2 Wie kommt die Zeit in unser Leben? Forschungsperspektiven zum menschlichen Zeitbewusstsein
„Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“
Albert Einstein5
„Zeit ist das, was wir haben, wenn wir unsere Uhren wegwerfen.“
Jürgen Aschoff6
In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, aus welchen Quellen sich unser Zeitbewusstsein speist. In Anlehnung an ein Modell von Richelle (1996) werden vier Ebenen von Einflussfaktoren unterschieden, die zur Entstehung unseres Zeitbewusstseins beigetragen haben. Im Rahmen dieser Darstellung ist es nicht möglich, einen vollständigen Überblick über alle relevanten Forschungsarbeiten aus den beteiligten Wissenschaften zu geben. Im Vordergrund der Ausführungen stehen daher psychologische Aspekte des menschlichen Zeitbewusstseins. Neben den klassischen Forschungsgebieten, wie z. B. der Zeitperspektive oder der Zeitwahrnehmung wird dem bisher stark vernachlässigten Aspekt des Umgangs mit Zeit größere Aufmerksamkeit gewidmet.
2.1 Die Frage(n) nach der Zeit
Die Frage danach, was Zeit sei, ist selbst zeitlos. Über Jahrtausende hinweg beschäftigten sich Menschen mit dem Phänomen der Zeit. Genauer betrachtet gibt es jedoch nicht nur eine Zeitfrage. Das Problem der Zeit erscheint wie in dem indischen Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten.7 Je nachdem, welchen Teil des Elefanten die Blinden ertasteten, fiel die Antwort auf die Frage, was ein Elefant sei, unterschiedlich aus. Der Anthropologe Edward T. Hall (1983) antwortete auf die Frage, wie viele Arten von Zeit es gibt:
“Some things are not easily bent to simple linear description. Time is one of them. There are serious misconceptions about time, the first of which is that time is singular. Time is not just an immutable constant, as Newton supposed, but a cluster of concepts, events, and rhythms covering an extremely wide range of phenomena” (S. 13).
In Abbildung 2.1 sind einige Perspektiven aufgeführt, die sich im Lauf der Geschichte ausdifferenziert haben. Im philosophischen und religiösen Denken interessierte die Zeit vor allem als ontologisches Problem, d. h. man fragte nach dem Wesen der Zeit als Seiendem. In diesem Sinn war die Zeitfrage immer auch eine Frage nach der Ordnung der Welt und der Stellung des Menschen in ihr.
Abb. 2.1: Verschiedene Zeitbegriffe als Antwort auf die Zeitfrage
Zeitvorstellungen prägten das Verständnis von Gott, der Welt und dem Menschen. Die Frage, was Zeit an sich ist, wurde in den Naturwissenschaften aufgegriffen und weiterverfolgt. Isaac Newtons Konzept der absoluten Zeit oder Albert Einsteins Aussagen über die Zeit im Rahmen seiner Relativitätstheorie trieben nicht nur das wissenschaftliche Verständnis einer objektiven, physikalisch messbaren Zeit der Natur voran, sondern beeinflussten auch die Zeitvorstellungen in der Gesellschaft. Der Erfolg von Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit (Hawking, 1988) zeigt, dass die Physik bei Zeitfragen auch heute noch von vielen als Leitwissenschaft betrachtet wird.
Aus soziologischer Perspektive interessieren hingegen vor allem die sozialen Funktionen der Zeit. „Wozu eigentlich brauchen Menschen Zeitbestimmungen?“, lautete Norbert Elias zentrale Frage in seiner Arbeit über die Zeit (Elias, 1988, S. XVII). Um sich im Fluss des Geschehens physikalischer, biologischer, sozialer und individueller Abläufe zu orientieren, war seine Antwort. Zeit, so wie wir sie kennen, ist aus dieser Perspektive eine soziale Konstruktion, deren Schöpfer und Opfer der Mensch gleichermaßen ist. Damit verschiebt sich beim Fragen nach der Zeit der Akzent. Es geht nicht mehr darum, die Zeit als eine natürliche Dimension der eigenen Existenz bzw. der Welt zu entdecken und zu beschreiben, sondern zu verstehen, wie Zeit sozial hergestellt, organisiert und institutionalisiert wird. Zeit ist aus dieser Perspektive eben nicht nur das, was die Uhr misst. Die Uhr an unserem Handgelenk ist ein technisches Mittel der Zeitmessung. Sie ist aber auch ein kulturelles Produkt, das auf eine soziale Zeitordnung verweist, die unser Zeitbewusstsein wesentlich beeinflusst.
Gesellschaften sind wiederum keine statischen Gebilde, sondern entwickeln sich und mit ihnen verändert sich die soziale Erfahrung der Zeit. Damit erweitert sich auch die Frage nach der Zeit erneut. Die Zeit und das menschliche Zeitbewusstsein haben eine Geschichte, die nicht nur eine Technikgeschichte der Zeitrechnung und Zeitmessung ist, sondern auch den Wandel der Zeiterfahrung umfasst. „Jenseitsglaube, Geschichtsauffassung, Zukunftserwartungen, Planung, Zeitbegriffe, Zeitmessung, Zeitkontrolle und Zeitdisziplin sind daher – und mit vollem Recht – zu bedeutenden Themen historischer und anthropologischer Forschungen geworden“ (Dohrn-van Rossum, 1995, S. 12). Unser heutiges europäisches Zeitbewusstsein, welches dem Individuum eine hohe Zeitsensibilität abfordert, ist das Produkt eines historischen Prozesses.
Je mehr sich die Herrschaft der Uhrzeit in der sozialen Praxis durchsetzte, umso deutlicher traten die Eigengesetzlichkeiten und Paradoxien des subjektiven Zeiterlebens hervor, welches in vielen Punkten von der physikalischen Zeit und der mechanischen Uhrzeit abweicht. Dies führte schließlich dazu, die Zeiterfahrung direkter dem Menschen zuzuordnen, seinem Erleben, Denken und Handeln. Bereits in der Existenz- und Lebensphilosophie wurde eine solche Differenz thematisiert. Bergson (1889/1920) argumentierte, dass die subjektive Zeit (durée) eine erlebte Zeit ist, die sich durch qualitative Aspekte auszeichnet und daher mehr ist, als nur eine Abfolge einzelner Lebensereignisse. Die subjektive Zeit basiert auf einem intentionalen Bewusstsein. Sie unterscheidet sich dadurch von der temps, der abstrakten, gleichmäßigen, quantifizierbaren und messbaren Zeit der Physik. Paradoxerweise wurden gerade Einsteins Aussagen zur Relativität der Zeit als Ausdruck einer solchen Differenzerfahrung missverstanden, denn Einstein beschäftigte sich nicht mit dem subjektiven Zeiterleben. Die Entdeckung von Störungen des Zeitbewusstseins im Rahmen psychischer Erkrankungen lieferte ein weiteres Argument dafür, eine eigenständige psychologische Perspektive auf die Zeit zu etablieren (Wendorff, 1985).
Wie aber verhalten sich die unterschiedlichen Zeitbegriffe, die das Fragen nach der Zeit hervorgebracht hat, zueinander? Inzwischen scheint eine gewisse Einigkeit darüber zu herrschen, dass keiner der derzeitig verfügbaren Zeitbegriffe alle Facetten des Zeitproblems abdecken kann. Ein derartiger Anspruch wäre nicht nur unrealistisch, sondern würde auch die Gefahr in sich bergen, dass er um den Preis einer unangemessenen Verkürzung des Gegenstandes erkauft wäre. Das Phänomen der Zeit ist also ein interdisziplinärer Gegenstand par excellence. Mainzer (1995) fasst dazu zusammen:
„Die moderne Grundlagendiskussion hat vielmehr gezeigt, dass ein einseitiger Reduktionismus des Zeitbegriffs z. B. auf die Physik … ebenso unangemessen ist wie die Behauptung, dass der Zeitbegriff der Naturwissenschaften nichts mit der Zeit in Geistes- und Kulturwissenschaften zu tun habe. Es zeichnet sich vielmehr ein komplexes Netzwerk von Zeitrhythmen ab, in dem sich physikalische, biologische, psychologische und soziale Prozesse überlagern und beeinflussen“ (S. 7).
Neben der Gefahr eines Reduktionismus spricht Mainzer hier ein zweites Problem an, welches darin besteht, dass verschiedene Zeitbegriffe gegeneinander abgegrenzt werden, so dass die fachübergreifenden Zusammenhänge des Zeitproblems ausgeblendet werden. In diesem Sinn wendet sich auch Elias (1988) dagegen, dem Zeitbegriff der Naturwissenschaften einfach einen soziologischen Zeitbegriff gegenüberzustellen. Nicht Mensch oder Natur, sondern „Menschen in der Natur“ (S. XV), d. h. die Ergänzung verschiedener Perspektiven, ist für ihn das angemessene Vorgehen, um Zeit zu verstehen. In der Psychologie stellt sich dieses Problem unterschiedlicher Zeitbegriffe und ihrer Vermittlung in besonderer Schärfe, da die Psychologie sowohl naturwissenschaftlich als auch sozialwissenschaftlich orientiert ist, den Menschen also einerseits als Naturwesen, andererseits aber auch als Kulturwesen begreift und untersucht.
Abb. 2.2: Ebenenmodell menschlicher Zeit nach Richelle (1996, S. 7)
Richelle (1996) unterscheidet vier Ebenen, die in der psychologischen Forschung zum menschlichen Zeitbewusstsein eine Rolle spielen und bringt sie in eine hierarchische Ordnung. Auf unterster Stufe steht für ihn die biologische Zeit, d. h. die zeitliche Organisation biologischer Prozesse, die Teil des naturgeschichtlichen Erbes des Menschen ist, das wir mit anderen lebenden Organismen teilen. Dazu gehören z. B. die biologischen Zeitrhythmen und ihre Bedeutung für ein zeitlich organisiertes Verhalten. Ein weiterer Aspekt biologischer Zeit ist die Fähigkeit, Bewegungen zeitlich zu regulieren und aufeinander abzustimmen. Die biologischen Zeitprogramme bilden die Grundlage für die psychologische Zeit, nach Richelle die zweite Ebene menschlicher Temporalität. Eine zentrale Frage ist hier die Beschreibung der Eigengesetzlichkeiten des menschlichen Zeiterlebens und ihrer Abweichungen gegenüber der physikalischen Zeit. Zeitperspektiven und Zeitvorstellungen sind ein weiterer wichtiger Aspekt der psychologischen Zeit. Sie sind jedoch keine idiosynkratischen Konstruktionen, sondern orientieren sich an den zeitlichen Erfordernissen des sozialen Kontextes und den damit...