwartung, daß sich beide Beziehungspartner etwa in gleichem Maße engagieren müssen. Zahllose Romane und Filme handeln von den Problemen, die es mit sich bringt, wenn einer mehr will als der andere oder jemand das Interesse des anderen überschätzt. Auf Facebook können wir uns über den anderen informieren, bevor wir entscheiden, ob wir uns auf eine Beziehung mit ihm einlassen. Dabei bleiben wir in der Regel anonym, und der Betroffene erfährt nicht das Geringste. […] Auch für die Pflege bestehender Beziehungen ist Facebook nützlich, weil man sich vor jedem Wiedersehen über wichtige Lebensdaten oder aktuelle Geschehnisse im Leben des anderen informieren kann und die Peinlichkeit vermeidet, nicht über seine Angelegenheiten auf dem laufenden zu sein.
Das Internet hatte sich bereits vor Facebook zu einer riesigen Dating-Agentur entwickelt. Einige der wichtigsten webbasierten sozialen Netzwerke, etwa Friendster, wurden eigens für solche Zwecke errichtet. Daß [man sich] im Web stets möglichst fit und sexy präsentiert, liegt an dem Wissen, daß jede(r) potentielle Liebhaber(in) einen Blick auf ihr Facebook-Profil werfen wird. […] Unabhängig von seiner aktuellen Beziehung träumt doch jeder Mensch davon, sich zu »verbessern«.
Viele Autoren, die sich mit Facebook auseinandersetzen, kreisen unermüdlich um die müßige Frage, ob Facebook-»Freunde« nun echte Freunde sind oder nicht. Dabei übersehen sie großzügig, daß wir auch in der analogen Welt alle möglichen Leute als [15] »Freund von mir« bezeichnen, ohne das Wort auf die Goldwaage zu legen.1 Tatsächlich ist niemand so dämlich, seine 700 Facebook-Freunde für enge Vertraute zu halten. Wie ein gut belegter Aufsatz zeigt, steigt das Ansehen von College-Studenten unter ihresgleichen, je näher sie der Zahl von 302 Facebook-Freunden kommen, um dann jedoch wieder zu sinken.2 In welchem Maß Facebook-Freunde aneinander Anteil nehmen, ist vollkommen unterschiedlich. Selbst enge Freunde, die man immer nur zusammen sieht, tauschen sich unter Umständen regelmäßig zusätzlich über ihre »Pinnwände« aus und sind dann eben auch beste Facebook-Freunde. Bei anderen ist die »Freundschaft« allein der Absicht geschuldet, die Gesamtzahl der Freunde hochzutreiben, und beschränkt sich dann auch genau darauf. Allerdings haben die Nutzer schnell begriffen, daß man auf Facebook auch neue, rein »virtuelle« Freunde finden kann, deren Bekanntschaft man allein über Postings macht. Man tauscht Mitteilungen aus, begegnet sich aber nie außerhalb des Netzwerks. Als ich bei Facebook anfing, nahm ich zunächst alle Freundschaftsanfragen ehemaliger Studenten an, was ich dann rasch wieder sein ließ. Von diesen frühen Facebook-Freunden kenne ich allerdings einige inzwischen besser als zu der Zeit, als sie noch studierten. Dennoch rechne ich nicht damit, ihnen in der analogen Welt wiederzubegegnen. Ich glaube, es ist uns allen schlichtweg egal, ob man das als »Freundschaft« bezeichnen kann oder nicht.
Der Grund für das Vorherrschen solcher Debatten ist womöglich mehr als nur semantische Pedanterie. In Gesprächen über Facebook stößt man immer wieder auf einen Topos, der Innovationen der Moderne regelmäßig begleitet: die Furcht, daß alles immer oberflächlicher wird, daß in diesem Fall Facebook eine Inflation herbeiführt, die dem Wert wahrer Freundschaft abträglich ist. Ich sehe keine Indizien dafür, es scheint mir eher so, daß gute Freunde ihren Kontakt über die Seite intensivieren. Daß [16] die vielen neuen Facebook-Freundschaften keinen Verlust an Qualität bedeuten, ließe sich durch die Effizienzgewinne erklären, die uns das Netzwerk ermöglicht. Dank Facebook können wir unsere Freundschaften jederzeit und überall pflegen, ohne großen Zeitaufwand. Wahrscheinlich ist es tatsächlich ein Zeichen tiefer Bindung, wenn man zwei Stunden mit dem Auto fährt, um jemanden zu treffen. Allerdings spricht es für ein noch engeres Verhältnis, wenn man diese zwei Stunden für die direkte Kommunikation via Instant Messenger nutzt und ein Gespräch über Beziehungsprobleme oder die jeweiligen Aktivitäten führt, anstatt im Stau zu hocken, um sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Mehrere ethnographische Feldstudien deuten an, daß neue Kommunikationstechnologien signifikante Auswirkungen auf Paarbeziehungen haben. So hat das Mobiltelephon, das unbelauschte Gespräche erleichtert, auf Jamaika vermutlich zu einer Zunahme illegitimer bzw. multipler sexueller Affären geführt und deren Entdeckung unwahrscheinlicher gemacht,3 was wohl eine der signifikantesten Folgen der Ausbreitung dieser Technologie ist. Obwohl sich Facebook ebenfalls für geheime Verabredungen nutzen läßt, legen die Ergebnisse meiner Studie auf Trinidad nahe, daß es vorwiegend den gegenteiligen Effekt hat. Man kann beim Ausgehen jederzeit von jemandem photographiert werden, der das Bild anschließend auf Facebook stellt. Die meisten meiner Gesprächspartner wußten von Freunden zu berichten, die auf diese Weise in Schwierigkeiten geraten waren. Ich vermute, daß die Zahl illegitimer bzw. multipler sexueller Verhältnisse auf Trinidad inzwischen rückläufig ist, weil es viel schwieriger ist, diese vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Demnach würde Facebook auf diesem Gebiet erschweren, was das Mobiltelephon erleichterte.
Allerdings können bestehende Beziehungen durch diese neue Form von Öffentlichkeit auch gefährdet werden […]. Hauptsächlich weil sie nachvollziehbar macht, welche Bekanntschaften der [17] eigene Partner sonst noch pflegt. Auf Facebook kann man ihm ungestört nachspionieren, wie mir eine Teilnehmerin der Studie bestätigte: »Man guckt regelmäßig auf seinem Profil nach. Also, gestern waren es 147 Freunde, jetzt sind es 148, wer ist denn dazugekommen? Das kann echt zwanghaft werden. Ich versuche, mich zurückzuhalten, aber es ist schwer, wenn man es direkt vor Augen hat. Ich glaub sogar, daß sich manche absichtlich mit dem Partner von jemandem anfreunden, weil Trinis* stehen nun mal auf bacchanal und Chaos und daß man die Beziehung von jemandem kaputtmachen kann, auch wenn man den Typen gar nicht haben will. Das ist echt mies, finde ich.«
Facebook löst dieses Verhalten ihrer Ansicht nach zwar nicht aus, verstärkt aber dessen negative Folgen für bestehende Beziehungen.
Zur Rolle, die das Netzwerk beim Zerbrechen von Beziehungen spielt, verweise ich schließlich auf Ilana Gershons jüngst erschienene Studie Breakup 2.0. 4 Gershon zeigt im Detail, wie amerikanische Studenten Beziehungen unter Verwendung neuer Medien wie Facebook beenden. Daraus erhellt erstens, daß Facebook nicht nur für Trennungen genutzt wird, sondern auch deren Ablauf durch das erhöhte Maß an Öffentlichkeit verändert; zweitens, daß die Betroffenen anders reagieren, wenn sie von der Trennung via Facebook statt in einem direkten Gespräch oder per Telephon erfahren, und drittens, daß sie aufgrund der relativen Neuheit des Netzwerks äußerst unsicher sind, wie sie eine Trennung via Facebook interpretieren sollen, was die Gefahr von Mißverständnissen in einer ohnehin sensiblen Situation noch erhöht.
[…]
Wäre es möglich, daß viele User Facebook nicht zur Anbahnung von Freundschaften benutzen, sondern umgekehrt ihre Freunde als Mittel betrachten, um eine Beziehung zu Facebook aufzubauen? Wäre es möglich, daß jemand in die Rubrik [18] Beziehungsstatus »Verheiratet mit Facebook LOL« einträgt? Die Kulturkritik wird nicht müde zu beteuern, daß wir in einer Epoche des Materialismus und Fetischismus leben, in der Beziehungen zu Dingen an die Stelle von Beziehungen zu Menschen treten. Das beschreibt die Welt, in der wir leben, aber nur sehr oberflächlich. […] [D]ie Kultur [dient] aus ethnologischer Sicht keineswegs dazu, die Beziehungen zwischen Menschen zu erleichtern. Sondern es sind umgekehrt die Beziehungen zwischen Menschen, etwa unter angeheirateten Verwandten, die die Kultur voranbringen. Folglich wäre eine Beziehung zu einem Ding namens Facebook nicht notwendig weniger wert als eine Beziehung zu einem Menschen.
Da Facebook ein soziales Netzwerk ist, würde es innerhalb einer solchen Beziehung gewissermaßen als bester Freund auf Metaebene fungieren. In populären Fernsehserien wie Sex and the City wird der beste Freund als jemand dargestellt, an den man sich wendet, wenn man einsam, deprimiert oder gelangweilt ist. Ein solcher bester Freund wird sich nicht daran stoßen, daß ich ihn beim Essen störe oder von etwas anderem abhalte, weil er merkt, daß es mir bessergehen wird, wenn ich mit ihm über das sprechen kann, was mich umtreibt. In dieser Hinsicht zeichnet sich Facebook durch totale Zuverlässigkeit aus. Selbst um drei Uhr nachts, wenn sich auch mein allerbester menschlicher Freund eine Störung verbittet, ist Facebook für mich da. Ich kann mit anderen Menschen in Verbindung treten, um...