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Verkehrspsychologie

Ein Lehrbuch für Psychologen, Ingenieure und Informatiker

AutorJosef F. Krems, Mark Vollrath
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783170295612
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,99 EUR
Der moderne Verkehr wird immer sicherer, obwohl die Anforderungen an die Verkehrsteilnehmer zunehmen. Hohe Verkehrsdichten, komplexe städtische Umgebungen, neue Informationstechnologien und automatisches Fahren sind einige Schlüsselthemen. Im Mittelpunkt der modernen Verkehrspsychologie steht inzwischen das System Fahrer-Fahrzeug-Umwelt. Psychologen arbeiten in interdisziplinären Teams auch an der Gestaltung von Fahrzeugen, Straßen und Verkehrssystemen mit. Dieses Lehrbuch vermittelt ein grundlegendes Verständnis des Fahrers im Verkehr und seiner Interaktion mit neuen technischen Systemen - und hoffentlich auch den Reiz, den dieses wachsende Gebiet auf Forscher und Anwender ausübt.

Professor Dr. Mark Vollrath, Lehrstuhl für Ingenieur- und Verkehrspsychologie, TU Braunschweig. Professor Dr. Josef Krems, Professur für Allgemeine und Arbeitspsychologie, TU Chemnitz.

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Leseprobe

2 Fahren


2.1

Was muss der Fahrer tun? Die Fahraufgabe

2.2

Kognitive Prozesse

2.2.1

Fahren ist Sehen – visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

2.2.2

Was ist hier eigentlich los? Das Situationsbewusstsein

2.2.3

Aktionsauswahl und -kontrolle

2.3

Menschen können sicher fahren – Zusammenfassung

Fahren ist eine komplexe Tätigkeit! Fahrer müssen ihr Gefährt auf Kurs halten, dürfen anderen Verkehrsteilnehmern nicht zu nahe kommen, müssen Verkehrszeichen erkennen und sich nach ihnen richten, die Straßenverhältnisse und das Wetter in ihrem Verhalten berücksichtigen, müssen Entscheidungen zu ihrer Fahrstrecke treffen und so weiter. Einen Eindruck davon, was man beim Fahren alles falsch machen kann, vermittelt die Liste der Beurteilungskriterien, die bei einer Fahrprüfung berücksichtigt wird. Sie umfasst ca. 60 unterschiedliche Kriterien (z. B. Kurvenfahren, Abstand vom Straßenrand, Bremsbereitschaft, Schaltvorgang, Überholen).

2.1 Was muss der Fahrer tun? Die Fahraufgabe


Die Teilaufgaben, die mit dem Fahren an sich zu tun haben (Spurhaltung, Abstandsregulierung, Navigation etc.), werden als primäre Fahraufgabe bezeichnet. In Fahrzeugen werden weitere Aufgaben erledigt, die Sekundäraufgaben genannt werden. Einige davon haben mit dem Fahren direkt zu tun. Dazu zählt der Blick in den Rückspiegel, das Ablesen von Verkehrsschildern oder auch die Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern etwa durch Betätigung des Blinkers. Auch die Eingabe einer Zieladresse bei einem Navigationssystem gehört dazu. Eine zweite Kategorie sekundärer Aufgaben umfasst Tätigkeiten, die nichts mit dem Fahren direkt zu tun haben. Dazu gehört beispielsweise die Kommunikation mit dem Beifahrer oder mit einem externen Gesprächspartner via Telefon. Auch die Bedienung des Radios oder Audio-Players, die Einstellung der Temperatur oder der Gebrauch des Zigarettenanzünders gehören dazu. Derartige Aufgaben, die nicht unmittelbar Teil der primären Fahraufgabe sind, diese sogar empfindlich stören können, entstanden in erster Linie durch die Ausweitung von Komfortfunktionen und die damit verbundenen Bedienanforderungen. Sie werden in der Klassifikation von Bubb (1993) als tertiäre Aufgaben bezeichnet. Auf diese sekundären bzw. tertiären Fahraufgaben und ihre Auswirkungen wird in Kapitel 8 ausführlicher eingegangen.

Technisch besteht die primäre Fahraufgabe aus der Vorgabe von Geschwindigkeit und Richtung zur Erreichung des Fahrziels unter Berücksichtigung der Verkehrsumgebung und weiterer Randbedingungen. Zu diesen gehören die Fahrzeugphysik und hier insbesondere die für die Fahrsicherheit entscheidende Beachtung des Reibwerts zwischen Reifen und Fahrbahn, der die maximal erreichbaren Beschleunigungen in Längs- und Querrichtung und somit die Manövrierfähigkeit des Fahrzeugs bestimmt. Ebenso dazu gehören die zur Verfügung stehenden Teilsysteme bzw. die Eigenschaften des benutzten Fahrzeugs, die Verkehrsregeln und die wirtschaftlichen Aspekte der Fahrzeugnutzung. Bei der Fahrzeugbedienung werden Querführung (d. h. Vorgabe des Spurverlaufs) und Längsführung (d. h. Vorgabe der Geschwindigkeit) unterschieden. Betrachtet man den Verlauf einer längeren Fahrt, kommen zu der eigentlichen Fahraufgabe noch Regulationsaufgaben im Zusammenhang mit den energetischen Prozessen wie Belastung/Beanspruchung und Ermüdung hinzu (s. Kap. 7). Als weitere Teilaufgaben, die sich aus den Randbedingungen der Fahraufgabe ergeben, können außerdem noch genannt werden: Kollisionen vermeiden, Verkehrszeichen überwachen, Verkehrsregeln einhalten, verbrauchseffizient fahren, geplante Fahrzeit einhalten und Fahrzeugsysteme überwachen.

Abb. 2.1: Das Drei-Ebenen-Modell des Fahrens (modifiziert und erweitert nach Michon, 1985)

In einer aufgabenanalytischen Beschreibung der primären Fahraufgabe wird häufig ein hierarchisch organisiertes Mehr-Ebenen-Modell herangezogen (s. Abb. 2.1): Michon (1985) – und ähnlich für die Flugzeugführung Bernotat (1970) – unterschied ursprünglich die strategische Ebene (Planung, Navigation), die Manöverebene (Anpassung an die aktuelle Verkehrssituation) und die Kontrollebene (Spurhaltung, Geschwindigkeitskontrolle). Inzwischen werden Navigation (Routenplanung, Streckenwahl etc.), Bahnführung (Geschwindigkeitswahl, Abstandsregulierung, Beachtung von Verkehrsvorschriften etc.) und Stabilisierung (Beschleunigen, Bremsen, Lenken etc.) als die typischen, hierarchisch gegliederten Anforderungsformen der Fahraufgabe genannt (vgl. Johannsen, Boller, Donges & Stein, 1977; Gstalter, 1988). Den aufgabenbedingten Anforderungen entsprechen fahrerseitig die Organisation, Koordination und Regelung als Aktivitäten (vgl. Hoyos, Fastenmeier & Gstalter, 1995). An der Schnittstelle zwischen der Stabilisierungsebene und dem Fahrzeug steht die Vorgabe von Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung des Fahrzeugs über die klassischen Bedienelemente Lenkrad, Gaspedal und Bremse. Interessant ist hier noch der charakteristische Zeitbedarf für die Aktionen auf den drei Ebenen.

In einem neueren Modell von Hollnagel und Woods (2005) werden vier Ebenen unterschieden (ECOM: Extended Control Model):

  • »Tracking« entspricht der Stabilisierungsebene
  • »Regulating« entspricht der Bahnführungsebene
  • »Monitoring« beinhaltet Überwachungsaktivitäten wie z. B. den Vergleich der aktuellen Geschwindigkeit des Fahrzeugs mit der gerade geltenden Geschwindigkeitsbegrenzung, aus denen sich dann Vorgaben für die Regulierungsebene ableiten
  • »Targeting« beinhaltet das globale Ziel der Fahrt und ist der Navigationsebene ähnlich

Aus verkehrspsychologischer Sicht ist festzustellen, dass diese »Fahrermodelle« keine Modelle der Informationsverarbeitungsprozesse des Menschen, des Fahrers sind. Vielmehr werden in diesen Modellen die verschiedenen Aufgaben beschrieben, die der Fahrer lösen muss. Die Modelle geben keine Antwort auf die Frage, wie der Fahrer dies tut. Eigentlich müsste man diese Modelle »Fahrmodelle« nennen. Sie sind von der technischen Seite her sehr hilfreich, um Ansatzpunkte für eine Unterstützung des Fahrers durch Informations- und Assistenzsysteme zu finden (s. Kap. 8 und 9). Die Modelle sind damit für die Funktionsdefinition dieser Systeme nützlich. Einen Überblick über diese und weitere Modellvorschläge findet man bei Cacciabue (2007).

2.2 Kognitive Prozesse


Betrachtet man die kognitiven Prozesse, die in der Fahrzeugführung wichtig sind, dann ist es zweckmäßig, die Stufen Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und Aktionsausführung zu unterscheiden. Für die Fahraufgabe von entscheidender Bedeutung ist bei der Informationsaufnahme die Umweltwahrnehmung, die in erster Linie visuell erfolgt (vgl. Rockwell, 1988). Durch selektive Aufmerksamkeit wird aus den insgesamt verfügbaren Informationen jener Teilbereich ausgewählt, den die Person augenblicklich für besonders bedeutend hält (für eine detaillierte Darstellung der Informationsverarbeitungsprozesse s. Groeger, 2000). Mittels bottom-up- und top-downgesteuerter Prozesse wird aus der Integration von Umweltwahrnehmung, Zielen und dem Vorwissen einer Person ein mentales Modell der aktuellen Situation entwickelt (Situationsbewusstsein). Dieses Situationsmodell – die mentale Repräsentation der aktuellen Situation, eingeschlossen die eigene Person – steuert die weitere Informationsaufnahme und -verarbeitung. Es ist Grundlage für fahrrelevante Vorhersagen (»Wird der Lastwagen vor mir nach links ausscheren?«) und für Handlungspläne, in die auch die aktuellen Ziele (»Möglichst rasch eine Tankstelle finden«) eingehen. Daraus ergeben sich Entscheidungen zur Auswahl und Ausführung von Handlungen (»Jetzt nicht überholen, sondern auf der rechten Spur bleiben, um die Ausfahrt nicht zu übersehen«).

Bei der Handlungsausführung sind Bedienhandlungen, die direkt zur Fahrzeugführung beitragen (z. B. Betätigung von Lenkung, Gaspedal und Bremse), von Handlungen zu unterscheiden, die der Kommunikation dienen (z. B. Blinkerbetätigung). Sowohl für die Dauer der Informationsaufnahme (ein Verkehrsschild verstehen) als auch für die Dauer motorischer Reaktionen (bremsen) wurden in experimentellen Untersuchungen Durchschnittswerte und Streuungsmaße ermittelt. Aber wegen der enormen Bandbreite der Verkehrsteilnehmer (Alter, Erfahrung, Stressniveau etc.), der Verkehrssituationen (Autobahnfahrt, dichter innerstädtischer Verkehr, Alpenstraße etc.) und der Verkehrsmittel (Sportwagen, Kleinwagen etc.) sind diese »absoluten« Maße der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit von eher geringem Wert. Wichtiger sind Befunde zum »relativen« Einfluss von einzelnen Faktoren auf die Leistungsfähigkeit des Fahrers: Wird die Spurhaltung durch Telefonieren erheblich beeinträchtigt? Werden Verkehrsschilder eher übersehen, wenn Sekundäraufgaben ausgeführt werden? Wie wird die Geschwindigkeitsregulation durch Ermüdung...

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