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Wofür es sich zu leben lohnt

Elemente materialistischer Philosophie

AutorRobert Pfaller
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104010885
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein Leben, welches das Leben nicht riskieren will, beginnt unweigerlich, dem Tod zu gleichen. Unsere Kultur hat sich den Zugang zu Glamour, Großzügigkeit und Genuss versperrt - wir vermeintlich abgebrühten Hedonisten rufen schnell nach Verbot und Polizei, beim Rauchen, Sex, schwarzen Humor oder Fluchen. Alles Befreiende oder Mondäne dieser Praktiken geht dabei verloren. Robert Pfaller untersucht in seinem neuen Buch, warum es so gekommen ist und was sich dahinter verbirgt. In Analysen u.a. zum pornographischen Pop, zum schmutzigen Frühling, zu Tischmanieren, zu »meinem« Geschmack und zum Scheitern entlarvt er die aktuellen Tendenzen der Kultur und benennt ihren politischen Preis.

Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und ist nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Von 2009 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. In den Fischer Verlagen ist von ihm »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur« (2008) erschienen, die vielbeachtete Studie »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie« (2011), »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere« (2012) sowie im Fischer Taschenbuch »Kurze Sätze über gutes Leben« (2015). Mit Beate Hofstadtler hat er außerdem den Band »After you get what you want, you don't want it. Wunscherfüllung, Begehren und Genießen« (2016) herausgegeben. Nach »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur« (2017) erschien 2020 »Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form«. 2020 wurde ihm der Paul-Watzlawick-Ehrenring verliehen.

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Leseprobe

2. Was uns das vergessen lässt


1.


In einer neoliberalen Gesellschaft, in der alles, wofür es sich zu leben lohnt, zum Objekt aggressiver Aneignungsversuche durch exklusive Minderheiten wird, sind naheliegenderweise auch die kollektiven Genussressourcen Objekte solcher asozialer Begierde. Es wäre aber wohl unmöglich, sie der breiten Mehrheit einfach gewaltsam zu entziehen. Wie die meisten übrigen Beraubungen muss auch diese listig bewerkstelligt werden – das heißt: so, dass die Beraubten ihre Beraubung nicht als solche, sondern vielmehr sogar als ihre Befreiung wahrnehmen. Dann sind sie nicht nur bereit, sie hinzunehmen, sondern setzen sich sogar noch aktiv für sie ein. An diesem Punkt werden die rechten Oberschichtsinteressen der Privatisierung gestützt von scheinbar linken – oder wenigstens sich selbst als emanzipatorisch begreifenden mittelständischen Ideologien. Diese Allianz ist bezeichnend für fast alle Erscheinungsformen neoliberaler Ökonomie: Alle diese elitären materialistischen Inbesitznahmen gesellschaftlicher Bestände sind zu ihrer Durchsetzung angewiesen auf die Beihilfe einer vermeintlich auf Gerechtigkeit ausgerichteten, idealistischen postmodernen Ideologie.[16]

Eine Form solcher List besteht nun darin, die Gebote des Feierns nicht als Lustressourcen, sondern vielmehr als heteronome Zumutungen zu charakterisieren. Die Individuen würden sich, wenn sie sich solchen Imperativen anvertrauten, doch nur von ihrem Eigensten entfernen. Sie rezipierten dann zum Beispiel nicht die Kunst ihrer identitären Gemeinschaft, sondern eine fremdere, gesellschaftlich anerkannte, von der vorherrschenden Gruppe geprägte. Sie wären in solchen Momenten nicht authentisch, sondern spielten eine nicht von ihnen selbst gewählte Rolle, zur Freude und zum Nutzen für jemand anderen – zum Beispiel machten sich die Frauen nur für die Männer schön; oder die jungen Leute benähmen sich nur für die älteren manierlich etc. Sie alle folgten dann nicht ihren eigenen, spontanen Impulsen, sondern vielmehr einem fremden Befehl zu angepasstem Benehmen. Mit dem postmodernen Hip-Hop-Refrain »Be Yourself« bringt die neoliberale Interessenslage die zu beraubenden Individuen dazu, alles Ichfremde an sich selbst abzulehnen und ihre Lustressourcen abzustoßen.

2.


Wer immer ihnen das Lustprinzip in der Kultur nahebringt und sie damit zu geteilter Lust einlädt, wird von ihnen nun fälschlich als despotischer, obszöner »Urvater« wahrgenommen, der völlig eigennützig und auf ihre Kosten genieße.[17] Jeder Universitätslehrer, der ihnen von Weltliteratur erzählt, wird als Agent einer überkommenen eurozentrischen, weißen, heterosexuellen Matrix perhorresziert. Jede Raucherin, die ihnen durch elegantes Benehmen angenehm und, indem sie ihnen vielleicht eine Zigarette anbietet, großzügig sein möchte, erscheint ihnen als gewalttätige Imperialistin eines obszönen Genießens, die ihre private Obsession in der Öffentlichkeit ausbreitet und damit nicht allein die Gesundheit der anderen bedroht, sondern auch deren seelische Reinheit und Lust-Autonomie, das heißt: deren narzisstische Integrität. Mit anderen Worten – sie scheint diejenige zu sein, die nun phallisch und urvaterhaft ihnen ihr (ansonsten als problemlos möglich imaginiertes) Genießen unterbindet. Der gesellige Altruismus mutet als rücksichtsloser Egoismus an; die weltläufige Überwindung von Intimität als Vergewaltigung durch fremde Intimität. Gerade das Angebot von Zivilisiertheit erscheint als ultimative, brutale Barbarei.

3.


Aus psychoanalytischer Sicht besteht diese Fehlwahrnehmung darin, dass anonyme Einbildung als die eigene Einbildung des Anderen aufgefasst wird: Das zivilisierte »als ob«, die Ausrichtung des Schauspiels auf den virtuellen naiven Beobachter, erscheint als selbstbezogene narzisstische Passion des Anderen, als volles Aufgehen in purer eigener Einbildung.[18] Gerade das, was die Loslösung vom Narzissmus repräsentiert, wird hier als dessen Inbegriff wahrgenommen – und als Vereitelung von jeglicher Möglichkeit der Loslösung. Diese Angst vor dem Genießen des Anderen beschäftigt im Moment eine erstaunliche Zahl von Menschen – mehr als die Suche nach ihrem eigenen Glück. Diese Angst kann wohl als die vorherrschende Form postmoderner Affektorganisation bezeichnet werden. Dies lässt es notwendig erscheinen, einige Überlegungen über den klassischen Namen dieser Angst, den Neid, anzustellen (s. dazu unten, Abschnitt 2 in diesem Band).

Darüber hinaus zeigt dieses Phänomen eine aufschlussreiche Abfolge von Einbildungen: Zunächst erscheint das zivilisierte »als ob« der anonymen Einbildung – etwa in Form höflichen Verhaltens, eleganten Auftretens oder kultivierten Gebrauchs einfacher Genussmittel. Im nächsten Schritt wird diese anonyme Einbildung, wie gesagt, einer Fehlwahrnehmung unterzogen; sie wird als eigene Einbildung des Anderen gedeutet, wodurch man diesem Anderen ein ungeteiltes, volles Genießen unterstellt. Aber diese Fehldeutung sieht nicht nur etwas Eingebildetes beim Anderen; sie ist auch selbst etwas, und zwar sogar etwas Wirkliches: eine Angst, eine Panik, eine zu hastigem Agieren treibende Besessenheit. Wir möchten für sie die Bezeichnung »paranoische Einbildung« vorschlagen. Die Fehlwahrnehmung anonymer Einbildung führt also zum Trugbild eigener Einbildung beim Anderen, und zur Paranoia bei den Wahrnehmenden selbst. Die paranoische Einbildung aufseiten der Massen begünstigt die charakteristischen, ständig unter dem Vorzeichen der Dringlichkeit auftretenden Sofortmaßnahmen aktueller Pseudopolitik.

4.


Politisch handelt es sich bei dieser Struktur gesellschaftlicher Affektorganisation um negative Hegemonie.[19] Es verhält sich genau umgekehrt zu den Fällen klassischer, »positiver« Hegemonie, wie Antonio Gramsci sie vor Augen hatte: Dort brachte eine herrschende Klasse alle übrigen auf ihre Seite, indem sie ihre partikularen Interessen als allgemeine Interessen der Gesellschaft darstellte (zum Beispiel den Imperialismus, von dem nur die Bourgeoisie profitierte, als nationale Angelegenheit). Heute ist es, wie gesagt, genau umgekehrt: Es ist den Profiteuren der aktuellen Umverteilungen gelungen, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft als bloße Partikularinteressen der herrschenden Klassen darzustellen (z.B. Menschenrechte, Bildung, Zivilisiertheit etc. als bloß weiße, europäische, männliche, bürgerliche Angelegenheiten). Dadurch haben sie alle übrigen Klassen dazu gebracht, von sich aus, spontan und mit dem Gefühl der Befreiung von Heteronomie, davon Abstand zu nehmen und auf die Beute der gesellschaftlichen Kämpfe zu verzichten.

5.


Damit alles Allgemeine, woran die Individuen neoliberaler Gesellschaften teilhaben könnten, von ihnen als fremdes Besonderes wahrgenommen wird, und damit alles, was sie selbst haben wollen, nur ihr Eigenes ist und nichts sonst, hat die postmoderne Ideologie einen besonderen, neuartigen Typ von »Anrufung« entwickelt: Sie lädt sie nicht ein zur Veränderung, zur Identifizierung mit einem neuen symbolischen Mandat (à la »Sei auch Du ein/e Soldat/in!«); sie ermutigt sie vielmehr, darauf zu beharren, was sie sind, und jedes Angebot eines symbolischen Mandats als Übergriff zu beklagen. So werden Menschen ins Privatfernsehen eingeladen, nicht um dort als public men bzw. als citoyens Fragen von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse zu erörtern, sondern um als freaks ihre Privatmarotten vorzuführen – mithin, um sich zu dem machen zu lassen, was im antiken Griechenland der Terminus für Leute war, die nichts als ihr Eigenes, Privates pflegten: zu Idioten.

Ohne jede Ermutigung durch die Gesellschaft hätten die Leute sich wohl geschämt, so etwas zu tun. Erst seit die postmoderne Kultur ihnen suggeriert, dass sie genau dadurch authentisch, mithin frei von Fremdbestimmung und liebenswert wären, treten scharenweise Personen auf, die bereit sind, sich dazu enthemmen zu lassen. Auch hier war somit eine gesellschaftliche Lustbedingung notwendig, damit die Individuen zu dieser Lust gelangen konnten. Allerdings ist es eben eine paradoxe Bestärkung: eine soziale Ermunterung zum Asozialen; ein gesellschaftlicher Aufruf zum individuellen Narzissmus.

6.


Dies hat zu dem bekannten Effekt geführt, den der amerikanische Kunstkritiker Robert Hughes treffend als »culture of complaint« bezeichnet hat (s. Hughes 1994). Und Slavoj Žižek hat die entsprechende Struktur analysiert: Es ist eine Situation, in der allen Menschen ein neues Recht eingeräumt wird – allerdings auch nur noch dieses: nämlich das universelle Menschenrecht, vom Anderen nicht belästigt zu werden (s. Žižek 2002: 21f.). Und als Belästigung gilt unter postmodernen Bedingungen, wie gesagt, nichts so sehr wie die Zivilisiertheit des Anderen.

Dadurch kommt es zu einer Situation, in der dem, was der Gesellschaft als ganzer dient, keine Materialität mehr zugestanden wird. Alles, was materiell existiert, so die verbreitete Wahrnehmung, muss eben darum privat sein. In der Folge wird dem Staat (bzw. supranationalen Formationen wie etwa der Europäischen Union) die Aufgabe übertragen, die Individuen vor Belästigungen durch andere zu schützen. Dies bedeutet allerdings, dass sie vom öffentlichen Raum nichts mehr fordern...

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